Hausbesuch
Hausbesuch
Carl MacMillan war ein gebrochener Mann, seitdem seine Frau Sandra tot war. Er war schon alt und hatte in seiner langen Karriere als Arzt einige persönliche und berufliche Tiefschläge wegstecken müssen. Doch der Autounfall, der seiner Frau in einer kalten Dezembernacht vor einem Jahr das Genick und ihm das Rückgrad gebrochen hatte, hatte ihn schließlich zu dem Mann gemacht, der er heute war. Er wanderte durch ein langes, tiefes Tal der Niedergeschlagenheit, aus dem es für ihn kein Entkommen zu geben schien.
Das Schicksal schien ihm durch den Unfall ins Gesicht brüllen zu wollen, dass es sich am Ende eben doch nicht lohnte, ein Leben wie seines zu führen, ein Leben mit Aktienfonds, eigener Praxis und Weinkeller. Altersvorsorge? Der besoffene Siebzehnjährige, der mit zwei Promille im Blut in seinem Pickup von einem Konzert nach Hause fahren wollte und ihr eigenes Auto auf seinem Schlingerkurs frontal erwischte, hatte all das mit einem Schlag unnötig gemacht.
Seine eigenen Ideale, als Arzt nach besten Kräften Menschen zu helfen, und als gottesfürchtiger Mann ein aufrechtes Leben zu führen, erschienen ihm plötzlich wie grausame Scherze, die sich Mutter Erde an ihm erlaubte, denn was hatte es ihm letztendlich gebracht, dass er in dieser einen Nacht nach einem Anruf spontan dazu bereit gewesen war, im strömenden Regen zu einem Patienten heraus zu fahren, obwohl er und Sandra auf dem Weg ins Theater gewesen waren? Den Tod seiner Frau, sonst nichts, während der Unfallfahrer mit ein paar Knochenbrüchen überlebt hatte. Trotzdem hatte Carl es sich zur Aufgabe gemacht, sein Leben nicht aufzugeben. Er praktizierte weiterhin als Arzt und auch Auto fuhr er wieder.
Als Hausarzt machte er schon seit Jahren Hausbesuche und im November hatten sich scheinbar traditionell alle seine Patienten verabredet, gleichzeitig krank zu werden. So war es nicht ungewöhnlich, dass er um zehn Uhr abends noch zu Patienten herausfuhr.
Viele seiner Patienten wohnten ausserhalb der Stadt, da er selber sehr nah am Stadtrand wohnte und im Umkreis von 30 Meilen einen guten Ruf genoss. So musste er an diesem Abend noch nach Wackleshaw. Er war nach einer guten halben Stunde am Ziel.
Gerald James Edmonton war 38 Jahre alt und krank. Er hatte sich nicht nur eine Erkältung zugezogen, sondern klagte auch über stechende Schmerzen im Kopf und in der Brust. Er wohnte seit Jahren in Wackleshaw, und Carl kannte ihn gut. Er wusste, dass Gerald als Stadtplaner arbeitete, ein Alkoholproblem hatte und eine unglückliche Ehe führte, da seine Frau unfruchtbar war und Gerald sich im Leben nichts mehr als eigene Kinder gewünscht hatte. Seine Frau selbst war nach der Diagnose in eine tiefe Depression verfallen und hatte einige Wochen später sogar versucht, sich umzubringen. Er selbst war nicht ganz unbeteiligt daran gewesen, diesen Versuch zu vereiteln. Nie würde er diesen Tag vergessen, an dem Gerald ihn am Vormittag angerufen hatte und mit tränenerstickter Stimme erzählt hatte, wie er Carol leblos im Bett gefunden hatte, als er nach einer langen Nacht in der Stadt im Morgengrauen nach Hause gekommen war. Carl war sofort raus nach Wackleshaw gefahren und hatte Carol persönlich den Magen ausgepumpt. Der Notarzt traf zehn Minuten, nachdem sie aus ihrem Schlaftabletten-Koma erwacht war, ein.
Es roch nach Hühnersuppe, als Carl jetzt die altmodisch eingerichtete Wohnung betrat. Gerald hatte ihm in einem rot-weissen Morgenmantel die Tür geöffnet und ihn hereingewunken.
„Kommen Sie rein, Doktor. Ich bin so froh, dass Sie da sind. Ich hab das Gefühl, als müsste ich gleich sterben.“
„Na, na. So schlimm wird es wohl hoffentlich nicht sein.“
„Möchten Sie was trinken, Mister MacMillan? Whiskey? Grog?“
„Nein, danke. Muss nachher noch fahren. Ich werd‘ mir dann zuhause noch einen Schluck genehmigen.“ Carl stellte seinen Koffer ab, öffnete ihn und begann, sein Stethoskop und andere Utensilien herauszukramen.
„Aber bei der Kälte draussen gilt das nicht als Getränk, sondern als Medizin.“ Geralds Versuch, einen Witz zu machen verhallte ungehört.
„Nein, danke. Wirklich nicht.“
Carl setzte sich auf einen der Sessel, die vor dem Kamin standen und bedeute Gerald, sich zu ihm zu setzen. Gerald schenkte sich noch einen Drink ein, bevor er sich setzte.
„Erzählen sie mir von ihren Schmerzen.“
„Sie sind... sie treten plötzlich auf, im Kopf und in der Brust. Vor zehn Minuten habe ich wieder gedacht, es zerreist mich.“
„Sind das stechende Schmerzen an bestimmten Stellen oder mehr ein sich ausbreitender, diffuser Schmerz?“
„Nein, nein. Mehr stechend. Wie heisse Nadeln.“
„OK, Gerald. Ich gebe ihnen erstmal eine Spritze. Das müsste helfen. Morgen sollten sie aber auf jeden Fall in die Klinik fahren und sich röntgen lassen.“
„Naja, wenn sie meinen.“
„Sicher ist sicher. Aber ich denke nicht, dass es was gravierendes ist. Wahrscheinlich ist ihnen mit der Spritze schon geholfen.“
„Ich vertraue ihnen da voll und ganz, Doktor.“
„War das wirklich alles, weswegen sie mich gerufen haben, Gerald?
„Naja, es...“
„Wie geht es ihrer Frau, Gerald?“
Gerald schien leicht zu erschrecken. Er wechselte seinen entgeisterten Gesichtsausdruck jedoch schnell gegen einen aus, der offenbar Zufriedenheit vorspiegeln sollte – ohne Erfolg..
„Es geht ihr – nicht gut.“
Gerald wandte sich von Carl ab und brach in Tränen aus, er schluchzte unkontrolliert und laut wie ein Mann, der schon seit Jahren nicht mehr geweint hatte. Carl sah ihn einige Sekunden lang sprachlos an. Er wusste, dass er nichts hätte sagen können, was die Situation irgendwie zum Guten hätte wenden können. Nachdem Gerald mehrere Minuten lang nur geweint hatte, mischten sich Worte in seine Schluchzlaute.
„Sie wird mir das – nie verzeihen – nie. Dafür ist – dafür gibt es keine Entschuldigung. Sie ist am Ende, ein kaputter Mensch, sie wird das nie verwinden.“
Er schaute Carl ins Gesicht, fragend, wartend. Als Carl ihn weiterhin ohne jede Regung anschaute, sagte er sehr ruhig:
„Ich habe sie betrogen, Carl.“
Carl sagte nichts. Als die Stille zwischen beiden unerträglich wurde, rang er sich doch dazu durch, etwas zu sagen.
„Weiss sie es?“
Gerald schüttelte den Kopf, bevor er ihn wieder in seinen Händen vergrub. Er schluchzte noch ein paar mal, dann schaute er zu Carl und sagte ruhig:
„Sie hat sich letzte Woche – umgebracht. Ich hatte es ihr am Abend vorher gesagt. Als ich am Freitag von der Arbeit nach Hause kam, fand ich sie unter dem Dachstuhl. Sie hat sich aufgehängt, Carl.“
Nachdem Carl ihn lange und nachdenklich betrachtet hatte, holte er eine Spritze und ein Medikament aus seinem Koffer. Er öffnete das Fläschchen und zog die Spritze auf. Gerald hatte das Geräusch gehört und blickte auf.
„Was ist das?“
„Metatostakin, vierfach konzentriert.“
„Wenn sie meinen, das hilft.“
„Zumindest gegen ihre Schmerzen in der Brust, Gerald.“
„Muss ich – jetzt meinen Hintern entblößen, Doktor?“
Carl lachte sanft.
„Nein, nicht nötig. Ich setze ihnen die Spritze in den Unterarm.“
Gerald krempelte einen Ärmel seines Morgenmantels hoch und hielt ihm seinen Arm hin. Carl lächelte Gerald an, während er das Metatostakin injizierte. Er sagte ihm nicht, dass Metatostakin zwar schmerzstillend, aber bereits in leichter Überdosierung tödlich wirkt. Er sagte ihm auch nicht, es vierfach konzentriertes auf jeden Fall lethal wirkte, egal in welcher Dosierung.
So legte sich Gerald Edmonton entspannt ins Bett, nachdem Carl gegangen war. Er schlief in dem festen Glauben ein, am nächsten Morgen ohne Schmerzen wieder zu erwachen, und ahnte nicht, dass er soeben die letzten Augenblicke seines Lebens verbrachte. Der Gerichtsmediziner rekonstruierte später, dass Gerald, etwa zwei Stunden nachdem er eingeschlafen war, noch einmal kurz durch die heftigen Krämpfe erwacht war. Speichel war ihm aus dem Mund geronnen, und er hatte seine Hände tief in seine Matratze gegraben, so als ob er mit letzter Kraft noch versucht hatte, sich am Leben festzukrallen. Gerald Edmonton war mit weit aufgerissenen, schmerzvoll blickenden Augen gestorben.
Carl saß in seinem Wagen und parkte auf einem einsamen Parkplatz an der Landstraße in Richtung London. Er ließ die vergangene Woche vor seinem inneren Auge Revue passieren: Gerald Edmonton, 38 Jahre alt, hatte sterben müssen, weil er seine Frau in den Selbstmord getrieben hatte, Albert Hayden, 62 Jahre alt, war gestorben, weil er seine Frau seit Jahren betrog und sie regelmäßig verprügelte, wenn sie sich darüber beschwerte, Cameron Spud, 19 Jahre alt, war gestorben, weil er auf sämtlichen Schulhöfen seines Heimatortes mit Drogen handelte, Jonathan Miller-Gatsby, 32 Jahre alt, hatte sein Leben dadurch verwirkt, dass er, wie das ganze Dorf in dem er lebte, wusste, seine achtjährige Tochter regelmäßig vergewaltigte, Sheryl MacLachlyn, 26 Jahre alt, war gestorben, weil sie ihr ungeborenes Kind abgetrieben hatte.
Er fühlte sich gut als der Racheengel, zu dem er sich selbst ernannt hatte. Ein wenig zu gut, wie ihm selbst bewusst war. Alle seine Opfer hatten seiner Ansicht nach den Tod verdient. Aber wo war der Haken? Irgendwo musste der Grund liegen, warum es im Grunde doch falsch war, was er tat. Denn darüber machte er sich keine Illusionen. Es war nicht richtig, aber es war das einzige, was er für sich selbst tun konnte, um nicht endgültig dem Wahnsinn zu verfallen.
Er war sich sicher, dass man ihn nach relativ kurzer Zeit schnappen und verurteilen würde. Er hatte keine Angst vor der Polizei oder dem Gefängnis. Im Gegenteil. Die Zeitungen würden sich nach seiner Festnahme vor Empörung überschlagen – der Arzt, der seine Patienten umbringt, das war in der Tat unfassbar. Unter den Millionen von Leuten, die aus lauter Langeweile in die Empörung mit einstimmten und möglicherweise sogar mit Pflastersteinen nach seinem Haus werfen würden, würde vielleicht eine Handvoll in der Lage sein, ihn zu verstehen. Es würde ihm reichen. Glücklicherweise war die Todesstrafe in England abgeschafft, denn sterben, dass war etwas, wovor er wirklich Angst hatte.
Seine Patienten vertrauten ihm ihre Schwächen, ihre Verfehlungen und ihre Sünden an. Irgendwie erschien Carl das nur natürlich und logisch, denn wie könnte ein Arzt einen Patienten heilen, wenn er nur der physischen, nicht aber der psychischen Gesundheit Beachtung schenken? Er verstand zwar nicht viel von Psychologie, war aber als Hausarzt erfahren genug, um nebenher ohne Probleme als Seelsorger fungieren zu können.
Die Leute riefen ihn, weil sie sich nicht nur Heilung für ihre Körper, sondern auch für ihre Seelen erhofften.
Und er würde sich um ihre Seelen kümmern.