Heimat?
Günther fiel in das Gelächter mit ein. Welch ein Fest!
Sicher, getrunken wurde auch hier, allerdings mit Maß und Ziel. Nur der Durst wurde gelöscht, entsprechend den würzigen Speisen. Niemand trank nur um des Saufens willens. Man sollte sich wohlfühlen und er fühlte sich wohl. Trotz der fremdartigen Popmelodien, die aus den Boxen klangen und obwohl Günthers blonder Bürstenhaarschnitt unter all den dunkel gelockten Haartrachten hervorstach und natürlich wegen Evin. Sein Blick suchte und fand sie. Evin war gerade in eine Unterhaltung mit einer ältlichen Frau vertieft. Ihre Tante, wenn sich Günther recht erinnerte. Doch Evin schien seine Blicke gespürt haben, denn sie sah kurz auf und lächelte herüber.
Gefeiert hatte er früher auch. Mit seinen Kameraden, aufgefädelt in Reih und Glied auf den Holzbänken des Heimatvereins, bewaffnet mit Bierflaschen und Schnapsgläsern, über primitive Witze lachend, ihre ach so edlen Heldentaten begrölend. Wenn sie irgendwelche Kanaken durch die Straßen gejagt hatten und ihnen die „Kamelscheiße“ aus dem Leib prügelten. Stolz waren er und seine Kameraden gewesen. Diente doch alles einer besseren Heimat.
„He, Günne!“, Azad strahlte ihn breit an, seine dunkelbraunen Augen sahen Günther warmherzig an. „Komm, wir tanzen!“
Günther ließ sich mitschleppen, widerwillig – aber auch neugierig. Auf der improvisierten Tanzfläche fasste ihn Azad um die Schultern und zeigte ihm, wie die Schritte zu setzen waren. Es war wohl so eine Art Sirtaki, der getanzt wurde. Nach und nach kamen Männer, junge wie alte, hinzu und schließlich auch die Frauen. Bald war der ganze Raum in Bewegung und Günther gab sich dem Taumel hin.
Getanzt hatten sie nie, es sei denn, man zählte dieses Gehopse um Leute, die in ihrem Blut lagen, als Tanz. Ihr Gejauchze waren Kriegsgesänge gewesen und Hohnlieder, oftmals mit Spucke für die Gefallenen besiegelt. „Raus aus unserem Land!“ wurde gebrüllt und „Soll dich doch Allah beschützen!“. Nicht, dass sie irgendeine Ahnung hatten, ob ihre Opfer zu Allah beteten oder was Allah überhaupt war. Sie wollten nur vorbeugen.
Wenn man einmal an seinem Tun zweifelte, versicherte Frank glaubhaft, dass alles nur dazu diente, das Land sauber zu halten. Wusste doch jeder, dass diese Schmarotzer nur ihre Arbeitsplätze wollten und ihre Frauen; dass das Pack wie die Karnickel züchtete, um alles zu bekommen. Der Heimatverein war das letzte Bollwerk gegen die Belagerung, nur ihre Stahlkappen sicherten, dass die Hilfen des Staates den Einheimischen zugute kamen und nicht diesem Gesindel aus Anatolien oder sonst woher.
„Na, Günne? Macht doch Spaß, oder? Arbeit haben wir während der Woche genug“. Azad sorgte sich um ihn und blieb freundlich dabei. Und dass, obwohl er wusste. Azad redete nie darüber, was vorher war. Günther war bewusst geworden, dass es oft keiner Worte bedurfte, dass man nur zur rechten Zeit richtig entscheiden muss. Azads Augen konnten beileibe nicht nur warmherzig blicken, sondern auch ganz anders. Stolz und selbstbewusst. Wissend, worauf es ankam und immer sich selbst treu. Furchtlos und mit klarem Ziel.
Günther war damals gar nicht glücklich, als ihm Azad auf der Arbeit zugeteilt wurde und Azad war es wohl auch nicht. Überraschenderweise klappte die Zusammenarbeit gut, aber Günther bemerkte genau, wie Azad misstrauisch seine Glatze, die Springerstiefel und seine geliebte Army-Jacke betrachtete. Vom ersten Tag an fühlte sich Günther von Azads „kackbraunen“ Augen verfolgt und bedroht. Zur wütenden Gewissheit wurde es ihm, als ihn der Vorarbeiter, dieser Arschkriecher, ins Büro kommandierte.
‚Das Auftreten Günthers wurde von der Geschäftsleitung nicht länger geduldet; Günthers rassistische Gedanken seien ihm ins Gesicht geschrieben; man hätte ja qualifizierte Mitarbeiter mit Migrationshintergrund, die zu respektieren wären; und überhaupt, seine zugedröhnten, besoffenen Skinheadfreunde, die ihn hin und wieder abholten, würden pöbeln und verdiente Mitarbeiter beschimpfen; blablabla’
Günther war sich sicher, dass daran Azad schuld war. Was konnte man von so einem Kümmeltürken auch erwarten. Im Verein besprach er das Problem mit Frank, ihrem Verbandführer, wie der sich nannte. Man durfte sich nicht von Franks Intellektuellenbrille oder seinem sanften Babyface täuschen lassen. Frank war ein brutaler Hund – gnadenlos, clever und sicher nicht ganz zurechnungsfähig.
Jedenfalls riet ihm sein Verbandführer, auf die Forderungen des Vorarbeiters einzugehen, immerhin ginge es ja um seinen Job. Für Azad würde sich Frank schon etwas einfallen lassen.
Dann passierte einige Zeit gar nichts. Günther verzichtete zähneknirschend auf Springerstiefel und Army-Jacke. Er ließ sich sogar die Haare wachsen, was ihm wiederum Hänseleien seiner Vereinsbrüder einbrachte.
„Und? Wie gefällt es dir?“ Günther schrak aus seinen Gedanken. Er sah in das sanfte Braun von Evins Augen. Sie lächelte ihn an. „Na? Geträumt? Von mir, will ich hoffen.“ Kleine Grübchen begleiteten ein verschmitztes Lächeln.
„Äh … na ja …“, stotterte Günther. Evin quittierte die Antwort mit einem Schmollmund, der Günther gleich zum Lachen brachte und bald setzte ihr glockenhelles Lachen mit ein.
„Ich hoffe, du langweilst dich nicht allzu sehr. Solche Familienfeiern können ganz schön anstrengend sein, aber sie machen Spaß. Trau dich nur. Niemand wird dich beißen.“ Wieder ihr schönes Lachen. „Mag sein, dass viel Blödsinn über uns Kurden erzählt wird, aber eines kannst du glauben, vom Feiern verstehen wir etwas.“
Indessen huschte Jara, Evins Freundin, heran, warf einen misstrauischen Blick auf Günther, flüsterte Evin etwas zu und zerrte sie weg. Halbherzig winkte Günther Evin nach und seufzte innerlich. Er konnte Jara nur zu gut verstehen.
„Dort hinten“, Frank deutete auf das Volksbildungsheim, „geht die Schwester deines Kameltreibers zur Abendschule. Weil dieser Azad ein braver Bruder ist, holt er sie immer ab. Da er bereits immer früher in der Gegend ist, setzt er sich in einen dieser verlausten, stinkenden Kaschemmen, die diese Türken Kulturvereine nennen …“
„Aber er ist Kurde“, warf Günther ein. Erst kürzlich hatte ihm Azad in der Arbeit davon erzählt und noch so einiges über seine Heimat, die vermutlich nie wieder eine werden konnte. Günther war seit diesem Gespräch gar nicht mehr so wohl zumute. Was Azad ihm erzählt hatte, ließ Günther vermehrt über seine bisherige Einstellung das „Ausländerpack“ betreffend, nachdenken. Aber das interessierte Frank kein bisschen.
„Kurde?“, lachte Frank, „So … Kurdistan, Karl May, Bergbanditen, Terroristen – na, auch egal – alles das Gleiche, oder? Jedenfalls …“, setzte Frank unbeirrt fort, „… ist das ideal. Ich habe hübsches Spielzeug aufgestellt – war gar nicht so einfach. Damit werden wir nicht nur das Problem Azad aus der Welt schaffen, sondern unserem Land einen wichtigen Dienst erweisen. Ein paar der Jungs habe ich auch mitgebracht, sie warten schon. Komm mit!“
Sie gingen ein paar Gassen weiter und wurden von den Kameraden freudig begrüßt. Diese drückten sich im Schatten eines Hauses herum und bewachten eine Kiste mit irgendwelchen kleinen Paketen und Flaschen darin. Frank beugte sich hinunter und reichte mit äußerster Vorsicht diese an die Leute weiter.
„Frank, das sind doch nicht …?“, fragte Günther, als ihm die Wahrheit dämmerte.
„Brandsätze, genau … genial, oder? Feine kleine Saubermacher. Das beste, das ich kriegen konnte. Für dich. Für deinen Job. Für unser Land.“
„Frank, du spinnst ja! Dieser Verein ist in einem Wohnhaus. Dort wohnen Frauen und Kinder! Das kann doch nicht dein Ernst sein!“
„Was ist los, Günther?!“ blaffte Frank. „Scheißegal, wer da wohnt! Wahrscheinlich eh nur türkisches Gesindel! Kein aufrechter Landessohn würde zulassen, dass diese Mullahs eine Spielhölle oder sonst etwas Abartiges in einem Haus aufrechter Bürger unterbringen! Bist du jetzt ein Mädchen, weil dir die Haare wachsen, oder was? Oder bist du jetzt gar einer dieser Hosenscheißer, die vergessen haben, dass genau solche Hosenscheißer unser Land dorthin gebracht haben, wo es jetzt ist.“
„Aber das ist falsch.“, versuchte Günther, Frank doch noch zu überzeugen.
„Falsch?! Das einzige, was falsch ist, bist du. Ich bin enttäuscht von dir, Günther. Ich habe immer auf dich gezählt und das Ganze, was wir gleich machen, machen wir auch und gerade für dich. Du bist ein Umfaller, ein Verräter an der Sache! Für so was wie dich habe ich keine Verwendung. Paul, Denis! Passt auf ihn auf, während der Rest mit mir mitkommt. Um ihn werde ich mich später kümmern.“
Irgendwoher waren Musiker in den Saal gekommen, ohne dass es Günther mitbekommen hätte und eine Frau tanzte zum Gejohle und Geklatsche der Gäste Bauchtanz. Auch Evin und Azad waren dabei und klatschten den Takt mit. Günther bemerkte, wie ähnlich sich die beiden Geschwister sahen. Sein Blick streifte über die Gesichter der Gäste. Nicht alle waren Kurden, aber alle wirkten fröhlich. Man konnte nicht sagen, ob sie begnadete Schauspieler waren, die ihre Probleme verdrängten oder ganz einfach Leute, die jeden guten Moment lebten und niemals wirklich aufgegeben haben. Trotz gewisser Regeln und Traditionen waren sie erstaunlich offen für vieles geblieben, gaben Fremden das Gefühl, niemals unwillkommen zu sein, sofern man fair spielte und ihre Traditionen respektierte. Wie blind war Günther noch vor kurzem gewesen? Türken, Kurden, Araber – alles das Gleiche für ihn. Vieles war noch kürzlich anders gewesen, dachte Günther, als er eine rußige Stelle an der Wand sah.
Paul und Denis waren weder stark noch schnell genug, Günther lange aufzuhalten. Frank war es zwischenzeitlich gelungen, in den Verein vorzudringen, doch prompter Widerstand hatte es ihm wohl schwerer gemacht, als ursprünglich geplant.
Als Günther in das Kellerlokal kam, war ihm, als sehe er erstmals in seinem Leben klar. Was hier tobte, war Wahnsinn, ein Krieg!
Stahlkappen brachen Holz und Knochen, Messer blitzten, eine Stahlrute pfiff durch die Luft, Blut überall, ein alter Mann hatte sich hinter einem umgestürzten Tisch versteckt, der langsam Feuer fing. Nicht Günthers Kameraden säuberten die Heimat, die Gäste dieses Lokals kämpften um die ihre. Günther trat den brennenden Tisch zur Seite, um den alten Mann zu helfen, als ihn Azad von der Seite ansprang, ein Messer stichbereit. Günther konnte sich den Messerarm nur mit Mühe vom Leib halten. Sein Arbeitskollege wirkte wie eine lange verdiente Strafe. Mit einer wütenden Grimasse, speichel- und blutbefleckt, in einer Sprache murmelnd, die aus einem Horrorfilm stammen konnte, entschlossen – bis zum Tod.
„Du hast recht“, presste Günther mühsam heraus, „ich bin ein Schwein und ich bin schuld an der Scheiße. Aber bitte, Azad, lass uns das später klären! Ich schwöre dir, die Bullen oder auch du kannst mich zur Verantwortung ziehen. Ich renne nicht davon! Aber jetzt und hier haben wir andere Probleme.“
Ein Wunder geschah. Azad entspannte sich. Es stahl sich sogar ein schiefes Lächeln auf sein Gesicht und er half Günther hoch. Beim Aufstehen sah Günther, wie sich Frank anpirschte, um einen bereits entzündenden Molotowcocktail auf Azad niederzuschmettern.
„Vorsicht!“ brüllte Günther und stieß Azad aus dem Weg. Frank taumelte im Schwung seines eigenen Schlages nach vorne, auf Günther zu. Irgendwie konnte Günther ausweichen und Frank einen Stoß geben, der ihn auf die Wand zukapitulierte. Der Brandsatz zersplitterte und das flüssige Feuer ergoss sich über Frank, der schmerzerfüllt aufkreischte. Geschockt blickte Günther zu und wurde erst herausgerissen, als Feuerwehrleute und Polizisten – keine Ahnung, woher die so plötzlich kamen – mit Feuerlöschern und Decken an ihm vorbei rannten.
„Ich habe geglaubt, du hast das Rauchen aufgegeben.“, sagte Azad, „Was machst du da in der Kälte? Evin sucht dich bereits.“
„Geh nur hinein und sag ihr bitte, dass ich gleich komme.“ antwortete Günther.
Die Polizei wollte ihn mit seinen Vereinsbrüdern festnehmen, doch Azad hatte gesagt: „Lassen Sie nur. Das ist der Günne, der gehört zu uns.“ und der Polizist hatte es geglaubt, nicht ohne Zweifel, aber letztendlich doch.
Der brennende Frank, das schreckliche Schreien und die hasserfüllten Blicke seiner ehemaligen Kameraden hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt. Günther wusste nur zu genau, dass bald ein neuer Frank auftauchen würde und dass er als Verräter gebrandmarkt war. Eigentlich sollte er sich nun verlassen und heimatlos fühlen, ängstlich nach Klängen von Springerstiefel-Schritten lauschen oder vielleicht gleich auswandern. Doch die Wahrheit war, dass ihm ganz langsam ins Bewusstsein drang, was Heimat mitunter sein könnte.