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Heilungen
„Irmchen“, fragte Doktor Stamm seine umtriebige Sprechstundenhilfe, „wer sind denn die beiden neuen Figuren im Wartezimmer?“
„Den Symptomen nach wieder zwei Magen-Darm-Infekte. Der Herr in Schwarz ist Hochwürden Maximus von Sankt Anna und der in der knittrigen Leinenjacke ein Kollege von Ihnen.“
„Was für‘n Kollege? Meines Wissens bin ich der einzige Niedergelassene in diesem Kaff.“
„Natürlich, Herr Doktor, kein richtiger Arzt. Das ist der Heilpraktiker Dr. Moritz. Den Titel hat er wohl irgendwo in der Ukraine gekauft.“
„Sollen warten“, brummelte Stamm und zog sich in seinen Ordinationsraum zurück.
Schwester Irma setzte ihr sonnigstes Lächeln auf und flötete ins Wartezimmer: „Bitte noch einen kleinen Moment Geduld, meine Herren.“
„Einen kleinen Moment – ha, wenn ich das schon höre!“ schimpfte der Heilpraktiker gedämpft. „Der hat doch gar keinen Patienten drin. Und selbst wenn, sollte das doch ruck-zuck gehen. Diese Schnupfendoktors befassen sich doch gar nicht richtig mit dem Patienten!“
„Das ist bei Ihnen ganz anders, habe ich gehört“, sprach der Pfarrer, „obwohl ich gestehe, gewisse Zweifel zu hegen hinsichtlich der Wirksamkeit Ihrer Homöopathie. Sie verdünnen da Ihre Wirksubstanzen mit Wasser…“
„Verschütteln, Hochwürden, verschütteln!“ präzisierte Dr. Moritz.
„Nun, meinetwegen verschütteln – klingt allerdings ein wenig wie verschütten oder verschaukeln.“
„Ja, immer ein Tropfen mit hundert Tropfen verdünnt, das dann zwanzig, dreißig bis hundert Mal und mehr. So wird die Lösung potenziert, die geistige Wirkkraft gesteigert.“
„Aber wenn mich mein elementares mathematisches Verständnis nicht trügt, befindet sich in dem Wasser am Ende kein einziges Molekül der Substanz mehr“, gab der Pfarrer zu bedenken.
„Mag sein, darauf kommt es nicht an: Das Wasser hat ein Gedächtnis.“
„Aaah ja. Das leuchtet mir ein. Es verhält sich demnach ganz ähnlich wie das Weihwasser.“
„Wie bitte?“
„Nun“, hub der Pfarrer zu einem theologischen Exkurs an, „wir sprechen über dem Wasser ein Segensgebet, erinnern es an Jesu Taufe im Jordan. So empfängt das Wasser die Weihe, die es seinerseits in die Lage versetzt, den Gläubigen an seine eigene Taufe zu erinnern, ihn geistig und bisweilen sogar körperlich zu reinigen, also zu heilen. Und das ist keineswegs nur symbolisch gemeint. Sie werden zugeben, Herr Moritz, daß Ihre Prozedur wesentlich aufwendiger ist, zumal Sie schließlich, wenn ich richtig unterrichtet bin, erst noch Zuckerkügelchen mit Ihrem Wasser tränken müssen, um es verabreichen zu können.“
„Globuli!“ warf Dr. Moritz ein.
„Meinetwegen Globuli - in denen praktisch nichts mehr drin ist.“
„Das ist doch gar nicht das Entscheidende“, entgegnete der Homöopath. „Der Heilerfolg beruht nämlich im Wesentlichen auf meiner Zuwendung. Unter uns gesagt: Indem ich mittels meines medizinischen Rituals den Glauben des Patienten an eine Besserung seiner Beschwerden wecke, setze ich seine geistigen Selbstheilungskräfte frei. Der Glaube versetzt nicht nur Berge, gerade Sie sollten das doch verstehen, Hochwürden.“
„Nun, wenn Sie mir das so erklären – gewiß. Das erinnert mich übrigens an unsere heilige Reliquie von Sankt Anna: Ein Holzsplitter des Kreuzes, an dem unser Herr Jesus starb.“
„Pah“, lachte Dr. Moritz, „davon soll‘s ja weltweit so viele geben, daß man ein ganzes Wäldchen daraus zusammensetzen könnte.“
„Dem mag ich gar nicht widersprechen, denn die Echtheit ist nicht das Entscheidende“, sprach der Pfarrer milde lächelnd. „Unter uns: Die Orgel, die Liturgie, der Weihrauch – das ganze Ritual bewirkt, daß die Seele des Gläubigen gesundet – und zuweilen setzt sogar ein körperlicher Heilungsprozeß ein, auch das hatten wir schon.“
„Obwohl in Ihrem Reliquiar praktisch nichts drin ist - Donnerwetter!“ rief der Heilpraktiker. „Wir sind Kollegen! So hab ich das noch nie gesehen. Ihr nennt das dann Wunder, wohingegen ich mich immer wieder wundere, wenn‘s geklappt hat.“
In ihrem angeregten Gespräch hatten sie Doktor Stamms Herannahen nicht bemerkt.
„Auf, meine Herren! Wer war der erste? Na, wenn ich mir Sie beide so anschaue – da kommen wir wohl um ein hochpotentes Antibiotikum nicht herum.“