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- 15.03.2008
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Heimat
Art verlässt den Bahnhof der kleinen Stadt. Lässt die Transitzone hinter sich und geht Wege, die sich ins Gedächtnis seiner Füße einprägten. Er ist hier, um die Mutter nach Geld anzubetteln, und dann bei einem Bekannten in der Schusterstraße unterzukriechen, sich vor dem Kohleofen zusammenzurollen, die kühlen Kacheln im Rücken. Das Bild, als er in den Zug stieg: Mutter wühlt im Portemonnaie, sein verstohlener Blick nach der Farbe des Scheins. Dazu die Sehnsucht nach dem ehrlichen Nebeneinander von Menschen, die nichts füreinander empfinden.
Es ist hier unmöglich, ungesehen durch die Gassen zu schleichen, und sei es auf Schleichwegen, die Art mal nimmt, mal nicht. Eher zufällig, als hätte nichts etwas zu bedeuten, als stünde er nicht an jeder Kreuzung vor einem Scheideweg. Als träfe er nicht dauernd Figuren, die auftreten, als lege ihm jemand Tarot.
Der Großvater und seine Ermahnungen berühren ihn nicht, die Liebste umgeht er weiträumig, er spürt Hass in sich aufsteigen und weiß nicht, ob er nach einem Streit noch die Kraft fände, zu seinem Unterschlupf zu gelangen. Er würde sie nicht ermorden, aber vielleicht sich selbst in den Fluss werfen. Sterben war nie das Problem, aber Art, ertrinkend im Fluss: Augenblicksbilder, Impulse, die den Magen verschnüren, ihn trocken würgen lassen. Ertrinken, ersticken im brackigen Wasser, das seine Lungenflügel füllt – als letztes Gefühl auf Erden eine Panik, die nicht endet, bis alles endet. Die Tränen der Cousine, ihre Einladung, gehen ihm fast nahe. Er bemüht sich und ein Lächeln. Spricht alle Formeln nach, Danke, ja, mir geht’s gut, klar, alles klar, ja. Sich nicht noch unangenehmer machen. Seine Nicht-Existenz bis zum Tod. Der Versuch, sich den in ihn gesetzten Erwartungen auf eine noch lächerlichere Weise zu entziehen, als die Vorstellung einer Karriere in dieser Welt lächerlich ist.
Sie alle sprechen schnell, von irgendwas, mit abgewandtem Gesicht. In die andere Stadt war er geflohen. Schlief seit einem Monat auf Couchen und trieb sich an wärmeren Tagen in feuchten Parks und zwischen strahlend schönen Fassaden herum. Dort ist er schlicht ein Stück Fleisch ohne Vergangenheit. Kategorisiert, etikettiert und vergessen. Sein Leben als Schatten der keinen Schatten wirft, eine Freiheit.
Art wünscht sich flüchtig zurück in die größere Stadt, wo er niemand ist und niemals jemand war. Doch er ist zu tief in den verwinkelten Gassen seiner Heimatstadt. Eingedrungen ins Labyrinth der Erinnerungen, dunkel nur ahnt es den Rückweg in ihm, gehen könnte er den Weg nicht.
Flüchtig sprechen Straßen und Plätze auf seinem Weg zu ihm. Die dichten Baumlandschaften um den Jahnsportplatz erzählen von vergessenen Wegen und Orten, die sie damals erfanden, entdeckten, eroberten. Jetzt hat das Sprechen der Straßen ihre Melodie verloren, den Farbton eingebüßt. Die Farben fließen über die Rahmen, der Ton klingt wie vom Band wie eine Million übereinander gelegte Stimmen. Straßen, Häuser und Plätze führen nicht mehr zu Menschen, die er liebte, ohne es zu wissen, die er brauchte, ohne es zu spüren.
Jemand die ihn einst begehrte, vor Jahren, Tagen, Monaten. Jetzt steht sie vor ihm, auf einmal vom Erdboden ausgespuckt, hinter der Kulisse hervorgetreten, aus dem Klischee gestanzt. Wie es hier mit allem ist: Häuser, Straßen, Menschen: wachsen aus dem Boden, treten ohne Vorwarnung in den Blick. Trotzdem lässt er sich treiben und kreiselt in einem immer kleiner werdenden Durchmesser um das Haus seiner Mutter herum. Nun das Mädchen - er sieht Entsetzen in ihren Augen. Als sähe Art das erste Mal an diesem Tag einen echten Menschen. Und sich in ihren Augen oder durch ihre Augen, als etwas, das mal menschlich war.
Sie schreckt zusammen und legt die Hände auf seine dünnen Speichen, den dürren Arm, sagt erst mal kein Wort, und als sie den Mund öffnen will, gibt er ihr zu verstehen, sie solle ihn halten, und wie das auch verstanden werden kann: Art eilt weiter, klackert auf seinen Stelzen irgendeine Straße hinunter, die ihn tiefer in die historische Altstadt führt. Zufällig bis zum Haus der Mutter, dessen Rückseite an die Überreste der Stadtmauer gebaut ist. Die großen Wackersteine kühlen den Keller, wenn im hohen Sommer die Sonne die Luft vibrieren lässt und ihr Strahlen die Fassaden zum Leuchten bringt. Sonnenleuchten auf Fassadenweiß – was ihn ärgerte und blendete, wovon er nie genug bekommen konnte.
Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast, denkt er drohend, denkt er leise, gegen sich. Sieht hoch, sieht in die Augen des Mädchens. Sie ist apart, ihre Augen weiteten sich noch letzten Sommer, für ihn, vor ein paar Tagen noch, es kann nicht viele Monde her sein. Jetzt die Unmöglichkeit der Restauration, das Unwiederbringliche des Selbstverständlichen.
Als ginge es sie was an, dass er sich nichts mehr angeht. Dass er nichts mehr will als diesen kühlen Kachelofen beim Bekannten. Fredi oder Marta, das ist unwichtig. Er weiß wo er klingeln muss, erkennt das Haus. Im öffentlichen Raum zu sterben und während der Zombifizierung durch die Gassen zu gehen ist vor allem eine Zumutung. Halb lebend, wie inkonsequent, das denken die doch! Keiner sieht ihn als einen Halbverwesten, der sich redliche Mühe gibt ganz zu verschwinden. Doch sie sind so ungerecht gegen Welt und Menschen wie gegen sich selbst, das muss ihnen gelassen werden, es ist die Fairness der Blinden. Und wie er sich durch ihre Augen sieht, sieht sie durch ihn die Möglichkeit, dass sich ihr Leben gegen sie wendet, sie nicht mehr teilhaben kann an der Verwertbarkeit.
Art hält sich vergnügt an der weißgekalkten Mauer eines alten Fachwerkbaus fest, als könne er nicht gleichzeitig stehen und diesen Gedanken zu Ende denken. Möglicherweise braucht dieses Gebäude auch gerade einen Halt. Gegenüber steht der letzte stabile Ort seiner Erinnerungen. Das Haus der Mutter. Frisch renoviertes Fachwerk, sein letztes Jugendzimmer. In ihm ist der Eindruck, mit dem Auszug aus dem Mutterschoß hätte das Fehlen begonnen. Dieses Fehlen führte zu Fehlern und jetzt ist alles gefälscht. Das ist so dramatisch aufgeladen wie absurd und falsch. Dieser Ort, seine Inhalte und Dekorationen: wer weiß wo das Zeug jetzt ist. Er wüsste ja nicht mal als Verwertbarer, aus welchem Krims sein Kram bestand. So lächerlich an Objekten zu hängen, lächerlich leicht, leichter als wahnsinnig zu werden: Objekten einen Wert beimessen, Gefühle hineinlegen. Und sich nicht an eins erinnern zu können, aber das Gefühl zu haben, sie würden fehlen. So lächerlich, so albern, lächerlich albern, so so … Art spricht die Worte immer wieder, bis sie ihren Inhalt verlieren. Niedlich Frietzsche nach dem Pferdekuss, das Chaos vor dem Wort. Schweigt dann, stützt das Haus.
Von weitem kommt eine Person auf ihn zu, die ihm einmal eine Welt bedeutete. Ohne dass Art wüsste, wer das sei und warum der ihm etwas bedeutet haben könnte. Federnden Schrittes folgt er dem langen Bogen der Straße so energisch, als wäre der Andere auf dem Weg zum Duell und er, Art, würde erstochen werden, erschossen, oder was in dieser Saison gerade en vogue war. Nein, nein, nein, die Welt, sie ist nicht so albern wie unsere Ideen von ihr. Etwas reißt ihn zusammen. Er würde nicht mit dem albernen Verfluchen der eigenen Albernheit diesem Menschen gegenübertreten. Nicht ihm, ihn liebt er, von dem ist er abhängig, und er wusste das, und löste diese Abhängigkeit nie, eine Liebe im ewigen Stadium der Verliebtheit, des Brauchens, der Unselbstständigkeit. Jetzt ohne Selbst die Phase der Unständigkeit, Unanständigkeit. Das Haupthaar und der lange Bart des Anderen sind sonnengebleichtes Gebein, tragen das Meeresleuchten griechischer Inselwelten, seine Haut tiefenbraun, der Körper schmal und muskulös. Er kennt seinen Namen, fällt ihm gerade nicht ein. Art nickt ihm zu, eine Geste, die geschieht, ohne dass sie weniger deplatziert wirkte, und erntet ein strahlendes Lächeln. Art runzelt die Stirn und wendet sich halb ab, stützt wieder die Wand.
„Was machst du da?“ Art zuckt zusammen zuckt die Achseln, richtet sich in seiner abgewandten Haltung auf und sieht den Mensch an. Halb von unten, sein Körper verbogen wie ein Schlangenmensch oder ein Baum, der nicht spürt, wo die Sonne ist, wohin er wachsen soll. Der Andere sieht auf ihn hinab, kuckt lange Sekunden einfach nur nach unten. Nach der ausdruckslosen Betrachtung von Arts Gesicht reißt der Andere die Augen auf, saugt seine Wangen in den Mund und sieht damit aus wie die Travestie eines Totenschädels. Art sieht sich nun nicht mehr durch die Augen eines Anderen, sondern wie im Spiegel. Ekelhaft, gleichgültig, widerwärtig.
„Was machst du hier?“, fragt der Andere noch einmal. Art nickt zum Mutterhaus hinüber, nuschelt, er wolle Geld holen und danach zum Bekannten, sich vor dem Kachelofen zusammenrollen. Er habe das Gefühl, eine kühle Kachel könne ihm heute Heimat sein. „Deine Mutter da“, sagt der Andere und zeigt aufs Fachwerkhaus mit den grünen Zargen, „ist vor einem Jahr unbekannt verzogen.“ Art kuckt verständig, als passe diese Information voll ins Bild.
„Und zu welchem ‚Bekannten’ willst du?“ Art spürt die langen Zangen, mit denen der Andere das Wort ‚Bekannter’ anfasst. Klar, in ihrer Welt gibt es solche Bezeichnungen für Beziehungen nicht, wer so redet, verrät sich. Bin ich ein Verräter, hab ich was verraten - verrätst du mir, was ich verraten habe. „Demion ist tot, tot wie die anderen, tot wie …“
Demion, diesen Namen kennt etwas in ihm, und als hätte diese Bekanntheit etwas angestoßen, fällt ihm auch der Namen des Anderen ein: Karl. Und Karl sieht Art, muss auf ihn hinabsehen, wie der da so verbogen steht, als wolle er sich verbergen. Auf Karls Gesicht wechseln Zuneigung, Interesse des Insektenforschers für den Gegenstand, die Gleichgültigkeit des Himmelsstürmers für das Theater am Boden. Art nickt und überlegt, wer Demion war und wann seine Beerdigung sein wird. Ob er eingeladen ist? Er würde doch nicht hingehen müssen? Es wäre für alle das Beste, wenn er fernbliebe. Man muss auch an die Eltern denken.
„Danke, ich weiß“, behauptet Art und wartet einen Moment, höflich. Der Andere wird schon gehen, es dauert ein bisschen, aber irgendwann gehen sie alle, immer, darauf ist Verlass.
Doch auf diesen Anderen ist kein Verlass. „Und wo willst du hin?“, fragt der Andere.
„Zum Bekannten, ich komm gerade auf den Namen nicht, weiß aber wo er wohnt.“
Karl überlegt einen Moment, denkt dann doch zwei Sekunden nach, lächelt ernst und nimmt Arts Hand und geht mit ihm die Straße weiter entlang, weg von dem Haus, in dem seine Mutter wohnt, oder wohnte. Art will etwas fragen, weiß aber nicht, was er sagen oder fragen könnte. Ohne die eigene Situation freizugeben, sich zu entblößen. Was eigentlich kein Problem wäre, denn eine Situation kann von einer anderen nur qualitativ unterschieden werden, es gibt keine quantifizierbaren Unterscheidbarkeiten, die eine Situation besser oder schlechter machten. Dieser Satz durchschlägt seinen Schädel und nistet sich im Nebel ein. Art fühlt sich beleidigt von dem Satz, der aus seinem Halbgedachten aufragt wie ein steifer Schwanz, der das Andenken an ihn, Art, schändet. Monument einer spurlos verschwundenen Kultur: sein Selbst. Nur was weiß er schon von solchen Dingen? Und etwas in ihm hindert ihn, den Anderen zu fragen. Ein Widerstand, unüberwindbar und unerklärlich.
Die Berührung der Hände aber ist angenehm, er spürt Wärme durch die Handflächen strömen wie eine Kraft, fühlt sich deutlich stärker als noch vor Minuten oder Stunden, spürt zunehmende Klarheit, was unangenehm ist, weil der Horizont seiner Verwirrtheiten sich immer deutlicher abzeichnet. „Wir sind da.“ Art wird losgelassen und stolpert fast. Etwas zoomt aus dem Cockpit seiner Augen, beamt den Blick ins Weite: Er sieht sich aus der Perspektive eines Satelliten. Eine Existenz inmitten von Milliarden Artgenossen. Sein Leben, um das so viel Theater gemacht wird, aus dem heraus es sich so schwer sterben lässt.
Er steht vor einer hellblauen Tür, von der die Farbe abblättert. Neben der Tür ein riesiges Fenster, schmutzig, von innen hängt ein schmutziges Rollo, schmutziges weiß, geknickte Lamellen. Es sieht aus, als wäre hier einst ein Ladengeschäft gewesen. Bilder steigen in Art auf, wie seine Mutter nach ihrer Arbeit mit ihm hierher fuhr, um Blumen zu kaufen. Von einer Frau die uralt und alterslos zu sein schien und immer lächelte. Von einem Ort der gut roch.
Karl sieht Art zu: Der berührt die Tür wie eine fremde Haut, lässt seine Fingerkuppen über das Glas streifen, schließt die Augen, spürt die rissige Struktur alten Putzes. „Hier ist es“, sagt Art dann zu Karl, der auf dem hohen Bordstein sitzt und eine Selbstgedrehte raucht. „Ja, hier wohnt dein Bekannter.“ Art lächelt und denkt, es wird Zeit, dass dieser Mensch macht, was alle machen. Sich verpissen. Er weiß nichts mehr mit ihm anzufangen. Der Andere wirkt so hilflos, als müsste Art ihn stützen, als bräuchte er eine Antwort. Art kann nicht allen antworten, nicht jedem eine Antwort geben; spürt aber den Drang danach im Anderen so stark, er bringt es einfach nicht über sich, zu sagen, er könne ihm nicht helfen. Als Karls Kippe aufgeraucht ist, zertritt er den Gumpen unter dem Absatz seines Schlangenlederstiefels. Smaragdgrün glänzt und glittert die Oberfläche im Sonnenbrand.
„Fertig?“ Art nickt sofort und selbstverständlich, dann dringt die Unsicherheit doch durch. Er kaut auf seiner Unterlippe, nur kurz, nicht mal ne Sekunde. „Das war nur kurz“, stellt er klar, „nicht mal ne Sekunde.“ Karl grinst kaum merklich, kaum spöttisch und spuckt aus. „Na komm. Wird Zeit.“
Art folgt ihm, trottet halb versetzt hinter Karl her, der so schnell geht, dass seine Mantelschöße wehen. „Demion ist tot“, sagt der Andere. Art nickt, obwohl er ja hinter dem Anderen geht, der ihn also nicht sehen kann. Doch nicht zu reagieren, wäre auch nicht richtig. „Du verstehst das nicht.“ Art will protestieren, verstummt aber wie choreografiert, bevor auch nur ein Geräusch seinen Mund verlässt, als der Andere abwehrend die Hand hebt. „Ich weiß du verstehst es nicht. Kein Problem, müssen wir nicht besprechen.“ Art dreht sich um - bitte kein Bekannter in Hörweite. Er hat das Gefühl, eben wäre was Kompromittierendes über ihn gesagt worden.
Als ob er sein Wasser nicht halten könne, Upper und Downer verwechsele, so was. „Hier, hier rein.“ Karl zeigt zur staubigen Stichstraße, eingeklemmt zwischen zwei Häusern, deren Dächer einander zuneigen. Art spürt eine Seltsamkeit, hier stimmt was nicht, aber woran kann er das festmachen. Er versucht das irritierende Gefühl an der Person des Anderen festzumachen. Der lächelt ihn beruhigend an und Art spürt, der war immer sein Freund, wenn er sich auf einen verlassen kann, dann auf ihn. Umso peinlicher, dass er so durcheinander ist, warum rennt der immer noch mit ihm rum. Wie wird er Karl nur los, ohne dass es unfreundlich wirkt. „Demion ist tot, du verstehst das nicht.“ Karl raucht schon wieder, sie stehen auf einem Hinterhof. „Erinnerst dich. Das Zimmer, die Zeiten?“ Er zeigt nach oben auf das letzte Fenster knapp unter dem Dach. Art nickt wohlwollend. „Klar erinnerst du dich“, murmelt Karl, „los, knie dich hin.“ Art grinst und tut, was Karl sagt. „Kopf auf den Brustkorb, Augen schließen.“ Ein Spiel, Spiele sind schön. Karl legt seine warme Hand auf die Schulter des Anderen, zieht mit der Rechten einen Revolver und spannt den Hahn. Art fühlt die kalte Mündung des Stahls auf der Haut, erinnert sich an kühle Kacheln, spürt Heimat, Heimkehr, da drückt Karl ab.