Mitglied
- Beitritt
- 11.12.2016
- Beiträge
- 10
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Heikos letzte Regel
Immer diese Regeln
„Nur wer eine Freundin hat, darf hier im Park bei uns stehen“, stellte Heiko als Regel auf. Er ließ diese auch gleich noch von Andi, einem seiner Pseudos bestätigen, die einen Halbkreis rund um eine Bank bildeten. Da war kein Platz für mich. Von da an versuchte ich mich ein Jahr lang als Charmeur, nur um eine Freundin zu finden. Das war besonders heikel, denn Kristina meine Angebetete war sein Mädchen, obwohl ich nicht glaubte, dass es zwischen denen richtig funkte.
Ich versuchte es deswegen genau ein Jahr lang, weil die Vereinigung unserer beiden Staaten dazwischen kam. Dann hab ich Heiko nie wieder im Park gesehen, weil er sich nachmittags vor seine Atari Spielkonsole setzte, von der er immer geträumt hatte. Mich wurmte trotzdem, dass ich keine Freundin gefunden hatte und ich war schon zwölf.
Genau jener Teil in unserer Klasse, der so gern den Park für sich beanspruchte, gab sich im Unterricht die größte Mühe und verschwand nach dem einen Jahr, bis auf den langen Andi, aufs Gymnasium nach Krondorf, gleich neben dem Friedhof.
Dort hatte man die ehemalige Kaserne umgebaut und wollte jetzt mit Drill und gymnasialer Gymnastik die bessere Hälfte unserer Klasse perfekt machen.
Die letzte Zeit bis zur Trennung waren erbärmlich. Obendrein vermisste ich da schon am meisten Kristina, obwohl sie noch in der Wandreihe saß. Die einzige bei der ich mit meinen Späßen ihr bezauberndes Lächeln hervorrief, manchmal wendete sie sich einfach so damit zu mir um und wich meinem Blick nicht aus.
Vielleicht war ich, was den Charakter anging, das Gegenteil von dem was ihren Vater ausmachte. Er war der strenge Leiter der Chirurgie. Er schnippelte Menschen auf, um Herzen oder Krebsbeeren zu entfernen. Ich bildete mir ein, dass ein kleiner Teil in Kristina auch auf einen Vogel wie mich blinzelte, der eher den Leuten ein Herz verpasste oder einen Bären aufband.
Einziger Trost, ich konnte im neuen Schuljahr weiter in die Schule gehen, in die ich immer gegangen war, an den selben Tischen und unter den selben alten Wandkarten sitzen, ohne den Linienbus nehmen zu müssen. Kinder die auf Busse warten, hatte ich schon immer bemitleidet.
Der erste Tag nach dem einen Jahr
Meine Oma weckte mich, in dem sie an mein Kämmerchen klopfte. „Ich komm ja“, antwortete ich müde und blieb liegen als Bodensatz, der es nicht heraus geschafft hatte, auch als ich aufgestanden war. Sollte ich wirklich zur Schule ohne dass da Kristina in der Wandreihe saß? Muß ich da hingehen, um mir endgültig den schwarzen Stempel UNTAUGLICH aufdrücken zu lassen?
Ich schaute auf meine Uhr und freute mich, die erste Viertelstunde schon verpasst zu haben, malte mir aus, bis in die Herbstferien den öden Unterricht zu verkürzen.
Aber meine Oma hatte meine Lage schon richtig eingeschätzt, ein Schulschwänzer war ich nicht, nur zur ersten Stunde kam ich unpünktlich.
Darum hatte sie vorbeugend alle Uhren sogar die Uhr an meinem Arm vorgestellt und seit Neustem einen Deo Roller hingestellt, so trödelte ich rechtzeitig ein. Ich sah auf dem Hof eine ganze Reihe neuer Gesichter von Schülern, die versuchten sich zurecht zu finden.
Kinder von den Dörfern kamen nun zu uns, weil auf dem Land eine Schule geschlossen wurde. Wir die Alteingesessenen trafen uns am Goethestein, wo heute unsere Form von Appell abgehalten wurde, Spuckepfützen aulen und die “Null Bock Devise“ zur Schau stellen. Wir waren keine niedlichen Kinder mehr, das Gerotze und der Geruch nach Puma brachte das Gleichgewicht von Sich-Ok-Finden und den Ekel vor sich selbst durcheinander. Von hier schlenderten wir ins Gebäude, das uns wie ein Trog vor kam und Andi tat mit eindeutiger Mimik so, als könnten er den Stallmist an den Neuen riechen. Alles kam mir vor wie Freakshow mit uns als Hauptdarstellern. In meine Unzufriedenheit mischte sich ein Bild, dass die von den Dörfern in den Rucksäcken ihre Hühner, Gänse und Tauben mitbrachten. Jetzt konnten wir vielleicht das fliegende Klassenzimmer werden, lernen würden wir nie wieder etwas. Wir würden unsere Zweitklassigkeit durch böse Scherze überspielen und den Gymnastik Schülern mit Prügel auflauern.
Ehrlich gesagt war für mich die einzige Hürde an die höhere Schule zu wechseln, eine weitere Sprache zu erlernen. Egal wie gut ich sie beherrschte, ich würde in Fremdsprachen nie ausdrücken können, was ich wirklich dachte und ich dachte schon viel. Ohne Interesse an Fremdsprachen brachte ich nur mangelnde Leistungen, damit hatte ich mein Schicksal besiegelt.
Als es zur ersten Stunde Russisch mit einer neuen Lehrerin Frau Dräger klingelte, war die ältere Dame noch auf der Suche. Nicht ohne Grund, denn wir zogen einen Schrank vor die Tür, als gäbe es unseren Raum nicht.
Warum sollten wir auch Vokabeln lernen, obwohl das Land verschwand, in dem man sie brauchte. Weit im Osten löste sich der große Bruder immer mehr auf, eine Teilrepublik nach der Anderen erklärte die Unabhängigkeit und emanzipierte sich mit eigener Sprache. Der Rest schwamm die Lena und den Ob ins Polarmeer und uns strafte das Leben mit Russisch. Nur auf Gorbis Stirn gab es noch die Karte einer utopischen Sowjetunion.
Irgendwann half der Direktor Frau Dräger den Schrank zur Seite zu schieben, wobei ein Fuß abbrach und die im Schrank enthaltenen Klassensätze von Hamlet ins Treppenhaus stürzten.
Der neue Direktor war ein beleibter Mann mit Hemd, dessen Zipfel aus der Hose schauten, uns wurde durch diese weißen Lappen an seiner Person die zweite Wahl unserer Schulform sichtbar.
Er lief staatstragend durch die Bankreihen, setzte seine einzige betroffene Larve auf, die er besaß. Ein Gesicht für jede ernste Angelegenheit, von A wie Amoklauf bis Z wie ziemlich harmloser Schülerstreich. Er forderte die Übeltäter, um Verweise auszustellen: „Wer hat sich diese Sache ausgedacht? Also wer?“
Wir kannten uns alle doch noch nicht mal mit Namen, was sollten wir also antworten. Obwohl wir alles andere als eine verschworene Gemeinde waren, verfielen wir in kollektives Schweigen. Einer, der die Stille nicht länger aushielt, leugnete schließlich mit verschmitztem Stolz: „Wie sollen wir von innen den Schrank bewegt haben? Es kann nur einer von außen gewesen sein.“
Frau Dräger hatte mit Schnappatmung auf der Türschwelle gewartet um nicht zu vergessen: "Hier wars!" Der Direktor verließ den Raum ohne Maßnahmen, attestierte uns der Achten ein „schwieriges Alter“. Darauf konnten wir uns was einbilden, kompliziert zu sein.
Russisch fiel ins Wasser. Denn wir hatten die Tafel eingeseift, so dass Frau Dräger nicht mal ihren Leitspruch schreiben konnte. Sie bestimmte einen Neuen, der mit dem Schwamm zwar alles gründlich abwusch, aber auch für eine Überschwemmung sorgte. Wasserlachen züngelten bis in die ersten Reihen und Frau Dräger watete in Sandalen durch. Das rechnete ich ihr hoch an, sie ließ sich nicht beirren, um doch noch ihren Satz aller Sätze zu bringen:
Покажите мне свои страсти, и я скажу вам, кто вы.
"Jetzt übersetzen!", befahl sie. Wir griffen alle nach den roten Wörterbüchern vom Stapel und versuchten herauszufinden, was sie uns auf den Weg geben wollte.
Die Übersetzer flogen am Ende aus den Fenstern, wie die meisten Gegenstände, die nicht angeschraubt waren und die uns zur grenzenlosen Freiheit im Weg erschienen. Ich hasste es allerdings wenn etwas kaputt ging, nur um Lacher zu ernten. Mir gefiel es besser Dingen ihren Platz zu lassen und trotzdem alles zu ändern.
Für unser Alter war eigentlich die Jugendweihe erfunden worden, um uns die Flausen auszutreiben.
Das idiologisch überfrachtete Bilderbuch: „Vom Sinn unseres Lebens“ händigte man sonst jedem Dreizehnjährigen in der DDR aus.
Durch die Wirren der Zeit war jedoch noch nichts Neues geschrieben worden. Damit ist bei uns die Initiation schlicht ausgelassen worden. Ich glaubte darum, meine Kindheit setze sich bis in alle Ewigkeiten fort.
Endlich hatten wir eine vage Vorstellung von Frau Drägers Leitspruch und atmeten in der Hofpause durch. Irgendwas mit Eifer oder Leidenschaft. Der lange Andi und ich stellten uns als alte Hasen am vorderen Eingang des großen Schulhauses auf, inspizierten, wer sich an diesem ersten Tag sonst noch in unserer Schule herumtrieb.
„Los, machen wir einen auf Grenzpolizei“, schlug ich vor. Ich pickte mir ein Gesicht raus und sagte: „Ey du da mit den roten Haaren und den Sommersprossen, Du kommst hier nicht rein, Du mußt nach hinten.“ - “Warum denn?“, fragte der Rotkopf. Andi stieg darauf ein und sagte: „Frag nicht, hier ist der Durchgang gesperrt.“ Der Bursche gehorchte.
Ich hatte mich ertappt, genau so ein Arschloch zu werden wie Heiko und spürte sowas wie Reue. Andi stand selbstsicher neben mir, die Schuhspitzen nach außen, das Kinn nach oben gereckt und hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt.
Ein paar hübsche Mädchen von den Dörfern ließen wir durch, aber nur unter der Bedingung, dass mich die eine von ihrem Apfel beißen ließ. Vielleicht sollte ich die öfter fragen mich beißen zu lassen, dann hätte ich eine Freundin und könnte im Park stehen, blitzte mir ein Gedanke durch den Kopf. Aber ich hatte mich in die Vorstellung verbissen Kristina müsste es sein.
Jetzt pförtnerte ich in einem Anflug von Selbstzerstörung bei einer ganzen Gruppe aus der Neunten, die im Anmarsch war: „Hier ist gesperrt, ihr müsst nach hinten!“. Als die sich weigerten und ein Kahlkopf lapidar „Komm schleich dich!“ zu mir sagte, mich dabei mit seinem Mopedhelm zur Seite schob, kam unser Dritter Mann zum Einsatz. Der hatte verteckt nur darauf gewartet die Tür im richtigen Moment von innen zu schließen. „Klappe zu Affe tot“. Die Pointe saß. Wir lachten. Der mit dem Helm drohte: „Wollen wir uns kloppen, Jetzt und hier?“. Ich wäre sonst vor so einer Trieze-Glatze im Boden versunken, der Spruch streifte fühlbar meinem Nacken. Ich reagierte mit: „Nein kann nicht, hab meine guten Schuhe an.“.
Die Ausrede brachte ich früher immer, wenn ich mich beim Kampeln aus der Affäre ziehen wollte, war zwar kindisch, half aber.
Ich lachte weiter, nicht nur schadenfroh, sondern auch gelöst, als hätte ich ein Gespenst, dass mich seit langem begleitet hatte für immer verscheucht.
Andi war immer eine Geißel von Heikos Regeln gewesen, hatte heute hinter mir gestanden. Er ließ sein Basecap um den Finger kreisen. Mir kam es so vor als hätte er es vor mir gezogen.
Fakt ist; ohne Heiko, keine Regeln mehr. Es blieb nur noch die eine im Raum, diese Aufgabe mußte ich lösen, sie entschied über ein dabei zu sein oder nicht dabei zu sein.
Wollte ich zukünftig im Park Andis neuer Heiko sein, den er wie einen Papagei begleitet hatte, meistens auf meine Kosten? Ich glaube nicht.
Andi, das schien mir schon lange klar, war einer dieser dümmlichen Riesen, bei dem jeglicher Schub in seine Körperlänge gewandert war. Ich hatte genug Demütigungen ertragen, als er mich mit meinem aufgelesenen Intershop-Müll aufzog, aus dem Park schickte, weil ich keinen Walkman besaß. Es musste schon mehr passieren, um aus Andi einen Freund zu machen.
Dennoch war ich milde gestimmt, er hatte auch sein Schicksal zu tragen. Sein Vater war als IM gleich nach der Wende auf die Idee gekommen, genug gelebt zu haben, sich eingebildet den sauberen Abgang hinlegen zu müssen, hatte den Leuchter abmontiert und sich am freien Haken mit dem Gürtel seines Bademantels erhängt. Andi fand ihn aus der Schule kommend im Wohnzimmer an der Decke baumeln. Ich war zwar auch ohne Vater aber das war anders, bei uns ging wenigstens das Stubenlicht.
Andis Mutter war nun alleinerziehend, mit ihrem Sekretärinnen-Gehalt sparte sie sich das teure Go-Kart-Fahren ihres Sohnes vom Munde ab.
„Wir sind das, was in uns Leidenschaft entfacht“, hieß es in Frau Drägers Leitspruch, den wir übersetzen sollten. Es ging ihr ums Sein oder Nichtsein. Demnach war Andi ein Raser. Klar fuhr ich auch mal eine Runde. Aber ganze Nachmittage konnte ich nicht. Ich fand mich sehr weise, als ich erkannte, dass die Geschwindigkeit, der Kick sich schlicht auf die eine Gefahr reduzieren ließ, gegen eine Wand zu jagen. Mit Sportlichkeit hatte das nichts zu tun, da konnte Andi behaupten was er wollte.
Es kam dem nahe, jeden Tag über Selbstmord nachzudenken und abends im Bett befriedigt festzustellen, heute die Kurve gekriegt zu haben, aber morgen, morgen fahr ich mir die Hörner ein. Für eine Leidenschaft im Leben, war mir das einfach zu nah am Sterben.
Statt mit Andi beim Go-Kart abzuhängen, versuchte ich meiner Leidenschaft zu frönen und das war Kristina.
Als wir vor dem Sommer im letzten Schuljahr unsere Arme nebeneinander hielten, war ihrer am meisten gebräunt. Während ich weißer war, als unbeschriebenes Papier.
So mit Farbe, entzückte sie mich. Aber nicht nur darum war sie schon immer meine Auserwählte, sondern seit dem sie vor Urzeiten im Kindergarten als Marienkäfer mit mir Clown getanzt hatte und dann gab es noch die Dirty Dancing Episode, wo wir uns ziemlich nahe gekommen waren. Gerade diese Erinnerung hüpfte am hartnäckigsten an mir hoch und ließ sich nicht verscheuchen.
Ich setzte mich vor das Haus des Chefarztes auf einen Steinsims und schrieb ein Brieflein, bald hörte ich es hinter mir rascheln, scharren, Blumentöpfe schieben, dann öffnete Kristinas Oma das Fenster im Erdgeschoss, von Buletten-Geruch und dem Duft nach sauren Gurken begleitet, fragte sie, was ich da mache.
Ich informierte auf ihre Enkelin zu warten. Der Oma war es recht, trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie mich die ganze Zeit interessiert beobachtete und die Gardine wackeln ließ.
Kristina lief wegen ihres Rucksacks gebeugt und bekam mich erst nicht mit, sah dann aber gleich was ich zwischen den Händen verbarg. Sie näherte sich voller Neugier mit aufgerissenen Augen. „Zeig was du da hast!“. Ich sagte: „Nein, lieber nicht.“ Sie bog jeden Finger einzeln weg und riss mir mein Geschriebenes aus den Händen.
Nachdem sie eine Weile gelesen hatte, schaute sie gütig und vertröstete mich: „Ich gehe doch mit Heiko“ - “Wirklich ist das noch aktuell?“stellte ich in Frage
Meine Enttäuschung war mir anzusehen. Sie lächelte niedlich und sagte: „Du musst mich nicht vermissen, komm doch heute zum Malen, so wie früher.“
Gegen vier war ich der Erste im Mal-Zirkel, der ins Gymnasium verlegt worden war. Obwohl ich mich hier überhaupt nicht abgehängt fühlte, mischten sich Skrupel ein. Alles war viel zu neu, roch nach unheimlichen Aufwand, nach Renovieren, nach der Chemie im Bodenbelag. Neu, davon war ich überzeugt, war nur für die Eliten und nichts für mich, der vielleicht noch unverhofft als Spätzünder losgehen konnte.
Dort traf nicht nur Kristina ein, auch die anderen Mädchen meiner früheren Klasse. Ihr Auftreten war verändert, ihre Gesichtszüge hatten Konturen angenommen, alle wirkten strenger. Mir wurde fast schwindlig bei der Vorstellung ihren Vorsprung aufholen zu müssen. Kristina holte sich Papier und Pinsel, nahm neben mir einen Platz ein. Ich bemerkte allerdings, dass sie so ein Gesicht auflegte, das Bände sprach. Sie sagte: „Das mit uns wird erst Mal nichts, aber frag doch in der Zehnten noch einmal“
Ich schloss die Augenlider und rieb. Da sah ich die dunklen kleinen Kreise oder Vierecke im Inneren. Manchmal sah ich dieses Brettspiel, das es nicht gab. Dann fiel meine Aufmerksamkeit auf die weißen, unbemalte Blätter und die Sonnenflecke, die durchs Fenster strahlten. Ich stand auf um zu gehen. "Ach bleib doch", bat Kristina. Ich blieb. Zögerlich bediente ich mich an den Farben, ganz sparsam, es lag ja nicht für mich parat.