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Haus am Meer
Sommer.
Jaromirs Rückenmuskulatur spannt sich. Wieder und wieder.
Wir können es von unserer Position aus genau erkennen. Es ist brütend heiß – obwohl sich der Abend bereits drückend über die Wälder und Wiesen längs der Autobahn gelegt hat.
Es ist heiß und wir sehen die Schweißtropfen auf seinem Rücken; sie umlaufen die Konturen der Muskeln, treffen sich an markanten Punkten, an einigen der vielen Leberflecken auf der Haut. Sie scheinen sich abzusprechen, den gemeinsamen Weg zu planen und fließen weiter.
Wir schweben schwerelos über der kleinen Rückbank des Fords und wenden den Blick für einen Moment von dem faszinierenden Spiel der menschlichen Flüssigkeiten ab. Was für ein Ausblick aus dem linken Fenster.
Der tiefrote Ball der Abendsonne hängt schwerfällig über dem Horizont. Zwischen den Baumreihen des fernen Hains wirkt diese Masse immens groß - als wären die dünnen Striche der Baumstämme in das Rot hineingebrannt.
Jaromir hat sein T-Shirt schon vor einigen hundert Kilometern ausgezogen; unter der unglaublichen Hitze, die dieses Jahr das Land verbrennt, war das verständlich. Wir hätten nicht anders gehandelt, könnten wir die Qualen der Hitze in dem kleinen Dreitürer spüren. Die Luft, die durch das geöffnete Fenster strömt, hat den ganzen Nachmittag über keine Kühlung gebracht.
Jaromir hat die Fenster auf beiden Seiten bis zum Anschlag herunter gekurbelt und er versucht, den Moment abzupassen, in dem die Temperatur tatsächlich unter die des Wageninneren sinkt.
Aber es ist weiterhin zu heiß und wir werden den Weg der Schweißperlen noch einige Zeit beobachten können.
Das Spiel seiner Muskeln scheint uns etwas ... nun, erzwungen zu sein. Jaromir ist nicht der Typ, der sich, sobald er einige Zeit alleine unterwegs ist, an seiner eigenen Körperlichkeit aufgeilen kann. Niemand, der des öfteren die markanten Linien seines Gesichtes im Rückspiegel mit dem Blick verfolgt. Nein, das ist er wahrlich nicht. Seit einiger Zeit ist er mehr ein Mensch des Kopfes – obwohl er sich seiner körperlichen Vorzüge durchaus nicht zu schämen braucht. Dass er regelmäßig sportlich aktiv ist, erkennen wir nicht nur an seiner Rückenmuskulatur; von den Schultern, auf denen die lockigen, schwarzen Haare verschwitzte Spuren hinterlassen, über die Arme bis hin zu den Händen ist sein gesamter Oberkörper nicht bepackt, sondern vielmehr durchzogen von harten Muskelsträngen. Muskeln eines Ausdauersportlers.
Doch über seine sportlichen Aktivitäten hat Jaromir bis zu diesem Moment noch nicht nachgedacht, deswegen können wir über deren Art nur Vermutungen anstellen.
In genau diesem Moment hat sich sein Geist sogar von dem großen Problem, mit dem er beschäftigt ist, seit er den Schlüssel heute morgen im Zündschloss gedreht hat, gelöst und er konzentriert seinen Blick auf den roten Ball am westlichen Horizont.
So wird es eines Tages aussehen, wenn der letzte Tag sich seinem Ende nähert.
Das wird es vielleicht, aber so weit sind wir noch nicht. Obwohl es vielleicht heute oder morgen so weit kommen könnte. Zumindest für Jaromir. Zumindest für die Weise, in der er die Welt betrachtet.
Er steht an einer Gabelung.
Im Prinzip sind wir dem Ende des Geschehens schon nahe – aber wir sollten vielleicht einen Blick zurück werfen, um zu verstehen, was Jaromir dazu veranlasst hat, heute morgen in den Wagen zu steigen und die weite Fahrt zur Küste zu unternehmen.
Er konzentriert sich wieder auf die Straße, die ihn
viel zu schnell, viel zu schnell
seinem Ziel entgegenbringt. Wir verlassen ihn für den Moment und gehen zurück.
Frühling.
Es war Frühling, Mitte März, um genau zu sein. Es war ein wunderschöner, ein warmer Abend und der Sommer versprach, heiß zu werden.
Inmitten seiner Freunde verließ Jaromir das Sportcenter. Das Match heute Abend hatte wirklich gut getan und er spürte in sich die angenehme Erschöpfung seiner Muskeln, die in den letzen Monaten erheblich an Kraft gewonnen hatten. Ein knapper Punktsieg zwar, aber waren nicht gerade das die Spiele, die er am meisten liebte? Spiele, in denen Sekunden über den Sieg entschieden, weil beide Teams an sich gleichwertig waren? Er spürte den Asphalt unter seinen nackten Füßen; dieser war noch immer warm, obwohl die Sonne bereits hinter den Häuserwänden untergetaucht war. Nach dem Spiel gab es tatsächlich nur wenig Besseres, als das Gefühl, über die von der so früh wärmenden Sonne gezeichnete Straße zu gehen – wenn man gewonnen hatte.
Beinahe einmalig, immer wieder.
Er tauchte aus seinen Gedanken auf, als seine Freunde lauthals einem der vielen hübschen Mädchen der Kleinstadt hinterher pfiffen.
Er sah ihr nach, bis sie hinter einer der Hecken verschwand, welche die autoleere Straße säumten.
Sie war schön. Sie hatte genau das, was Jaromir an Frauen liebte. Und in dem Moment, bevor sie hinter den Büschen verschwand, erinnerte sie ihn flüchtig an das Mädchen, das er vor knapp drei Monaten oben im Norden verlassen hatte.
Sommer.
Noch immer hängt die Sonne zwischen den Bäumen des lichten Waldes zur Linken. Noch immer ist es erdrückend heiß. Und weiterhin läuft der Schweiß an Jaromirs Rücken herab.
Als das letzte Straßenschild an uns vorbeirauschte, haben uns seine Gedanken verraten, dass es nicht mehr weit ist. Seit jenem Schild spannen sich seine Muskeln mehr denn je und zusammen mit den Schweißperlen wird dieses Spiel mit jedem Kilometer schöner. Die Sonne sendet ihre letzten Strahlen zu uns in das Innere des Fords; in ihrem Licht leuchten die ansonsten blassen Tropfen golden auf und kleine Schattenfurchen mischen sich unter die Nässe. Ein menschlicher Körper kann wahrhaftige Schönheit bergen; ein seltsamer, ein sehnsüchtiger Gedanke für uns, die wir weder Vor- noch Nachteile dieses Gefühls kennen.
Doch seine Gedanken machen uns Sorgen. Sie sind weiterhin nicht erfüllt von der Anmut, die wir wahrnehmen und darum ändern wir unsere Position und schweben langsam nach vorne, um uns dort niederzulassen, wo ein Beifahrer sitzen würde. Von hier aus können wir aus nächster Nähe beobachten, wie seine Fingerknöchel weiß hervortreten, während er zu viel Kraft aufwendet, um das Lenkrad zu halten. Auch haben wir jetzt die Muße, seine Gesichtszüge zu betrachten und kurz schweben wir direkt vor seinem Gesicht. Es ist nicht zu übersehen, dass er seine Kieferknochen mit zu viel Energie aufeinanderpresst. Seine Augen, die ansonsten mit stolzer Schönheit aus dem kantigen Gesicht schauen, haben einen Schleier über sich, den wir uns nicht recht erklären können. Natürlich wissen wir noch nicht, was vorgefallen ist – doch der Schleier kommt uns sehr gefährlich vor. Er sieht beinahe so aus, als überdecke er das, was in einem jeden Menschen an wie auch immer gearteter Hoffnung schlummert. Als würde diese Hoffnung mit jedem gefahrenen Kilometer schwinden und ihre Wurzelkraft an Energie und Halt verlieren. Schnell konzentrieren wir uns wieder auf seine Erinnerungen. Denn wären wir tatsächliche Beifahrer, wir hätten Angst, an unser Ziel zu kommen – wie auch immer es aussehen mag. Wir wollen es zumindest verstehen.
Frühling.
Das Mädchen war hinter der Hecke verschwunden. Geblieben war nur ein fader Beigeschmack. Jaromir ging weiter im Geleit seiner Freunde und dachte an den vergangenen Herbst.
Im letzten Jahr.
Es war ein grauer Morgen gewesen. Alle Blätter fielen von den Bäumen und bedeckten den in den vorigen Monaten noch warmen Asphalt. Es war kalt und ganz entgegen der Romantik eines goldenen Oktobers war es eine sehr verregnete Zeit gewesen.
Jaromir hatte in dieser Zeit nur wenige Besuche im Sportcenter verzeichnen können. Mangel an Energie; es fehlte die Wärme des Sommers und das machte ihm mehr zu schaffen, als er erwartet hatte.
Dann hatte er Mairin getroffen.
Vor der Stadt, inmitten eines abgeernteten Maisfeldes hatte sie dagestanden, in einer seltsamen Geste, die Arme ausgebreitet, das Gesicht zum Boden gewendet. Der Nieselregen war auf ihr schwarzes Haar gefallen und Jaromir war in seinem Morgenlauf stehen geblieben, um sie anzusehen.
Sie hatte schon schon länger so dastehen müssen, denn ihr Haar und ihre Kleidung waren durchnässt. Für Jaromir war der Anblick zuerst beunruhigend, das Bild wirkte beinahe endgültig, apokalyptisch. Um sie herum hatten sich die nutzlos gewordenen Pflanzen auf dem weiten Feld geduckt, hinter ihr erhob sich eine graue Masse schwerer Regenwolken, die weder kam, noch ging. Die Wolken hingen seit einigen Tagen über der Stadt, als hätte man oben beschlossen, dieses häßliche Stück Urbanität von der Erde zu waschen.
Jaromir trabte leicht auf der Stelle – eine Angewohnheit, die in den Jahren zu einem Automatismus geworden war. In Bewegung bleiben, zumindest im Sport. In sich wog er ab, ob er zu ihr gehen oder seines Weges laufen sollte, so wie es in der heutigen Zeit fast jeder machen würde. Ein weiteres Mitbringsel, das die Urbanität, die Anonymität der Gesellschaft gebracht hatte.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn das Mädchen sah auf und erfasste ihn mit ihrem Blick.
„Hey!“, rief sie und winkte ihm zu.
Er grüßte zurück und ging auf sie zu. Durch seine leichten Laufschuhe spürte er, wie der durchweichte Boden unter ihm nachgab. Sie ließ die Arme sinken und erwartete ihn mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
„Läufer, reiche er mir die Fackel.“
Er sah sie verständnislos an und sie lachte.
„Bei diesem Wetter rennst du hier draußen rum. Irgendeinen Grund muss das schon haben. Und da fielen mir die olympischen Fackelläufer ein.“
Jaromir nickte und überreichte ihr mit einem Grinsen eine imaginäre Fackel. Schon mit dem ersten Satz hatte ihr Wesen ihn eingefangen.
„Hier. Lauf los, sie alle warten auf dich.“
Mit einer bezaubernd anmutigen Geste tat sie so, als nehme sie ihm etwas aus seiner Hand. Er lächelte sie an. So durchnässt sah sie wirklich einmalig aus und kurz nahmen seine Triebe überhand und verzerrte Teilbilder einer innigen Vereinigung sprangen vor seinem geistigen Auge auf und ab. Der Traum, das Problem, mit dem er kämpfte.
Das Feld. Der Dreck. Der Regen.
Zu diesem Zeitpunkt, mit achtzehn Jahren hatte Jaromir noch nie mit einem Mädchen geschlafen. Natürlich hatte er seine Gedanken und Vorstellungen. Sie waren von den verschwommenen, rosafarbenen Träumen der Pubertät langsam zu einem inneren Druck geworden, dem er sich mit jedem Tag mehr ausgesetzt fühlte. Es gab einige Exfreundinnen, mit denen der es probiert hatte, aber – ganz entgegen dem Bild, das seine Sportlichkeit bot – hatte er im entscheidenen Moment immer den entscheidenen Durchhänger gehabt, der seine Vorstellung von sich selbst stets etwas mehr untergrub und das Ende der Beziehung zur Folge gehabt hatte. Ein hartes Los. Ein guter Grund, sich hinter seiner Sportlichkeit zu verstecken. Innerlich schüttelte er sich.
Wieder zurück aufs Spielfeld, Junge!
Im nächsten Moment hielt sie die ‚Fackel’ mit der Spitze unter ihren Fuß und drehte ihn mehrere Male energisch.
„Scheißegal, ob sie warten. Das Ding kommt nie an. Ist leider gerade ausgegangen.“
Jarmomir fürchtete kurz den Augenblick, in dem keiner etwas sagen würde. Aber so weit kam es nicht.
Sie vollzog die letzten zwei Schritte, die sie trennten und legte ihre Arme sanft um seine Hüften. Dann drückte sie ihre Lippen fest auf seine und Jaromir fand sich inmitten des Feldes in seinem Traum aus Regen und Dreck wieder und es war auf eine ganz andere Art um so vieles besser, als er es sich jemals des Nachts in seinem Bett vorgestellt hatte.
Dass sie Mairin hieß und aus der stadtnahen Anstalt ausgebrochen war, erfuhr er erst später. Auch, dass sie - ganz entgegen ihrer eigentlichen Art - ihm heute folgen und ihn bis zum Abend in seinem Zimmer beobachten würde, wusste er nicht. Aber in diesem Moment hätte sicherlich auch das keine Rolle gespielt.
Sommer.
Die Sonne hat sich zurückgezogen und über den Himmel zieht sich ein purpurner Schleier, der zum Osten hin langsam in einen dunkleren Hintergrund übergeht; schwach zeigen sich die ersten Sterne.
Für Jaromirs Gedanken ist das eine wohltuende Ablenkung und so lenkt er seinen Blick, wann immer er ihn von dem eigentlich geraden Betonpfad nehmen kann, auf das schöne Schauspiel. Wir spüren, dass es ihm guttut und fühlen uns auch besser. Bildlich gesprochen sitzen wir immerhin im selben Boot.
Während er an seine erste Begegnung mit Mairin denkt, hat er die Geschwindigkeit etwas gemindert und gleichzeitig – natürlich ungewollt – ist das Blut nach unten in Jaromirs sensiblen Bereich gewandert. Zumindest können wir uns entfernt vorstellen, welchen Genuß allein schon der rauhe Stoff der Jeans beschert, wenn er sanft an der Eichel entlang reibt. Jaromir hingegen genießt diesen Moment rein körperlich ganz ungeniert. In der Erinnerung an das erste Mal schwebt stets etwas von Macht, von Mannwerdung und somit gibt das sanfte Reiben an der Jeans zumindest das Gefühl, alles etwas besser unter Kontrolle zu haben – besser, als es tatsächlich der Fall ist.
Dass dem nicht so ist, wird uns allen spätestens klar, als wir an einem Schild vorbeifahren, auf dem steht, dass die nächste Ausfahrt die ist, welche wir nehmen müssen. Unsicherheit nimmt die Fackel an sich und – es passt perfekt –Jaromir verreißt das Steuer und lenkt hastig wieder entgegen. Er bleibt noch bei seiner Geschwindigkeit, aber die Erektion verschwindet und seine Gedanken befassen sich wieder mit dem, was kommen mag.
Es ist inzwischen tatsächlich kühler geworden. Der junge Mann nimmt die linke Hand vom Steuer und kurbelt das Fenster der Fahrertür hoch. Dann beugt er sich zu uns herüber und vollzieht die gleiche Aktion mit dem Beifahrerfenster. Wir schweben noch rechtzeitig genug hoch, so, dass sich sein Arm unter uns bewegt. Natürlich wissen wir, dass er uns nicht fassen kann, aber Menschen – sogar in ihrer heutigen urbanen Abgestumpftheit – können immer noch fühlen. Und in dieser ganzen Geschichte sind wir nur Zuschauer. Wir sind interessiert und neugierig, möchten wissen, was heute wohl passieren mag, sind gespannt, welche Entwicklung Jaromirs durchaus nicht uninteressanter Charakter macht – aber das hier ist nun einmal eine Sache, die nur ihn und Mairin etwas angeht. Denn obwohl wir es nicht wissen, so können wir doch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er zu ihr fährt.
Während er seinem Arm zurück zieht und die Hand wieder auf das Lenkrad legt, beobachten wir noch einmal seine Muskeln. Inzwischen ist uns klar, warum er soviel Energie in den Sport gelegt hat. Aber warum hat er nach dem Geschehen in dem abgeernteten Maisfeld nicht alles etwas lockerer angehen lassen? Der Abend nach dem Spiel im März scheint nur einer von den vielen gewesen zu sein, an denen er inmitten seiner Freunde von einem Spiel nach Hause ging. Sport ist seine Festung, sein Burgfried. Immer noch.
Versuchen wir, tiefer in seine Erinnerungen einzutauchen. Ein weiterer Vorteil unsererseits – Menschen bemerken es nicht, wenn wir in ihren Gedanken fischen, schmarotzend alles herausfiltern, was uns Kurzweil beschert.
In unserem dreitürigen Ford nehmen wir die Abfahrt.
Frühling.
Jaromir verabschiedete sich von seinen Freunden und ging nach Hause.
Heute abend würde nichts mehr gehen. Den Sieg würden sie ein anderes Mal feiern, denn morgen stand eine der letzten Klausuren an, welche die Vornote für das Abitur festlegen würden; dementsprechend gab es heute noch genug zu tun.
Als er an seinem Schreibtisch saß und versuchte, sich auf den Lernstoff zu konzentrieren, drifteten seine Gedanken immer wieder ab und suchten Mairin. Das Mädchen, dem sie hinterher gesehen hatten, hatte die Erinnerungen wieder aufgefrischt und während er zurückschaute, malte er sinnlose Formen auf den Schreibblock.
Im letzten Jahr.
Nach dem traumhaften Erlebnis im Maisfeld war Mairin schnell gegangen und hatte ihm noch versichert, dass sie sich bald wiedersehen würden.
Wie gesagt, er hatte nicht gewusst, dass sie eine der Patientinnen war, die oben auf dem Berg behandelt wurden. Jaromir hatte nicht gewusst, was das für eine Einrichtung war; selten hatten sie in ihrem Freundeskreis darüber gesprochen, denn man sah so gut wie nie etwas von diesen ‚Leuten’. Ab und zu kam eine Gruppe herunter in die Stadt und besuchte ein Eiscafé. Aber bis jetzt war es nie vorgekommen, dass Jaromir zur gleichen Zeit Appetit auf ein Eis verspürt hatte.
Er hatte auch nicht gewusst, dass Mairin sich, kurz nachdem sie gegangen war, von den ausgeschickten Pflegern hatte einfangen lassen, da sie das bekommen hatte, nachdem sie gesucht hatte und wieder Sehnsucht nach bekannter Umgebung verspürte. Und er hatte nicht erfahren, dass sie sich zwei Tage später mit den Splittern einer von ihr zerbrochenen Scheibe die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Natürlich nicht in der T-Form, lediglich quer zur Hauptschlagader.
Jaromir hingegen hatte sich die kommenden zwei Wochen über großartig gefühlt. Der Druck der Jungfernschaft war verschwunden – und dann noch auf eine Weise, von der viele Männer sicher nur träumten. Er spielte so gut wie nie, warf sicher doppelt so viele Tore im Handball, legte perfekte Körbe im Basketball vor, schlief wie ein Baby – es war einfach eine tolle Zeit.
Nachdem einige Zeit vergangen war, war in ihm die Sehnsucht nach der Frau erwacht, der er diese Tatsachen verdankte. Sie war im Großen und Ganzen die große Unbekannte. Er hatte sie natürlich nie in der Stadt gesehen. Der Gedanke, eine einmalige Sache erlebt zu haben, hatte sicher seinen Reiz, nur konnte er sich nicht damit begnügen und sich einfach eine andere suchen. Ihr Lächeln, ihre Energie, beides hatte sich in seinen Kopf gebrannt und immer, wenn er einschlief, war ihre Silhouette, die ausgebreiteten Arme, die nassen Haare, das letzte, was vor seinem inneren Auge verblasste. Mit den verstreichenden Tagen steigerte sich dieses Gefühl zu einem neuem Druck, zu einem Zwang. Er wollte sie wiedersehen. Und er hegte noch tiefere Gefühle in sich: obwohl er sie eigentlich überhaupt nicht kannte, wuchs in ihm der Wunsch, ständig mit ihr zusammen zu sein; mit ihr irgendwo, weit weg von der bekannten Umgebung zu leben. Etwas aufzubauen, das noch mehr nur ihnen gehörte, als der Morgen unter dem verregneten Himmel im Maisfeld.
In gewisser Weise lernte er sich durch Mairin selbst kennen; das war sein Gefühl. Was auch immer passieren mochte, diese Frau war sein Leben, denn sie hatte es ihm gegeben.
Sommer.
Wir haben die Autobahn längst verlassen und fahren über eine recht einsame Landstraße. Um uns herum Wald. Jaromir hat sich sein T-Shirt wieder angezogen und er wird mit jedem Kilometer angespannter. Vor einigen Minuten hat er das Radio angestellt, aber außer den ermüdenden Charts lief nichts, was er (und wir) hören mögen. Eben hat er es abgedreht und wir sind glücklich darüber. Schnell wenden wir uns wieder seinen Erinnerungen zu. Es ist spannend. Was mag passiert sein?
Frühling.
Im Schein der untergehenden Märzsonne malte sein Stift weiterhin Muster auf seinen Block. Vergessen waren die nahen Klausuren. Jaromir erinnerte sich daran, wie sie wieder zu ihm gekommen war.
Im letzten Jahr.
Als sie eines Abends gegen sein Fenster geklopft hatte, saß er an seinem Schreibtisch; das Abitur war zwar noch nicht nahe, trotzdessen versuchte er, seine chaotischen Aufzeichnungen des laufenden Schuljahres zu ordnen.
Seit ihrem letzten Treffen waren mehrere Wochen vergangen und ein rauher Herbstwind fuhr durch die Bäume auf dem Grundstück seiner Eltern. Die Äste wurden mit jedem Windstoß ein Stück kahler.
Bei dem ersten hastigen Klopfen erschrak er und wandte seinen Kopf abrupt in ihre Richtung. Die Wolken am Horizont waren schwer und dunkel. Die Welt war in einem dunklen Grau gefangen, das mit jeder Minute etwas mehr Leben verschlang. Alles bereitete sich auf den Winterschlaf vor.
Ihr Blick war gehetzt. Ihre Bewegungen hastig. Sie forderte ihn auf, sein Fenster zu öffnen.
„Was tust du denn hier?“
„Lass mich rein.“
Er ging einen Schritt zurück und sie kletterte behende an der Fensterbank empor und schwang sich in sein Zimmer. Ihre Haare waren wieder nass, wieder hatte es geregnet. Jaromir fühlte sich kurz wieder in das Maisfeld versetzt und auch sein Körper reagierte auf die Erinnerung.
Mit einer Kopfbewegung warf sie ihr Haar nach hinten und kam auf ihn zu.
„Hör zu, du musst mit mir mitkommen.“
Er war verwirrt und wühlte mit einer Hand durch seine Haare.
„Mitkommen?“
„Ich habe eine Ferienwohnung oben an der Küste. Abseits und allein.
Ich will hin, aber nur mit dir.“ Sie fasste ihn bei der Hand.
„Warte mal. Ich kann nicht einfach gehen. Meine Eltern, die Schule ... all das eben. Ich ... ich weiß noch nicht einmal deinen Namen.“ Über eben diesen hatte er in letzter Zeit oft nachgedacht.
Sie sah ihn an und lächelte. Ihre Augen leuchteten, ihre Arme begleiteten mit einer ganz einfachen Geste, einer sanften Bewegung ihre Worte: „Ich bin Mairin.“
Es war absurd. Noch nicht einmal ihr einmalige Name war es, der ihn sicher werden ließ, alles mit ihr zu unternehmen, was sie auch vorhatte.
Es war ihre Art, diese unmöglich unschuldige, mächtige und erdrückende Art, ihm ihren Namen zu nennen. In diesem Moment, da das Licht der Schreibtischlampe die Tropfen aufleuchten ließ, die auf ihre Schultern fielen, da ihre rechte Hand in einer vollkommen eigenen Geste leicht über ihren linken Unterarm strich, in diesem Moment wäre er ihr auch gefolgt, hätte sie ihm gesagt, dass sie auf dem Weg wäre, Gott von seinem Thron zu vertreiben, um diesen einzunehmen.
Er wandte seinen Blick von ihr und bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Herbstferien waren nicht mehr weit, er würde bis dahin maximal vier Tage Unterricht verpassen. Es stand kein Spiel an, einzig seinen Eltern müsste er eine Nachricht hinterlassen. Die beiden waren mit Bekannten unterwegs und das war sicher auch gut so, denn so würde ein Zettel reichen.
„Okay, lass’ mich eben eine Nachricht für meine Eltern schreiben, ich ...“
„Nein!“, rief Mairin. „Sag’ nicht, wohin du willst.“
„Wieso? Was hat du denn deinen Eltern gesagt?“ Und im nächsten Moment kam er sich dämlich vor. Natürlich hatte sie keinen, dem sie Bescheid geben musste. Konnte keinen haben. Kurz fragte er sich, woher sie kommen mochte. Er schüttelte den Kopf. „Okay, ich schreibe es so, dass sie nicht wissen, wohin wir gehen.“
Sie nickte und ihm tat das Vertrauen gut, das sie damit bekundete.
Während Mairin sich an seinem Schrank zu schaffen machte und einige Sachen auf sein Bett warf, schrieb er einen kurzen Brief. Macht euch keine Sorgen, ich bin mit jemanden unterwegs, der mir etwas bedeutet und so weiter. Jaromir hoffte, dass er so zumindest seinen Vater für die ersten Tage auf seine Seite ziehen konnte; mehrmals schon hatte dieser die ‚wilden’ Geschichten seiner Jugend auf den Tisch gebracht – folge Deinem Gefühl, lebe dein Leben. So würde er es jetzt tun. Mit Mairin gehen, denn seine Gefühle und auch die Erinnerung an den Tag im Maisfeld rieten ihm dazu.
Und so waren Jaromir und Mairin in dem Zweitwagen seiner Familie, einem dreitürigen Ford, durch die regnerische Herbstnacht gen Küste unterwegs gewesen.
Sommer.
Die Nacht hat den Tag vollends verdrängt. Es ist nicht eine der Nächte, in der Jaromir und Mairin über die regennasse Autobahn gefahren sind. Es ist eine schöne Augustnacht. Die Sterne leuchten in ihrer Vielfalt über uns, der Himmel ist in ein tiefdunkles Blau getaucht. Um uns herum scheinen die vielförmigen Blätter im vollen Schein des Mondes – in einfachen Worten: Es ist wunderschön.
Uns aber beherrscht ein ungutes Gefühl, das die Atmosphäre des Wageninneren drückt. Jaromir sitzt verkrampft hinter seinem Lenkrad. Wir fühlen, dass er sehr unsicher ist. Dass er mit sich hadert, nicht weiß, ob er mit dem zurecht kommt, was er aus seiner Sicht selbst verursacht hat. Es gibt zuviel zu bedenken, zu viele Dinge, die er nicht abschätzen kann. Zu viele Unbekannte.
Der Wald um uns weicht zurück und wir schweben wieder zurück auf die hintere Sitzbank. Zumindest sind wir so etwas weiter von der Quelle dieser unangenehmen Gefühle entfernt - physisch in jedem Fall. Jaromirs’ Gedankengänge, die wir inzwischen mit weitaus weniger Enthusiasmus erforschen – sie machen uns Angst – erreichen uns hier natürlich weiterhin. Aber hier müssen wir nicht in sein verzerrtes Gesicht blicken.
Der zurückweichende Wald macht Platz für eine kleine Ortschaft. Sie hat nicht mehr und nicht weniger, als jede Ortschaft dieser Größe. Aus Jaromirs’ Erinnerungen können wir entnehmen, dass es hier einen Supermarkt gibt, der alles führt, was man zum täglichen Leben braucht (wichtig); zudem gibt es eine Tankstelle (ebenfalls wichtig), einen Arzt (theoretisch wichtig) und nahe dem Marktplatz ein Postamt. Jaromir erinnert sich nur ungern an diese Institution und wir können uns denken, dass dieses Amt etwas mit der beiden Geschichte zu tun hat.
Obwohl er sich dagegen sträubt, lenkt Jaromir sein Fahrzeug von der Hauptstraße und nimmt einen wenig befahrenen Weg, der aus der Ortschaft hinaus, hin zur Küste führt. Durch die Lüftung spüren wir das nahe Meer. Salz hängt in der Luft.
Was ist passiert?
Frühling.
Der Stift ruhte. Mit jeder weiteren Erinnerung an die vergangene Zeit wuchs in Jaromir ein Gedanke. Die Situation in ihrer Ganzheit hatte er nicht verursacht. Und er hatte Mairin dort oben allein gelassen. Er schaute auf die sinnlosen Zeichnungen, die er auf dem Block hinterlassen hatte. Nicht nur sich selbst zuliebe sollte er handeln. Aber es fehlte der Mut. Das Abitur war nahe. Er hatte mehr als genug Dinge, um die er sich kümmern musste. Was hatte diese durchgeknallte Frau da für einen Stellenwert?
Obwohl er tief in sich schon zu diesem Zeitpunkt wusste, dass Mairins Stellenwert in seinem Leben enorm war, dass er ihr alles zu verdanken hatte, was ihn ausmachte, ob im Guten oder im Schlechten, schob er seine Entscheidung immer wieder hinaus. Über die Zeit des Abiturs, über die Zeit danach, in der er zwei Wochen lang mit all den Leuten aus seinem Jahrgang die Nächte durchfeierte, über die Zeit, in der er seinen Zivildienst begann – an einer Stelle, die sein Vater ihm beschafft hatte – über all diese Zeit schob er seine Entscheidung hinweg. Aber vergessen konnte er nicht. Über vier Monate konnte er nicht vergessen und trieb zu oft in Erinnerungen, die ihn zwischen unentschlossener Angst und übermächtig erscheinender Verantwortung schwanken ließen.
Erst eines Morgens Anfang August fand er den Mut, zu dem zu stehen, was er seiner Meinung nach getan hatte, setzte sich in seinen Wagen und drehte den Schlüssel um. Und während er durch die Sommerhitze zur Küste fuhr, erinnerte er sich an ihre gemeinsame Zeit.
Im letzten Jahr.
Sie waren lange gefahren.
Als sie im grauenden Morgen nahe der Küste das einsame Ferienhaus erreichten, hatte Jaromir viel über Mairin erfahren. Zu Unrecht war sie in eine Anstalt eingewiesen worden, da ihre Eltern ihre Sorgen und Ängste nie verstehen würden und sie auf irgendeine Art und Weise hatten loswerden wollen. An einigen Stellen ihrer Erzählung hatte sein Fuß kurz gezittert und auf die Bremse drücken wollen. Aber dann hatte er sie wieder angesehen. Konnte ihre großen Augen in dem schwachen Licht der Armaturen leuchten sehen, völlig unbeeinflusst von ihrer Vergangenheit, nur ein kraftvolles Bild von Freiheit verbreitend und sein Fuß hatte sich wieder gesenkt. Ihre Stimmung war im Laufe der Fahrt mehrmals umgesprungen – da war das junge Mädchen, das diesen Drang nach Freiheit förmlich aus jeder Pore seines Körpers ausschwitzte; da war die verängstigte junge Frau, die erschien, wenn er in Bezug auf ihre Eltern, auf ihre Vergangenheit Fragen stellte; ein Mädchen, das seine Wurzeln verloren hatte, das Halt in schneller Körperlichkeit suchte. Mehrere Male waren Pfleger ihretwegen auf andere Stationen verlegt worden, denn sie wusste, wie sie ihren Körper auf der Suche nach Sicherheit einzusetzen hatte. Sie war sehr offen, was diese Dinge betraf.
Sie ließ ihn sogar die Ärmel ihres dünnen Pullovers hochschieben und so konnte er die Frage stellen, die ihn beschäftigte, seit er die Narben an ihrem Unteram gesehen hatte, als sie seine Sachen aus dem Schrank in seinem Zimmer geräumt hatte.
„Das habe ich getan, um all das ... auszuradieren ... was passiert ist. Was sie alles verursacht haben, aber denk’ dir nichts dabei. Das ist jetzt alles Geschichte“, hatte sie geantwortet. Sie war offen, sehr offen, doch spürte Jaromir schon jetzt die Ungewissheit. Hatte er die Kraft, hatte er überhaupt die Fähigkeit, ihr etwas zu geben, das ihr die wie auch immer geartete Klinge aus der Hand nahm? Die Anstalt, wie auch die Umstände davor, beides schienen dunkel und böse. Nur in ihren großen Augen stand immer der gewaltige Drang nach Freiheit. Jaromir konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau einschätzen, woraus dieser Drang entstanden war. Was ihr Verständnis von Freiheit war. Ob sie überhaupt frei sein konnte.
Als sie den Wagen vor dem Haus geparkt hatten, war Mairin um das Haus gegangen und kurz darauf mit dem Hausschlüssel wieder aufgetaucht. Ihr Notschlüssel, so hatte sie erzählt und wieder hatte sich in Jaromir ein ungutes Gefühl geregt. Es war jedoch in den ersten Tagen vollends verschwunden. Sie hatten sich in dem Supermarkt der nahen Ortschaft mit Lebensmitteln eingedeckt – das Geld dazu hatte Mairin aus einem Verschlag im Schlafzimmer des Hauses genommen. Für schlechte Zeiten, wie sie gesagt hatte. Jaromir hatte ihr über die Schulter geschaut und schnell eingeschätzt, dass sie damit gut drei oder mehr Monate auskommen würden. Sie liebten sich oft in dieser Zeit, voller Hingabe und Mairin entwickelte eine Intensität, hinter der Jaromirs weit zurück blieb - dabei erlebte er die besten Wochen seines Lebens.
Sie gingen an der Küste spazieren, spielten Karten, gaben sich alberne Spitznamen, taten all die kleinen Sachen, die in diesen Zeiten getan werden. Aber sie mieden die Öffentlichkeit. Vor allem Mairin. Wenn neue Lebensmittel besorgt werden mussten, machte das Jaromir. Wenn Menschen auf ihrem gewohnten Weg entlang der Küste zu sehen waren, schlug Mairin eine andere Richtung vor.
Nachdem ungefähr drei Wochen vergangen waren, schrieb Jaromir den ersten Brief an seine Eltern. Er tat es, während sie schlief. Warum, das konnte er sich zuerst nicht beantworten. Zu sehr war er von dem Gefühl eingenommen, das Mairin verbreitete – völlige Losgelöstheit von den Entscheidungen anderer Menschen. Es schien, als wäre er in der Einsamkeit häuslich geworden, die Mairin gesucht hatte, seit sie vor seinem Fenster erschienen war. Einsamkeit wollte sie, aber nicht allein einsam sein. Eigentlich schrieb er die Briefe, weil ihm spätestens jetzt Gedanken kamen, was seine Eltern fühlen mochten. Ausserdem brauchte er einen Ansprechpartner, denn Mairin hatte sich nach den ersten zwei Wochen mehr und mehr geändert. War kühler geworden – nur, wenn sie miteinander schliefen, war sie noch die, die er kennen gelernt hatte.
Die Briefe schickte er ab, wenn er Lebensmittel einkaufte. Natürlich wusste er, dass seine Eltern so seinen ungefähren Aufenthaltsort bestimmen konnten und schon im ersten Brief bat er sie darum, ihm die Zeit zu lassen, die er brauchte. Sie waren so einfühlsam, dass sie ihm die Zeit ließen, obwohl die Schule wieder begonnen hatte. Er wusste es nicht, aber sein Vater hatte sich tatsächlich an die Vergangenheit erinnert und ihn in einer langen Diskussion gegenüber seiner Mutter verteidigt – die beiden hatten sich damals in einer ähnlichen Situation lieben gelernt.
Später konnte Jaromir sich nie beantworten, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie ihn geholt hätten. Die Zeiten waren schlimmer geworden.
Sommer.
Der Mond hat sich hinter Wolken versteckt. Silbern leuchtet deren Masse vor dem dunklen Himmel.
Die Straße, die Jaromir eingeschlagen hat, ist zu einem engen Feldweg geworden. Auf zwei Fahrspuren laufen die Reifen, während das hohe Gras in der Mitte den Unterboden des Wagens streichelt. Hier ist lange niemand mehr gefahren.
Während wir noch darüber nachdenken, ob Jaromirs Wagen seit dem letzten Winter tatsächlich der letzte auf diesem vereinsamten Weg gewesen sein könnte, fallen die Kegel der Scheinwerfer auf ein dunkles Haus, das am Ende des Weges zwischen den Bäumen erscheint. Jaromir verlangsamt die Geschwindigkeit, fährt kaum mehr, als der Wagen im ersten Gang läuft. Wir nehmen uns die Zeit, um uns die Bauart des Gebäudes näher anzuschauen.
Wir erkennen nichts besonderes, keinen Baustil, der sich irgendeiner Epoche zuordnen ließe. Ein einfaches Ferienhaus, ebenerdig. Flachdach. Zur Front schauen zwei Fenster heraus, die wir, auch ohne im Inneren gewesen zu sein, dem Wohnraum und der Küche zuorden können. Die Schlafräume sind sicherlich weiter hinten.
Der Vorplatz ist umgeben von dunklen Bäumen. Eichen zumeist. Ein, zwei Weiden lassen ihre langen Äste beinahe bis zum Gras herunter hängen. Im unwirklichen Licht der Scheinwerfer wirkt es, als wollten sie die Schatten unter sich halten. Als wollten sie warnen.
Jaromir dreht den Schlüssel. Nach einigen hundert Kilometern sind wir am Ziel angelangt. Er wischt sich über die Stirn. Eine filmreife Szene – wenn er nur wüsste, dass wir all das, was er tut, beobachten; so sehen wir ihn, wie er es nur vom Spielfeld her kennt, denn alle Blicke ruhen auf ihm.
Er verlässt den Wagen; wir folgen ihm, bevor er die Tür schließen kann. Vor ihm schweben wir den Weg zur Haustür entlang. Neue Eindrücke des Hauses gewinnen wir nicht. Es bleibt dunkel, bleibt ... unheilvoll. Scheint uns allen ein gutes Ende zu verwehren.
Als er die Hand auf die Türklinke legt, gehen seine Gedanken zurück. Zurück zu der Zeit, da er Mairin an dieser Tür das letzte Mal gesehen hat.
Im letzten Jahr.
Die Zeiten waren schlimmer geworden.
Mit Mairin konnte er nicht mehr richtig reden. Etwas, das er wirklich vermisste, denn in ihren gemeinsamen Gesprächen hatte er nicht nur mehr über sie, sondern vor allem mehr über sich erfahren.
Mairin hatte eine Begabung dafür, anderen Leuten klar zu machen, wer sie waren - oder was sie waren. Jaromir erzählte ihr, dass sie die erste Frau war, mit der er geschlafen hatte. Sie erzählte ihm, dass er mit seiner Sportbegeisterung nur die selbst empfundenen Unzulänglichkeiten hatte wett machen wollen. Er erzählte ihr, dass er keinen Lieblingsautoren hatte, dass er das lese, was ihm von Bekannten empfohlen würde. Dass er in der Disko immer das höre, was er auch daheim in seiner kleinen Sammlung fände. Sie erzählte ihm, dass er wahrscheinlich deswegen ihren Gegenpol brauchte. Sie hatte ihm mehr von ihrer Jugend erzählt. Von den verschiedenen Anstalten, in denen sie gewesen war. Von den Ärzten, die ihr hatten helfen wollen und es doch nie gekonnt hatten. Hätten sie ihr doch nur die Zeit gegeben, mit den Menschen zu reden, mit den Menschen zusammen zu sein, die sie auserwählt hätte. Statt dessen hatte man sie mit Durchgeknallten, mit Idioten zusammen gesteckt. Jetzt hätte sie das, was sie brauchte. Jetzt hätte sie den Ort, die Zeit und den Menschen.
Jaromir hatte ihr geglaubt.
Doch es war schlechter geworden. Jaromir hatte das Gefühl, dass die Gespräche für sie ausgereizt waren. Er suchte dieselben, aber sie war wortkarg und die Spaziergänge am Deich waren zumeist still. Zu oft lag sie auf dem Bett und starrte zur Decke. Die Liebesakte kamen ihm mehr und mehr wie eine Flucht aus der Stille vor. Doch auch dabei wurden die Spitznamen, die Worte allgemein, seltener.
Und irgendwann hatte er das Gefühl, sie nicht mehr allein in der Küche lassen zu können. Zu viele Messer.
Herzen schlugen immer langsamer.
Dann hatte sie eines Morgens den Brief gefunden. An dem Morgen fand er auch ein Messer in der Spüle. Das Blut war noch nicht einmal richtig getrocknet.
Er hatte ihn gut versteckt und wäre sie nicht – aus welchem Grund auch immer – an das Leergut gegangen, hätte sie ihn auch nie gefunden.
Er war mit einem schlechten Gefühl aus der Küche gekommen und sie stand an der Haustür, den Brief in der Hand. Ihr Haar hing über ihrem Gesicht, nur kurz konnte er ihren Blick einfangen.
Er erinnerte sich an ihren Anblick, als sie ihm ihren Namen genannt hatte.
Sie ging einen Schritt zur Seite.
Im Vorbeigehen nahm er ihr den Brief aus der Hand. Er war nicht geöffnet worden.
Er stieg in den Wagen und fuhr nach Hause.
Die ganze Fahrt über sah er diesen einen Blick vor sich. Keine Frau, die er je gekannt hatte.
Er war rechtzeitig gekommen, um abends am Training teil zu nehmen.
Sommer.
Die Tür ist nicht verschlossen. Bevor Jaromir sie vollends öffnen kann, schlüpfen wir durch die Spalte, die sich auftut. Er zögert, doch wir wollen wissen, was ihn, was uns erwartet.
Durch die Haustür gelangt man direkt in das Wohnzimmer. Wir scheinen in der Dunkelheit mehr zu sehen als Jaromir, denn bevor er das Licht anschaltet, erkennen wir eine kleine Sitzecke an der hinteren Wand. Dunkles Material. Wahrscheinlich Leder. In der rechten Ecke steht ein Fernseher mit einer Empfangsantenne. An der Wand hängt ein Bild. Eismassen vergraben ein Schiff. Sichtbar ist nur das Heck, die riesigen Eisschollen lassen es auf Spielzeuggröße schwinden. Wir kennen das Bild. Kaspar David Friedrichs. Es passt.
Dann geht die Deckenleuchte an. Eine schwache Birne, nicht mehr als vierzig Watt, umfangen von einem staubigen Schirm. Der Rest des Zimmers bietet nicht viel. Eine helle Komode an der gegenüberliegenden Wand, ein ausgetretener Läufer auf dem Boden. Hölzerne Wände, hölzerne Bodendielen. Eine Tür führt in einen hinteren Raum. Zur Linken ein offener Durchgang in die Küche.
Hinter uns hören wir Jaromir schwer atmen. Nachdem wir nichts weiterhin Nennenwertes in diesem Raum erkennen können, wenden wir uns ihm zu. Er hält den Türgriff noch immer in der Hand. Er hat tatsächlich nicht mit der Macht der Gefühle gerechnet, die ihn nun überschwemmt. Hier hat er sein Leben gelassen. Diese Tatsache könnten wir sicher auch nicht einfach verarbeiten. Es ist schon schwer genug, diesen Verlust nur aus der Ferne zu spüren.
Würden wir diese Geschichte schreiben, so würden wir ihm seine Zeit lassen. Zeit, um seine Gefühle zu ordnen, um ein Gefühl für diesen Ort wieder zu erlangen. Doch wir schreiben sie nicht. Wir schauen lediglich zu.
Und hören ein Geräusch aus der Küche. Ein sehr leises, metallenes Klirren, als würde jemand einen Gegenstand aus diesem Stoff irgendwo ablegen.
Jaromir hört es auch.
Er wendet sich der Küche zu. Und in dem Durchgang erscheint Mairin.
Nachdem wir nun unseren ersten Blick auf diese Frau geschenkt bekommen, können wir Jaromir nur zustimmen. Es ist klar, dass die letzten Monate nicht spurlos an ihr vorbei gegangen sind, aber sie ist wunderschön. Immer noch.
Ihre Haut leuchtet trotz des fahlen Lichtes in einem leicht silbernen Ton. Bei allen anderen Menschen wäre es Blässe. Ihre Haar scheint frisch gewaschen, muss es, denn es fällt wie Blattgold auf ihre Schultern. Der Stoff ihres Kleides passt sich sanft ihren Formen an. Nicht anders, als Wolken, die sich in leichten Bahnen um die Strahlen der Sonne winden; Wolken, die sich anschmiegen.
Sie hat ihre linke Hand über den rechten Unterarm gelegt und Jaromir erinnert sich wieder daran, wie sie ihm ihren Namen genannt hat.
Doch wir sehen die roten Schmieren, die sich in die Zwischenräume ihrer Finger stehlen. Wie ihre Schönheit, können auch sie nicht verborgen werden.
Ihre großen Augen spiegeln Überraschung.
Jaromir atmet heftig aus.
„Was machst du denn hier?“
Stille. Wir verstehen, dass Jaromir nicht sofort antworten kann. Vielleicht hat er sich eine Antwort ausgedacht, während wir in seinen Erinnerungen weilten. Aber wer auch immer jetzt an seiner Stelle wäre – sofort erwidern könnte nur ein Blinder.
Irgendwann durchbricht er das Schweigen.
„Mairin, ich möchte dich mit mir nehmen. Ich hätte eine Zukunft; ich will dorthin – aber nur mit dir.“
Sie sieht ihn an und kurz erkennen wir in ihrem weichen, verwundbaren Blick eine kurze Sehnsucht. Ein kurzes Leuchten.
„Jaromir, ich kann...“
Ihre Hand begleitet die Worte, die sie sagen will. Tropfen von Blut durchschneiden die Luft, fallen langsam, fallen in einem Moment schwerer Ewigkeit, die Jaromir mit einem Geräusch schneidet, das sich tief in unsere Seele brennt und dort sicher bleiben wird. Schmerz. Wiedererkennen.
Sie führt ihren Finger an ihren Mund und sieht mit einem unsicheren Blick zu der Tür, die aus dem Wohnraum führt.
Schon schweben wir über den Boden zu der Tür, wollen wissen, was (oder vielmehr: wer) sich dahinter verbirgt. Doch kurz vor dem Schlüsselloch wird uns klar, dass das nicht weiter wichtig ist. Wer wird dort schon im Bett liegen? Einer der Ortsansässigen, sicher jemand aus der nahen Ortschaft. Jemand, der die Gunst der Stunde nutzt, während vielleicht Frau und Kinder in der Nähe ihre Träume träumen. Jemand, der diese Gunst sicher schon länger nutzt. Nachdem jemand anders gegangen ist.
Wir drehen uns um.
Und sehen etwas sehr Seltenes: sehen, wie zwei Menschen in einem vollkommen wortlosen Gespräch ihre Gefühle Seite an Seite mit der Unmöglichkeit ringen lassen. Sehen, wie beider Wünsche, wie beider Ziele kurz in inniger Vereinigung aufleuchten, um im nächsten Moment in dem schwachen Licht der Glühbirne zu verdampfen. Sehen Ziele, die übereinstimmen könnten, sehen eine mögliche Zukunft voller Lachen, voller Liebe und eine Kraft, die beider Schwächen besiegen, schmelzen könnte. Es ist ein leuchtendes, ein wundervolles Feuer.
Und dann Unzulänglichkeit.
Unvermögen.
Schwäche.
Eine Schwäche, die so direkt und brutal in die Szene bricht, dass es wehtut.
Die jedes Feuer löscht.
Mairin senkt ihren Blick. Eine dunkle Traurigkeit, die schon vorher irgendwo am Boden ihres Blickes lag, finden wir darin. Eine Dunkelheit, die schon immer dagewesen war.
Sie flüstert.
„Jaromir ... geh.“
Jaromir steht da. Uns fällt kein Bild ein, das ihn beschreiben könnte. Wir brauchen kein Bild. Wir sind dabei. Dabei zu sein tut weh.
Es zu erleben, das muss um so vieles mehr schmerzen.
Er wendet sich ab. Den Türgriff hat er noch immer in der Hand; hat ihn nie los gelassen.
Mairin geht wieder in die Küche; dort wartet ihr Leben.
Versagt.
Beide.
Jaromirs Rückfahrt ist so einsam.
Soweit wir es fühlen können, hat er seine bewussten Gedanken abgestellt.
Der Morgenhimmel erleuchtet nach einiger Zeit den Osten. Er ist strahlend schön.
Sobald wir wieder auf der Autobahn sind, suchen wir uns die nächste Ausfahrt und verlassen Jaromir in seinem dreitürigen Ford.
Wir verlassen immer die Geschichten, die keine wahre Zukunft haben. Und das ist unser gutes Recht.
Es gibt so viel Besseres zu sehen.
ENDE