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Hehlerware Romantik

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Beitritt
19.05.2008
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491

Hehlerware Romantik

von M. Glass

Klassische Erkenntnis eines deutschen Jugendlichen: Zu einer romantischen Nacht gehören nicht nur kuschelige Plastikherzen oder euphorisierende Duftkerzen, sondern auch fundiertes Wissen in Aufklärung.
Also mache ich mich mit der Frage, wie es denn mit der romantischen Potenz unserer Gesellschaft steht, auf den Weg. Von einem überdurchschnittlichen Ottonormalverbraucher, der sich keineswegs klassisch zu kleiden weiß, möchte ich wissen, wie aufgeklärt er denn sei. Kurz weicht der kühle Blick von Coolness einer schamhaften Rötung, doch dann erwidert er mir, dass er durchaus informiert sei und wörtlich so eigentlich alles wisse.
Erstaunt und ein wenig neidisch muss ich ihm gestehen, wie sehr er mir schon voraus sei. Die Vorraussetzungen für einen romantischen Abend sind bei diesem halbwüchsigen Knaben folglich gegeben. Um des Pudels Kern jedoch zu enthüllen, frage ich an, wie es mit der Romantik aussehe, wo er doch so gut mit der Aufklärung vertraut sei. Er belächelt meine Frage und antwortet mir, dass Romantik schwul sei.
Für mich steht fest: Dieser unscheinbare Famulus, der den Begriff der Romantik derart versteht, die schwüle, ja nebulöse, geheimnisvolle Ader der Epoche erkennt und zudem noch ein Experte im Bereich der Aufklärung ist, sitzt zurecht Montag 9 Uhr morgens mit mir im Café.
Schließlich konfrontiere ich ihn noch mit der Frage, was er eigentlich von der Klassik halte. Seine Einstellung gegenüber ihr ist kurz und bündig: Nichts. Ob er so aussehe als ob, protestiert er und verweist auf seine Kleidung. Ich entgegne ihm, dass seine Kleidung durchaus hip sei, sie jedoch überaus hässlich auf mich wirke und ob er denn Faust kenne.
Daraufhin bekam ich eben diese zu spüren.

Leider musste ich als Literaturliebhaber feststellen, dass die Jugend den Begriff der Klassik völlig falsch interpretiert. Doch umso mehr erfreut es mich, dass sich die Jugend heute wie vor 300 Jahren immer noch für Romantik und Aufklärung begeistern kann.

 

Hallo Glass,

der Titel >Hehlerware Romantik< verspricht, dass etwas geschehe, also zur Geschichte werde. Aber bis auf ein essayistisch angehauchtes Interview und einem Faustschlag auf die handgreiflich missverstandene Frage, ob der Gesprächspartner denn Faust (I oder II?, da des Pudels Kern auftaucht, denk ich an I) kenne geschieht nix. Dennoch bleibt ein Geheimnis: was mag der Erzähler unter >Aufklärung< verstehen? Und so geht's dann auch der >schwul< seienden Romantik.

Wie dem auch sei: sprachlich gibt's nix zu mäkeln, aber ich fürchte, dass die Geschichte keine lange Halbwertszeit bei Hütern der Kurzgeschichte haben wird. Ich allerdings hatte derweil mein Vergnügen - endlich ein junger Ironiker!

Gruß

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Friedrichard,

ich stehe beschämt, denn ich muss zugeben, dass es sich hier mehr um eine Glosse als um eine Kurzgeschichte handelt. Das lustige aneinander Vorbeireden schien mir jedoch für eine Kurzgeschichte genug zu sein.

Es handelt sich nicht etwa um das Werk Faust I oder II, sondern viel mehr um die literarische Person als "klassisches" Bild eines Menschen, als Beispiel eines klassischen Menschen. Das Gegenüber des Ich-Erzählers soll einen Jugendlichen in Hip-Hop-Kleidung darstellen, der darüber hinaus einen sehr niedrigen IQ aufweist. Stupide, beeinflussbar und absolut von gesellschaftlichen Trends abhängig, unfähig sich eine eigene, kritische Meinung zu bilden, vor allem aber unwissend bezüglich der Deutschen Literatur und respektlos, wovon die aggressive Reaktion auf die "Faust-Frage" zeugt.

Der Jugendliche versteht unter Aufklärung die sexuelle Aufklärung, der Ich-Erzähler die literarische Epoche "Enlightment". Der Jugendliche versteht unter Klassik Anzüge, klassische Musik und assoziert damit öden, veralteten Schund, der Ich-Erzähler die literarische Epoche der formvollendeten Harmonie und Glanz und Perfektion. Der Jugendliche versteht unter Romantik Kerzenschein und die ruhige Ausübung tierischer Triebe, der Ich-Erzähler die geheimnisvolle progressive Universalpoesie.

Interessant ist doch, dass gerade drei bedeutende Epochen der deutschen Literatur (Aufklärung, Klassik, Romantik) einen derartigen Begriffswandel erfahren haben...

Über deine Kritik, Friedrichard, habe ich mich sehr gefreut. Sprachlich makellos zu arbeiten und dir Vergnügen zu bereiten, erfüllt mich mit Stolz.

Ich arbeite derzeit an einer Kurzgeschichte, die später auch hier in der Rubrik HUMOR landen wird. Mal sehen, ob ich dich dann auch noch überzeugen kann.

Vielen lieben Dank...

Gruß
M. Glass

 

>ich stehe beschämt<,

ach wo, Glass,

eher erfreut, dass die Halbwertszeit doch länger währt als zunächst gedacht.

Kann man natürlich machen, eine Figur, die sich seit Jahrhunderten und alle Stilepochen durch Literatur sich stiehlt zum klassischen Menschenbild zu erklären, selbst wenn wie beim Johann(es) Faust ein Rennaissance-Mensch reale Vorlage geben muss. Dabwi sollte man nicht vergessen, dass Faust i. d. R. durch den Vertrag mit dem Teufel seine Berühmtheit erlangt. Aber der Bedeutungswandel der Begriffe - fast immer eine "Verarmung" gegenüber der ursprünglichen Bedeutung - hat schon was teuflisches.

Bin neugierig aufs angekündigte Werk ...

Gruß

Friedel

 

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