Heiliges Pi
Es wäre ein Verstoß gegen das achte Gebot gewesen, die Gemeinde von Pfarrer Günter Hartke als süchtig nach seinen Gottesdiensten zu bezeichnen. Gewöhnlich verirrten sich lediglich ein Dutzend Senioren, eine Handvoll gelangweilte Konfirmanden, zwei oder drei zugereiste Familien und einige Herren, die eigentlich auf dem Weg zum Frühschoppen waren, ins Gotteshaus. Aber an diesem Sonntag war es noch viel schlimmer. Diesmal waren so gut wie alle Bänke in der Gelsenkirchener Auferstehungskirche leer. Nur die alte Frau Strewing saß auf ihrem Stammplatz in der dritten Reihe links außen und kaute auf ihrem Gebiss.
Hartke umklammerte das Manuskript seiner Predigt, an der er den ganzen Morgen gefeilt hatte. Seine Ausführungen zur Vergebung der Sünden hatten mehr Publikum verdient als eine Schwerhörige, Küster Noffke und Heidi Klarop, die Organistin. Das Wort Gottes war dazu gedacht, gehört zu werden. Nicht, um von kalten Wänden reflektiert und von leeren Kirchenbänken geschluckt zu werden.
Langsam schritt der Pfarrer hinunter zu Frau Strewing, um sie nach Hause zu schicken. Hätte er gewusst, dass es sein letzter Gottesdienst für alle Zeiten war, hätte er ihn sicher nicht ausfallen lassen. Dazu aber fehlte ihm eine entscheidende Information, die dem Großteil seiner Mitbürger freilich längst bekannt war.
Statt an seiner Predigt zu schreiben, hätte Hartke einfach nur Radio oder Fernseher anschalten müssen: Dann hätte er gewusst, dass die Außerirdischen gelandet waren und die Menschheit freundschaftlich in die Galaktische Union aufgenommen hatten. Alle Sender berichteten live und ohne Werbeunterbrechungen von den Treffen der Regierungen mit den netten Fremden.
Als Gegenleistung für Annehmlichkeiten wie Hyperenergie, Universalmedizin und Billigurlaub im Orion-Nebel erwarteten die Aliens nur eine einzige Gefälligkeit: Alle Religionen und jeglicher Glaube waren umgehend abzuschaffen und durch die galaktische Einheitsreligion zu ersetzen, die nichts geringeres anbetete als das Heilige Pi.
»Pi – in unserer Sprache hat diese Zahl natürlich eine andere Bezeichnung – ist die Manifestation der Ästhetik als Liebe zwischen Universum und Leben«, erklärte der ganz in Weiß gewandete Galaktiker im Fernsehen. Eine Einblendung am unteren Bildschirmrand identifizierte den Fremden als Ejaba Hanf Har, Sprecher der Galaktischen Union. Freundlich lächelnd blickte er abwechselnd in die Kamera und zum Moderator der Sondersendung. Der räusperte sich, blätterte durch die Karteikarten in seiner Hand, fand aber anscheinend nicht, was er suchte. Daher stellte er seine nächste Frage aus dem Stegreif. »Gibt es eine heilige, ehm, Schrift in Ihrer Welt?«
Der Galaktiker fuhr damit fort, freundlich zu lächeln. »Eine Schrift ist nicht erforderlich, wenn das Göttliche doch offensichtlich ist. Sehen Sie sich unsere Galaxis an. Was erhalten Sie, wenn Sie ihren Umfang durch ihren Durchmesser teilen?«
»Nun, ehm ...«
»3,11037552 ...«, sagte Hanf Har glücklich.
Der Moderator merkte auf. »Aber hat Pi nicht den Wert ...«, er suchte hektisch nach einer bestimmten Karteikarte, »3,14159?«
»Sehen Sie?«, fragte Hanf Har und hob die Hände. »Im Gegensatz zu euch Menschen haben wir Jefebier nur acht Finger.« Er wackelte mit seinen schlanken Greifern. »Deshalb verwenden wir naturgemäß das Zahlensystem mit der Basis Acht, welches von Ihren Fachleuten auch Oktalsystem genannt wird. Wir benutzen nur acht Ziffern, und so sieht unser Pi anders aus - und hat doch genau den gleichen Wert, nämlich das Verhältnis aus Umfang und Durchmesser egalwelchen Kreises.« Der Außerirdische breitete die dünnen Arme aus. »Ist das nicht ein Wunder göttlicher Offenbarung? Geben Sie es zu: Sie schütteln den Kopf, weil Sie hier auf der Erde noch nicht darauf gekommen sind, obwohl es doch so offensichtlich ist.«
Günter Hartke starrte fassungslos den Fernseher an. Das mit dem Oktalsystem hatte er nicht so ganz begriffen, aber mit Mathematik stand er schon immer auf dem Kriegsfuß.
Für ihn waren die Außerirdischen Geschöpfe des einen Gottes, sie hatten bloß die sonderbare Idee gehabt, ihn mit einer mathematischen Größe zu identifizieren. Das war auf der Erde fast überall ein vollkommen sinnloser Gedanke. Theologie und Naturwissenschaften verwendeten nie dieselbe Sprache, konnten daher keinen fruchtbaren Dialog führen und brachten Vertreter ihrer Fachrichtungen nur dann an einen Tisch, wenn in der Mensa keine anderen Plätze mehr frei waren.
Ein Gott namens Pi? Und alle Welt sollte von heute auf morgen zu ihm beten oder gar an ihn glauben?
Hartke schüttelte den Kopf und rutschte tiefer in seinen Sessel. Er schaltete auf einen anderen Sender und konnte die erschütternden Bilder kaum ertragen.
Die ganze Sache wäre ja nicht so schlimm gewesen, wenn die Galaktische Union nicht einen Missionierungseifer an den Tag gelegt hätte, gegen den die spanischen Conquistadores wie Vertreter einer etwas aus der Mode gekommenen Staubsaugermarke wirkten.
Immerhin zeigten die Fremden Großherzigkeit und warteten mit der Vernichtung aller Sakralbauten auf der Erde, bis sie evakuiert werden konnten.
Die praktische Ausübung der neuen Einheitsreligion erwies sich als genauso simpel wie nervtötend. Nicht nur Fernseher, sondern auch Flugblätter und Lautsprecherwagen, die die Straßen auf und ab fuhren, erklärten, welche frommen Tätigkeiten von den neuen Pi-Schäfchen erwartet wurden: Täglich hatte jeder Gläubige 64 (acht mal acht) Kreise zu schreiten, und nach beliebiger Melodie den Namen von Pi zu lobpreisen, und zwar mindestens 64 Nachkommastellen. Freundlicherweise war die dezimale Ziffernfolge genauso erlaubt wie die oktale.
»Das ist Gehirnwäsche«, beschimpfte Günter Hartke den Fernseher. Die Methoden der Galaktiker erinnerten ihn stark an die Jünger von Krishna, die 1728 mal am Tag das Mantra »Hare Krishna« wiederholen mussten. Allerdings waren den Krishna-Freunden unter anderem Alkohol und Sex vor der Ehe verboten – man konnte nicht umhin, die Galaktiker in dieser und in fast jeder anderen Hinsicht als überaus liberal zu bezeichnen. Nur was ihre Einheitsreligion anging, duldeten sie keine Widerrede.
Hartke griff nach dem Glas Rotwein, das neben ihm auf dem Beistelltisch stand.
In diesem Moment klingelte es an der Tür.
»Möge Pi mit dir sein«, sagte der lächelnde Jefebier. Sein verblüffend menschenähnlicher Körper steckte in einem weißen Gewand. Neben ihm stand ein kleiner, gedrungener Fremder, der offenbar von einem anderen Planeten der Galaktischen Union stammte. Er trug eine riesige Sonnenbrille, vermutlich um seine empfindlichen Augen zu schützen, die so groß waren wie Pampelmusen. Neben sich hatte er eine hüfthohe, silberne Tonne abgestellt. Hartkes Blick wanderte wieder hoch zu dem Jefebier, der geschwiegen hatte, bis der Pfarrer damit fertig war, seinen Begleiter anzustarren. »Mein Name ist Flaus Riin, Mitarbeiter des Galaktischen Entsorgungsunternehmens. Ich würde dir meinen Begleiter vorstellen, allerdings kann ich seinen Namen nicht aussprechen. Er ist Antiphoniker.« Als würde das alles erklären, zeigte der Jefebier auf den Kerl neben ihm.
Hartke wollte schon »Ich kaufe nichts« sagen, aber er überlegte es sich anders und bat die Fremden herein.
»Die Gastfreundschaft der Erdlinge ist wirklich erfreulich«, sagte Flaus Riin zu seinem Begleiter. Der grinste nur und hob die Tonne hoch.
Die beiden Galaktiker traten ein. Hartke führte sie ins Wohnzimmer, wo der Antiphoniker die schwere Tonne mitten im Raum abstellte.
»Die großartigen Neuigkeiten über die goldene Zukunft der Erdbewohner in der Galaktischen Union sind dir ja bekannt«, begann der Jefebier, als er in einem Sessel Platz genommen hatte. Sein Begleiter zog es vor zu stehen, während Hartke sich aufs Sofa setzte, das Weinglas griffbereit.
»Ihr zwingt uns euren Glauben auf«, brachte der Pfarrer hervor.
Flaus Riin hob abwehrend die Haende. »Wir bieten zwei Alternativen.«
»Pi oder Tod.«
»Es ist sinnvoll, die Sache differenzierter zu betrachten.«
»Differenzierter?« Hartke hob die Stimme. »Alles habt ihr zu Staub gemacht! Tempel, Kirchen ... sogar das Weiße Haus in Washington!«
Riin machte ein schiefes Gesicht. »Der amerikanische Präsident hat gestern Nachmittag eine Fernsehansprache gehalten, die wie die Predigt eines Propheten klang. Daher hat unsere Automatik seine Residenz als Sakralbau eingeordnet.«
»Ihr seid arrogante Barbaren«, zischte Hartke und überlegte, ob er seine Besucher mit der Weinflasche erschlagen sollte.
»Niemand, Herr Hartke, kann beweisen, dass sein Glaube der einzig richtige ist. Also hat jeder Einzelne Recht und aus seiner Sicht jeder Andersgläubige Unrecht. Und im Unrecht ist doch niemand gern, oder?«
Der Pfarrer schwieg und griff zu seinem Weinglas. Einen Moment lang überlegte er, ob er seinen Gästen etwas anbieten sollte. Er entschied sich dagegen.
»Vielleicht hast du dich gefragt, warum wir hier sind«, redete der Jefebier weiter. »Erfahrungsgemäß glaubt der weitaus größte Teil der Bevölkerung aus Bequemlichkeit das, was gewisse herausragende Personen, nämlich die Multiplikatoren, glauben. Daher ist der gesamte Vorgang einfacher durchzuführen, wenn wir diese Multiplikatoren auf unsere Seite ziehen. Dich zum Beispiel.«
»Ich soll meiner Gemeinde den Glauben an Pi predigen, ist es das?«
Riin nickte. »Und deinen alten Glauben dem Mülleimer der Geschichte übergeben.« Er zeigte auf die silberne Tonne. »Mein namenloser Assistent wird für den ordnungsgemäßen Ablauf sorgen.«
Hartke stand fassungslos auf und ging zu der Tonne. »Soll ich meine Bibel hier reinwerfen oder was?«
Wieder nickte der Galaktiker. »Alles, was den überholten Glauben repräsentiert, gehört in den Mülleimer der Geschichte.« Er lächelte freundlich. »Entweder die Bibel oder du selbst.«
»Ich?« Hartke sah die Tonne zweifelnd an. »Ich passe da nicht rein.«
»Wir müssten dich natürlich vorher zerlegen«, sagte Riin. »Wie den Papst.«
»Der Papst ist da drin?« Hartke spürte, dass seine Knie weich wurden.
»Der Mülleimer der Geschichte sammelt alle Irrtümer, die den Lebewesen in Pis wunderbarem Universum unterlaufen sind, bevor sie erleuchtet wurden. Keine Angst – nichts geht verloren. Alles wird gespeichert. Als abschreckende Beispiele.« Der Jefebier erhob sich. »Wie wäre es mit einer kleinen Demonstration?« Er sah seinen Begleiter an. Der Antiphoniker zog eine Fernbedienung aus einer Tasche hervor und zielte auf den Mülleimer der Geschichte. Licht flimmerte über der Tonne, dann erkannte Hartke dreidimensionale Bilder.
»Ah«, sagte Riin. »Hier haben wir die Katzenwesen vom Planeten ... weiß ich gerade nicht.« In der Luft über der Tonne schwebten Löwen in schwarzen Kleidern, die griesgrämig durch kahle Straßen schlurften. »Diese Wesen glaubten an die Wiedergeburt, bevor sie in die Galaktische Union aufgenommen wurden. Sie glaubten, dass unsterblichen Seelen immer dann in Katzenkörpern wie ihren wiedergeboren wurden, wenn sie in ihrem vorherigen Leben den Tod durch Verhungern oder Verdursten gefunden hatten.«
Hartke verzichtete auf eine Bemerkung. Der Sonnenbrillen-Zwerg tippte auf seine Fernbedienung. Das Bild wechselte und zeigte nun einen metallisch glänzenden Turm.
»Was unser antiphonetischer Freund uns hier zeigt, ist der Turm von Pelphitruk. Genaugenommen handelt es sich um einen riesigen Computer. Die Bewohner von Pelphitruk entwarfen und bauten ihn, um ihm dann sämtliche Regierungsangelegenheiten anzuvertrauen.«
»Was hat das mit Glauben zu tun?«, fragte der Pfarrer.
Riin seufzte. »Offenbar war dieses Projekt dermaßen erfolgreich, dass die Bewohner anfingen, ihren Computer als Gott anzubeten. Als er irgendwann anfing, nicht mehr perfekt zu arbeiten, begannen sie, ihm Opfer darzubringen.« Das Bild erlosch. »Jungfrauenopfer«, ergänzte der Jefebier.
Hartke starrte nachdenklich den Mülleimer der Geschichte an. Stellen aus der heiligen Schrift fielen ihm ein, aber er hielt es für wenig hilfreich, sie zu zitieren. »Niemand ist im Besitz der endgültigen Wahrheit«, sagte er.
»Falscher Glaube«, sagte Riin, »beginnt jenseits der überprüfbaren Wahrheit. Das haben alle überholten Religionen gemeinsam.«
»Ach wirklich?«, fragte Hartke. »Gottes Liebe existiert. Ich kann sie spüren. Das ist überprüfbar.«
»Für dich selbst, ja. Glaube ist subjektiv. Das ist das gefährliche daran. Insbesondere lässt er sich missbrauchen. Wer mittels Glauben Vertrauen bei anderen erwirbt, hat Macht über sie.«
»Die größere Macht hat derjenige, der die schrecklicheren Waffen besitzt«, versetzte Hartke. »Ihr zwingt den Völkern euren Glauben an eine Zahl auf.«
»Wir sorgen dafür, dass Irrtümer im Mülleimer der Geschichte landen, damit sie keinen Schaden mehr anrichten können. Der Weg des Pi ist der ideale Weg, weil es keinen Zweifel an seiner Wahrheit gibt. Das Verhältnis von Umfang zum Durchmesser ist immer dasselbe. Es ist immer Pi. Man kann sich darauf verlassen. Kannst du dich auch jederzeit auf deinen Gott verlassen? Du hast eine Stunde Bedenkzeit.« Riin setzte sich wieder in den Sessel. Dabei drehte er dem Pfarrer den Rücken zu.
Ich muss beten, dachte Hartke. Hilf mir, Gott, lass mich nicht allein. Gib mir Kraft, damit ich diese Prüfung überstehe. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Gib mir ein Zeichen. Nur einen kleinen Hinweis. Bitte.
Grübelnd fixierte Hartke den Mülleimer der Geschichte, betete verzweifelt und hoffte auf einen erlösenden Einfall.
Nach einiger Zeit fiel ihm auf, dass er die ganze Zeit im Kreis um die Tonne herum gelaufen war.
Oh mein Gott, dachte Hartke.
Am nächsten Tag saß Günter Hartke im Pfarrhaus, das unversehrt geblieben war. Während er nachdenklich einen Kaffee schluerfte, kamen zwei seiner ehemaligen Konfirmanden herein.
»Herr Pfarrer«, flüsterte Stefan, »wir wollen den Monstern den Arsch aufreißen!«
»Wollt ihr sie mit euren Skateboards jagen?«, lachte Hartke und wies mit dem Kopf auf die fahrbaren Untersätze, die die Jugendlichen immer bei sich trugen.
»Natürlich nicht«, entgegnete Benjamin und stellte sein Skateboard ab. »Wir treffen sie an ihrer empfindlichsten Stelle.«
»Bei Pi!« Stefan malte einen imaginären Kreis in die Luft.
Benjamin zischte verschwörerisch: »Wir halten einen Geheimgottesdienst ab. Und Sie, Herr Pfarrer, sollen zur Gemeinde sprechen.«
Hartke konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Diese beiden Jungs hatten den Konfirmandenunterricht meist dazu genutzt, Yugioh-Karten und Panini-Bildchen zu tauschen. Und jetzt wollten sie einen verbotenen Gottesdienst organisieren. Opportunismus, dachte Hartke seufzend, typisch für die Pubertät.
»Setzt euch mal hierher«, sagte Hartke. »Wisst ihr: Wenn man richtig drüber nachdenkt, hat die Invasion der Galaktiker auch gute Seiten. Es gibt zum Beispiel keine Religionskriege mehr.«
»Doch: Wir gegen die«, sagte Benjamin.
»Diesen Krieg haben wir schon verloren«, schüttelte Hartke den Kopf. Er sah zum Fenster und zeigte auf den Haufen Staub, der bis vor kurzem noch die Auferstehungskirche von Gelsenkirchen gewesen war.
Auf der freien Fläche liefen eine Handvoll Leute im Kreis. Gelegentlich verharrte der eine oder andere und las verstohlen Ziffern von einem Zettel ab.
Der frühere Pfarrer sah die beiden Jungs freundlich an.
»Beim heiligen Pi«, lächelte Günter Hartke, »wir laufen im Kreis in eine bessere Zukunft.«
6./7.11.2006
Flic-en-Flac, Mauritius