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Hauch
Es ist ein Hauch Sommer. Die Sonne lässt die Welt aufblühen, sie aus dem Tiefschlaf erwachen und flößt ihr neues Leben ein.
Ich hasse sie. Möchte sie vom Himmel reißen und das beschissene Ding zurück nach Osten schießen.
Denn ich spüre, wie ich mich verliere. Wieder einmal.
Je mehr ich versuche, nicht zu denken, denke ich. Je vehementer ich vergessen will, desto intensiver erinnere ich mich. Der Gedanke versteht nicht, dass ich ihn nicht will. Er klammert sich ganz vorn in meinem Gedächtnis fest und klopft mir immer wieder auf die Stirn. Zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. Und so habe ich keine Wahl – ich tue es und lasse ihn real werden. Strecke zaghaft die Hand aus, hin zu den lockenden Fingern, streife sie, Haut auf Haut, bis er fest zupackt und mich zurück in die Szenerie reißt.
Dienstag, 02. März. 18:27 Uhr.
Die letzten Bissen meines Abendessens kauend renne ich ins Bad. Mach doch wenigstens Mascara drauf, hallen die Worte meiner Mutter wider, da siehst du besser aus. Mit solchen Kommentaren muss man rechnen, wenn man im Lockdown wieder zu den Eltern zieht. Obwohl ich minimalen Aufwand betreiben wollte, muss ich zugeben, dass sie recht hat. Blick auf die Uhr. Noch drei Minuten. Passt. Der Laptop ist an, der Raum für die Videokonferenz geöffnet. Hoffentlich hat niemand technische Probleme. Autsch! Mit tränenden Augen werfe ich einen letzten Blick in den Spiegel. Wische ein spitzes Mascara-Klümpchen aus dem Augenwinkel und trockne meine feuchten Hände an der Jogginghose ab. Keep calm, ist ja keine Papst-Audienz. Doch mittlerweile fühlt sich jeder Kontakt zu anderen Menschen an wie eine mündliche Prüfung.
Auf dem Weg zu meinem alten Kinderzimmer weiche ich gekonnt dem LAN-Kabel aus, fummle es am Türrahmen zurecht, bis sich die Tür endlich schließen lässt. Meine Hand übernimmt ohne nachzudenken, schaltet Kamera und Mikro frei. Automatismen in purer Perfektion. Auf dem Bildschirm erscheint mein Gesicht in Großaufnahme. In wenigen Millisekunden wechsle ich zwischen einer Auswahl an kamerafreundlichen Ausdrücken. Stopp, der ist gut. Seliges Lächeln, leicht gelangweilter Blick. Auch Tessa ist da, schaltet sich dazu, während sich die Teilnehmerliste langsam füllt. Sechs Neue sind gekommen, zwei Männer, vier Frauen. Da gab es schon bessere Infoabende, schreibe ich Tessa im Privatchat. Smiley zurück. Ich beginne mit der Begrüßung, gebe für die Info-Teile die Moderationsrechte ab, bitte, das Mikro auszuschalten. Eine Stunde später ist es geschafft. Kurzer Blick zu meinem eigenen Gesicht auf dem Monitor. Dasselbe Lächeln, derselbe Ausdruck, das leicht verschwitzte T-Shirt außerhalb der Sicht. Wir bedanken uns für Interesse und Aufmerksamkeit, klären letzte Fragen, lösen den Abend auf. Freuen uns, wenn wir nächste Woche einige bei unserem regulären Treffen wiedersehen. Die Leute bedanken sich. Ein paar verabschieden sich im Chat, andere stellen sich laut. Dann die Stimme. Mein stockender Atem, eine Explosion. Der Hauch verhallt im Raum.
„Tschau.“
Stille. Ich hatte keine Chance.
Heute. Dienstag, 30. März. 18:32 Uhr.
Möchten Sie der Konferenz beitreten? Ich klicke Ja. Der Raum öffnet sich. Fünf Teilnehmende. Die Seite baut sich schleppend auf. Meine Nervosität umso schneller. Ein kurzes Aufflammen von Panik. Was, wenn er heute nicht kommt? Nach und nach ploppen die Kameras auf und mit einem Mal ertönt der abgehackte Rest eines Lachens, eine Erwiderung, Pause, Begrüßungen. Meine Augen brauchen nicht mal den Bruchteil einer Sekunde, um zu finden, was sie suchen. Erleichterung – Angst. Werden unaufhaltsam angezogen. Und verweilen.
Diesen einen Moment – den hasse ich – liebe ihn, kann an nichts anderes denken. Jede verdammte Woche dasselbe. Und so beginnt das Teufelsrad wieder. Die paar Stunden, die mich jedes Mal völlig fertigmachen. Tessa öffnet das Protokoll und fragt, was wir heute besprechen wollen. Jemand meldet sich zu Wort. Sie schreibt auf. Wir diskutieren über eine Online-Aktion am Wochenende, vor allem die technische Umsetzung. Er beobachtet, je nachdem, wer gerade redet. Ich beobachte nur ihn. Kann meinen Blick einfach nicht abwenden. Er lacht kurz. Es geht mir durch Mark und Bein. Ich sehe es nur, stelle mir vor, der Ton würde im Raum widerhallen. Als das Plenum vorbei ist, wollen wir noch etwas spielen. Ein neuer Tab öffnet sich, die Bilder der anderen verschwinden, als ich das Spiel vergrößere. Bin irgendwie froh über die kurze Erholungspause und atme lang aus. Die Zeit vergeht, die Stimmen vermischen sich. Manchmal summt er beim Nachdenken. Ich muss grinsen. Das Spiel ist vorbei. Der Tab schließt sich und wir sind wieder im Konferenzraum. Wir unterhalten uns. Wann die Uni wohl öffnet, ob es okay ist, wenn der Schlafanzug zur Alltagskleidung wird. Klar, beschließen wir, sieht eh keiner.
20 Uhr. Zwei müssen los, zu einer anderen Besprechung. Bleiben nur noch Vier. Meine Anspannung wächst. Soll ich ihn heute fragen? Die letzten Male habe ich mich nicht getraut, doch es danach bereut. Ist doch nichts dabei. Nur einmal allein mit ihm sprechen. Die Teilnehmerliste wird kürzer, die Kamerabilder weniger. Sein Name rückt näher, während ich mich immer weiter verliere. Wie auf Kommando meldet sich das Gefühl wieder. Das, welches mich nachts nicht mehr schlafen lässt. Von dem ich träume, das mich verfolgt. Das wird eh nichts, zischt es mir zu. Wird es nie. Und ich habe ihm immer wieder zugestimmt. Doch eine kleine Stimme protestiert. Wie konnte das passieren? Meine Mauer war doch solide, unkaputtbar. Schützte so zuverlässig meine Verletzlichkeit.
Dann diese eine Sekunde. Ich habe nicht aufgepasst, war nicht vorbereitet. Und frage mich nun, wie er es mit einem Wort geschafft hat, mich zu brechen. Wie mein Herz meint, Dinge tun zu müssen, die ich nicht kontrollieren kann. Ich starre auf den Monitor. Das Gestein meiner Mauer bröckelt. Die eine Tür, welche ich beim letzten Mal verriegelte und nie wieder öffnen wollte, fällt frei. Angst. Abschiedsworte in meinem Ohr. Eine Stimme nach der anderen wird leiser, verstummt, geht. Seine Augen. Sieh mich an. Wünsche es mir so sehr, fürchte mich aber vor meiner Verletzlichkeit. Bleibe besser allein, als mich jemandem zu öffnen; um doch enttäuscht zu werden. Denke trotzdem daran, wäge ab, verfluche den Gedanken, sehne mich so sehr nach ihm.
Ein Wimpernschlag.
Ein letzter Name leuchtet mir entgegen. Sein Blick direkt auf mir. Bleibt.