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Heike
Jetzt, wo ich hier sitze, gibt es eigentlich nur noch eine Sache, die mich beschäftigt.
Begonnen hat diese mysteriöse Geschichte schon vor vielen Jahren. Damals war ich etwa siebzehn, wenn ich mich recht erinnere. Es war im Sommer 2002, als ich mit meinem besten Kumpel Paul den Nachmittag im Stadtpark verbrachte. Auf dem Weg dorthin kaufte ich mir, wie jeden Tag, eine Bildzeitung. Die hat damals knapp 50 Cent gekostet – da gabs den Euro noch. Wirklich interessante Sachen standen nicht drin - Dieter Bohlen hatte ne neue Frau, Boris Becker ne neue Frisur und Hera Lind ein neues Gebiß.
Laut Paul war der Park ein toller Ort zum Relaxen, Sonnenbaden und Schwimmen im Weiher. Ich wußte natürlich, daß er an keinem der drei Dinge wirklich Interesse hatte, sondern nur dort hinwollte, um Frauen aufzureißen. Das war sowieso Pauls liebstes Hobby. Um ganz ehrlich zu sein, tat er eigentlich nichts anderes. Sobald er irgendwo ein auch nur ansatzweise als weiblich erkennbares Wesen ortete, mußte er einfach Kontakt aufnehmen. Das lustige an der Sache war nur, daß Paul dabei vollkommen erfolglos war. Noch nie hatte eine Frau Interesse an ihm gezeigt. Ich habe bis heute noch keinen Menschen kennengelernt, der schlechtere Anmachsprüche hatte, als Paul.
Naja, an diesem Tag saßen wir also träge auf der Wiese und ich beobachtete einen Hund, der in sicherer Entfernung an einen Apfelbaum pinkelte. Paul hingegen konnte sich dafür wenig begeistern und ließ seine Blicke suchend über den Park schweifen. Nach kurzer Zeit, der Hund hatte sein schmutziges Geschäft inzwischen verrichtet, klopfte er mir auf die Schulter.
„Guck dir mal die Schnalle da drüben an.“, sagte er. Es ist sicher nicht nötig, extra zu erwähnen, daß sein Wortschatz nicht unwesentlich zu seiner Erfolglosigkeit beitrug.
„Was is mit der?“
„Na, die sieht doch obergeil aus, oder?“
„Die Blonde da? Ja, geht so...“, urteilte ich wage.
„Doch nicht die, du blinde Nuß! Ich meine die Brünette da hinten!“ Ich drehte meinen Kopf in die angegebene Richtung und mußte Paul recht geben. Auch wenn ich natürlich niemals ein Wort wie geil in den Mund nehmen würde, in diesem Augenblick lag es mir auf der Zunge. Eine genaue Beschreibung möchte ich mir an dieser Stelle sparen, aber die Frau sah tatsächlich umwerfend gut aus. Paul war nicht mehr zu halten, rannte enthusiastisch auf das Objekt seiner Begierde zu, sprach sie an und bekam eine schallende Ohrfeige. Ich glaubte sogar, den Aufprall ihrer Hand auf seiner Wange bis zu meinem Badehandtuch hören zu können.
„Scheiße, hat die einen Bums drauf.“, sagte Paul, als er mit geröteter Wange wieder zurückkam.
„Hast du etwa wieder den Spruch mit den Karnickeln gebracht?“
„Ich hab echt keine Ahnung, was die Weiber dagegen haben. Die Viecher sind doch niedlich... ach, scheiße Mann...“
„Soll ich es mal probieren?“
„Machst du ja eh nicht.“ Ich gehörte tatsächlich eher zu der schüchternen Sorte. Na gut, im Gegensatz zu Paul war jeder in dieser Beziehung schüchtern, aber auch sonst sprach ich selten Frauen an – dafür war ich dabei meistens erfolgreicher. Heute wollte ich es mal versuchen.
„Wetten, daß doch?“, sagte ich deshalb.
„Um eine Schachtel Kippen.“
„Du weißt genau, daß ich Nichtraucher bin.“
„Dann ein Sechserträger.“
„Gilt.“, sagte ich knapp und stand auf.
Ich könnte jetzt beschreiben, wie mein Puls schlug, als ich ihr langsam nähertrat, wie ihr Haar bezaubernd in Zeitlupe im Wind wehte, wie ihr Parfum die Luft mit sanftem Rosenduft schwängerte, nicht aufdringlich, sondern wohlig dezent und wie mein Herz stehenblieb, als sie sich plötzlich zu mir umdrehte und lächelte. Aber all das werde ich nicht tun, weil das wirklich ziemlich kitschig wäre.
Nun, genauso hatte es sich abgespielt. Es ist zwar selten, aber manchmal hält sich das Leben doch an die literarische Vorlage – Rosamunde Pilcher hätte ihre wahre Freude gehabt. Die Zeit blieb stehen, Sekunden wurden zu Stunden, Momente zu Jahren, Augenblicke zu einer Ewigkeit und dann brachte ihre sanfte Stimme auf einmal die Luft zum Klingen, bevor ich auch nur irgendwas tun konnte.
„Hallo. Ich bin Heike.“
„Was?“ Ich glaube, ich habe in diesem Moment ziemlich dumm aus der Wäsche geguckt.
„Heike. Ich habe gewußt, daß du kommen würdest.“
„Wa... warum?“, fragte ich. Und nach einer Weile: „Heike?“
„Du heißt Matthias, richtig?“
„Woher...“
„Ich bin eine Hexe.“, sagte sie knapp, womit sie die romantische Stimmung für eine Weile zerstörte. „Meine Kristallkugel hat mir verraten, daß du kommen würdest.“
„Ach komm... das glaub ich nicht.“
„Ich habe eine Warze auf der Nase und einen Besen.“ Tatsächlich hatte sie auf ihrer Nase einen kleinen Fleck, der bei näherer Betrachtung wohl als Warze durchgehen würde, allerdings ihrer Schönheit keinen Abbruch tat – eher im Gegenteil.
Sie drehte sich herum und bückte sich nach ihrem Besen, während ich einen hormonellen Kampf gegen mich selbst ausfocht, bei dem es darum ging, nicht dort hinzusehen, wo meine Augen in diesem Moment dringend hinsehen wollten. Ich verlor und gewann zugleich.
Naja, was soll ich noch groß sagen. Von diesem Tag an waren Heike und ich ein Paar. Wir trafen uns fast täglich unter dem alten Apfelbaum im Stadtpark und gingen erst wieder auseinander, wenn die Sonne sich bereits wieder träge über den Horizont quälte. Auf die Hexensache kamen wir nicht mehr zu sprechen. Immer, wenn ich dieses Thema anschneiden wollte, lenkte sie das Gespräch geschickt in eine andere Richtung. Wenige Jahre später heirateten wir. Kinder wollte sie nicht – Heike sagte immer, das würde sich nicht lohnen. Was sie damit meinte, sollte ich erst zwei Jahre später erkennen.
Heike starb im Sommer 2007. Sie hatte es vorausgeahnt und alle nötigen Vorkehrungen getroffen. Die Beerdigung war organisiert und sogar der Notarzt, der den Herzstillstand feststellte, war genau im richtigen Moment eingetroffen - meine Frau hatte ihn gerufen.
Niemand hatte damit rechnen können, bis auf Heike selber. Sie war vollkommen gesund gewesen und dann das. Ihr Testament war sehr kurz und knapp gehalten, sie hatte mir alles vermacht. Der Notar übergab mir einen Schlüssel und einen kleinen Umschlag.
„Wenn du das hier liest, bin ich schon nicht mehr da. Weißt du noch, damals, als ich dir sagte, ich wäre eine Hexe? Hexen können in die Zukunft sehen. Ich konnte dir nichts sagen – nein, ich durfte es nicht. Es hätte alles verändert. Der Notar wird dir einen Schlüssel geben. Er gehört zu meinem alten Haus.“
Es folgten eine Adresse und ein sehr persönlicher Abschied, der wirklich sehr privat war und daher nicht hierher gehört.
Das komischste an der Sache war die letzte Zeile. „Wir sehen uns in vierzig Jahren.“ Ich konnte damit zunächst nicht viel anfangen. Doch als ich ihr Haus betrat und die Dinge sah, die sie dort gelagert hatte, wußte ich, was sie mir damit sagen wollte – es war eine Prophezeiung. Überall lagen Zettel mit Heikes Handschrift. Auf ihnen standen Vorhersagen, ihr Schicksal betreffend. Sie hatte ihr ganzes Leben im Voraus aufgeschrieben. Alles bis ins kleinste Detail hatte sie gewußt, jede Minute war vorherbestimmt.
Auf dem Tisch lag, gut sichtbar und mit einem Apfel beschwert, eine Mappe mit meinem Namen.
Ich habe sie bis heute nicht geöffnet. Heute ist mein letzter Tag - der Tag, an dem ich Heike wiedersehen werde. Es ist warm, die Sonne scheint, doch unser alter Apfelbaum gibt mir Schatten. Ich will hier nicht breittreten, was ich die letzte vierzig Jahre gemacht habe. Wen es interessiert, der kann es vermutlich in der Mappe nachlesen.
Mit der Welt ist viel geschehen seitdem. Um mich herum tobt ein furchtbarer Krieg. Ich weiß nicht genau, wer gegen wen kämpft – niemand tut das so richtig. Klar ist nur, daß es sehr laut ist und von allen Seiten Kampfmaschinen auf mich zukommen. Ich pflücke mir einen Apfel vom Baum, beiße hinein und warte auf das Ende.