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Heim der Hundertjährigen

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14.10.2001
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Heim der Hundertjährigen

Heim der Hundertjährigen

Mit langen Strahlenfingern tastete die Sonne durch die apfelsinenfarbigen Vorhänge über die schmächtige Gestalt der schlafenden Greisin. Sie streichelte ihre knotigen Hände, strich ihr sacht die schlaffen Arme entlang, ließ ihr schütteres weißes Haar wie Perlmutt aufschimmern, wärmte ihr bleiches Gesicht und ließ leuchtende Kringel auf dem braunen Linoleum tanzen.
Die alte Frau bemerkte von alledem nichts. Erst als die Zimmertür mit einem Ruck geöffnet wurde und die Schwester resolut wie immer hereinpolterte, öffnete sie ihre halbblinden Augen zu Schlitzen und blinzelte ins Licht.
"Guten Morgen, Frau Schulz!" rief Schwester Carola mit ihrer lauten Stimme und riss mit einem Ratsch die Vorhänge auf. "Heute ist ja Ihr großer Tag! Deshalb wollen wir Sie schnell ganz besonders hübsch machen." Sie sprach langsam und deutlich, denn Berta Schulz konnte ohne ihr Hörgerät fast nichts mehr verstehen.
Nach einer Weile saß die alte Frau mit frisch gewaschenen Haaren und in ihrem schönsten Festtagskleid am Tisch. Darüber hatte ihr die Schwester wie immer einen großen Latz aus weißem Frotteestoff gebunden.
Als sie in ihrem Rollstuhl in den Esssaal hin-eingefahren worden war, hatten alle geklatscht, gelächelt und ihr gratuliert, so als ob sie heute schon Geburtstag hätte. Vergessen schienen all die hässlichen Gerüchte und Verdächtigungen, die seit Agathes Tod die Runde gemacht hatten. Agathe war gestürzt und kurz darauf im Krankenhaus verstorben. An einem Oberschenkelhalsbruch, hieß es. Was hatte man sich nicht alles erzählt! Dass Berta Agathes Tabletten versteckt oder sie vertauscht hätte und Agathe deshalb schwindlig geworden wäre. Dass sie stürzte, weil Berta ihr absichtlich ein Bein gestellt oder ihr ein Hindernis in den Weg gelegt hätte. Dass sie Agathe aus dem Weg räumen wollte, nur um ihren eigenen Geburtstag zu einem großen Ereignis werden zu lassen.
"Es ist tatsächlich merkwürdig", dachte Berta. "Jetzt werde ich gefeiert, aber nur, weil Agathe gestorben ist." Sie hatte ein ungutes Gefühl. Deutlich spürte sie, dass überall unter der Oberfläche noch Neid und Misstrauen gärten.
Seufzend schob sie ihren Teller mit dem Marmeladenbrot beiseite, das Schwester Carola ihr in mundgerechte Bissen zurechtgeschnitten hatte. Ihr war gar nicht nach Essen zumute. Vorsichtig nahm sie einen Schluck Tee. Als sie ihre Schnabeltasse aus Plastik wieder absetzte, zitterten ihre Hände noch stärker als sonst.
In diesem Augenblick kam die Heimleiterin die Tür in den Esssaal hereingerannt. "Schwester Carola!" rief sie aufgeregt. "Schnell! Bringen Sie Frau Schulz sofort auf ihr Zimmer! Die Reporter sind gerade angekommen."
Mit fliegenden Fingern nahm Schwester Carola Berta den Latz ab. In der Mitte hatte er einen großen roten Marmeladenklecks mit mehreren braunen Spritzern darum herum. "Habe ich diese Flecken gemacht?" fragte sich Berta verwundert. Sie hatte gar nichts bemerkt.
Ihr Zimmer war noch leer, als sie dort ankamen. Schwester Carola stellte sie am Fenster bei der Sitzgruppe ab. Schnell richtete sie ihr noch einmal das Haar. Als es an der Tür klopfte, setzte sie ihr allerfreundlichstes Lächeln auf.
Die Heimleiterin führte zwei Männer herein. Einer der beiden hatte eine Kamera bei sich.
"Frau Schulz, dies sind die Herren von der Morgenpost", stellte die Heimleiterin sie vor. Die beiden Männer nickten ihr zu. Berta sah zu ihrem Erstaunen, dass der Mann mit der Kamera trotz seiner grauen Haare einen richtigen langen Pferdeschwanz hatte.
Dann wandte die Heimleiterin sich an die Reporter. "Und das ist unsere Frau Schulz", stellte sie Berta feierlich vor.
Berta musste plötzlich laut lachen. "Unsere Frau Schulz", hatte die Heimleiterin gesagt. Die Männer sahen sie befremdet an.
"Frau Schulz", fuhr die Heimleiterin fort, "die beiden Herren wollen Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen. Aber bitte, meine Herren, nehmen Sie doch Platz!"
Die Männer setzten sich, und auch die Heimleiterin zog sich einen Stuhl heran. Schwester Carola stand noch einen Augenblick unschlüssig herum, dann glitt sie aus dem Zimmer und schloss geräuschlos die Tür hinter sich.
Berta lächelte in sich hinein. Sie fühlte sich wichtig. Sicher würden die anderen sie jetzt beneiden! Besonders diese Frau... diese Frau... Wie hieß sie noch gleich? Berta fiel der Name nicht ein. War es nicht Lange?
Der eine Mann zog einen Block hervor und begann. "Frau Schulze", sagte er, "Ihre Mitbewohnerin ist ja leider kürzlich verstorben, und daher sind Sie nun die älteste Einwohnerin der Stadt. Wie alt war Ihre Konkurrentin - wenn ich mal so sagen darf - und wie alt sind Sie?"
Der Mann mit dem Pferdeschwanz stand wieder auf und betrachtete Berta prüfend von allen Seiten durch seine Kamera.
"Frau Schulz wird morgen hundertzwei Jahre alt", antwortete die Heimleiterin so stolz, als ob das allein ihr zu verdanken wäre. "Frau Schneider wäre in ein paar Tagen 103 geworden. Vielleicht darf ich noch hinzufügen, dass in unserem Heim
überdurchschnittlich viele Hochbetagte leben. Darüber soll demnächst übrigens auch im Regionalprogramm des Fernsehens und im Radio berichtet werden. Frau Lange, unsere Zweitälteste, ist zum Beispiel schon 101 Jahre und 7 Monate alt, und wir haben noch einen Hundertjährigen und mehrere Bewohner, die schon weit über 90 sind. "
"102/103 - viele Alte" schrieb der Reporter auf seinen Block. "Und wie lange lebt Frau Schulze schon hier in diesem Heim?" erkundigte er sich dann.
"Seit fast fünfundzwanzig Jahren", antwortete die Heimleiterin.
"Hatte sie von Anfang an dieses Zimmer?" wollte der Fotograf wissen und sah sich um.
"Zunächst wohnte Frau Schulz mit Frau Schneider in einem geräumigen Doppelzimmer", erklärte die Heimleiterin. "Aber an Frau Schneiders neunzigstem Geburtstag konnten beide Damen in ein Einzelzimmer umziehen. Nicht wahr, Frau Schulz, das war damals eine schöne Überraschung?" rief sie Berta ins Ohr.
Berta zuckte zusammen. Die Stimme der Heimleiterin wurde durch das Hörgerät um ein Vielfaches verstärkt und vibrierte unerträglich laut in ihrem Kopf.
Ja, sie erinnerte sich noch genau, wie froh sie damals gewesen war. Die langen Jahre mit Agathe in einem Zimmer waren alles andere als leicht gewesen.
"Nicht wahr, Frau Schulz?" wiederholte die Heimleiterin.
Berta war verwirrt. Was meinte die Heimleiterin jetzt? Aber sie nickte pflichtschuldigst.
"Und wie geht es Ihnen gesundheitlich?" wandte sich der Reporter an Berta.
"Frau Schulz hat ein bisschen Schwierigkeiten mit den Augen und Ohren ...", erklärte die Heimleiterin.
"Und die Beine wollen auch nicht mehr so richtig!" rief Berta dazwischen.
"... aber abgesehen davon ist sie körperlich und geistig voll auf der Höhe", vollendete die Heimleiterin ihren Satz.
"Wie verbringen Sie denn Ihre Tage hier?" wollte der Reporter wissen. "Haben Sie Hobbys? Lesen Sie zum Beispiel unsere Zeitung? Sehen Sie oft fern? Haben Sie viele Freunde im Heim? Bekommen Sie regelmäßig Besuch?"
Das waren zu viele Fragen auf einmal. Berta musste erst einmal nachdenken. Ja - wie verbrachte sie eigentlich ihre Tage? Es war nicht so einfach, die Zeit herumzubringen, wenn man kaum noch hören und sehen, geschweige denn laufen konnte.
"Es gibt in unserem Haus sehr viele Aktivitäten für die Bewohner", erzählte die Heimleiterin. "Konzerte und Lesungen zum Beispiel, Ausstellungen oder Bastelnachmittage, und regelmäßig einmal im Monat veranstalten wir einen bunten Abend. Gele-gentlich findet auch ein Tanztee für die alten Leute statt, oder wir machen mit einer kleineren Gruppe Ausflüge in die nähere Umgebung. Das alles kommt bei unseren Bewohnern sehr gut an, nicht wahr, Frau Schulz?"
Berta hatte kaum etwas verstanden, aber sie nickte wieder. Die Situation begann, ihr über den Kopf zu wachsen.
"Morgen werden Sie also 102 Jahre alt", sagte der Reporter. "Wie wird der älteste Mensch der Stadt diesen Ehrentag begehen? Wollen Sie ihn groß feiern oder lieber nur im kleinen Kreis? Mit der Familie oder mit den anderen Heiminsassen?"
Berta wurde unruhig. Darüber hatte sie sich noch gar keine Gedanken gemacht. Hätte sie das nicht eigentlich schon längst tun müssen?
Eins war allerdings sicher: viel Besuch würde sie nicht bekommen. Ihre Tochter war schon vor einigen Jahren gestorben, und ihre beiden Enkel wohnten weit entfernt. Der eine schrieb ihr ab und zu, und eine Schwester las ihr dann seinen Brief ein- oder zweimal vor. Aber telefonieren konnte Berta nicht mehr mit ihm. Dazu war ihr Gehör zu schlecht. Ihre Urenkel kannte sie kaum. Sie würde sie wahrscheinlich noch nicht einmal erkennen.
Berta merkte plötzlich, wie die Heimleiterin ihr die Hand tätschelte. "Wir haben uns schon etwas Schönes für Sie ausgedacht ", sagte sie geheimnisvoll. "Und sicher werden auch viele Leute den ältesten Menschen der Stadt beglückwünschen wollen. Höchstwahrscheinlich kommt sogar der Bürgermeister zum Gratulieren ..."
Berta seufzte. Dass der Bürgermeister kommen wollte, machte ihr auf einmal richtiggehend Angst. Sie fühlte sich plötzlich restlos überfordert.
"Nun wollen wir Sie aber nicht länger stören, Frau Schulze", sagte der Reporter zum Glück gerade und stand auf. "Morgen können Sie wahrscheinlich den Bericht über sich in unserem Blatt lesen." Und damit reichte er ihr die Hand zum Abschied. Der Fotograf mit dem grauen Pferdeschwanz schoss noch ein letztes Bild. Dann fiel endlich die Tür hinter ihnen und der Heimleiterin zu.
Berta atmete auf. Sie war todmüde. Und zum ersten Mal bereute sie. Zum Beispiel bereute sie, dass sie dem ganzen Rummel überhaupt zugestimmt hatte. Angst und bange wurde ihr beim Gedanken an ihren morgigen Geburtstag. Wenn sie geahnt hätte, wie anstrengend es war, Hauptperson zu sein!
Am nächsten Morgen gab ihr Schwester Carola nach dem Gratulieren als erstes die Zeitung und reichte ihr die Leselupe.
Der Bericht stand gleich auf der ersten Seite des Lokalteils. Ein großes Foto zeigte die Heimleiterin, wie sie lächelnd neben Bertas Rollstuhl stand und ihr die Hand auf die Schulter legte. "Heim der Hundertjährigen", lautete die Schlagzeile, und darunter stand: "Älteste Bewohnerin der Stadt wird heute 103."
"Das stimmt doch gar nicht!" dachte Berta erschrocken und las weiter.
"Heute begeht Frau Bertha Schulze, älteste Bewohnerin des Altenheims und unserer Stadt, ihren hundertdritten Geburtstag", begann der kurze Artikel.
"Sie haben ja auch meinen Namen ganz falsch geschrieben!" dachte Berta verärgert.
"Ihren Ehrentag wird sie im Kreise ihrer großen Familie begehen", hieß es weiter. "Auch der Bürgermeister wird unter den Gratulanten sein."
"Große Familie?" fragte sich Berta bitter. Hatte die Zeitung sie womöglich mit Agathe verwechselt? Die hatte tatsächlich eine große Familie gehabt! Berta hatte sie immer darum beneidet.
"Frau Schulze liest auch heute noch jeden Tag unsere Zeitung", so endete der Artikel. "Sie trinkt regelmäßig ihr Gläschen Wein und nimmt gern an den vielen Aktivitäten des Altenheims teil."
"Über wen berichten die da eigentlich?" fragte sich Berta empört. Mit ihr hatte der Artikel jedenfalls gar nichts zu tun!
Tränen der Enttäuschung brannten in ihren Augen, Tränen des Zorns, Tränen der Ohnmacht. Warum nur hatte sie das alles getan? Was hatte es ihr gebracht? Wozu hatte sie Agathe ihren Rollstuhl in den Rücken gerammt, so dass sie gestürzt war? Wo-für war Agathe gestorben?
Vergebens. Es war alles vergebens.

 

Hallo Jakobe,

also ich weiß gar nicht, was ich sagen soll - einfach; super Geschichte! Wirklich! :thumbsup: Hab so lachen müssen! Einfach genial!

Gruß,
stephy

 

Vielen Dank für eure Rückmeldung!
Was den Mordverdacht angeht, so denke ich, dass das Ende einer Geschichte im Text immer vorbereitet werden muss. Ein Ende, das der Leser gar nicht erwarten kann, das praktisch aus dem Nichts entsteht, finde ich persönlich nicht so gut. Aber das ist Geschmackssache.
Andererseits muss natürlich auch immer die Spannung erhalten bleiben. Hier habe ich versucht, den Leser dazu zu bringen, sich zu fragen: Hat sie oder hat sie nicht? Aber ihr als gewiefte Leser habt natürlich den Braten gleich gerochen!
Nochmals vielen Dank und viele Grüße1
Jakobe

 

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