Hatte er seine Seele verkauft?
Tack, Tack, Tack.... Tack, Tack, Tack... Ungeduldig trommelte Andy Wulff mit seinen Fingern auf das Lenkrad. Verärgert schaute er auf die Ampel – die noch immer rot war. Der junge Lehrer lehnte sich zurück. In wenigen Minuten würde die erste Stunde beginnen. Um genau zu sein, waren es bis dahin noch genau vier Minuten. Vier Minuten um mit seinem alten Renault zur Schule zu fahren, die Erdkundearbeitsblätter (die vermutlich in den Taschen vier Schüler nur wenige Stunden unbeschadet überleben würden) zu kopieren und die bekritzelten Trennwände, die er zweifellos vergessen würde, aufzutreiben. Er stöhnte. Das war also wieder ein Unglückstag. In der Nacht hatte er sich die Lippe aufgeschlagen, nachdem er im Badezimmer auf die Bürste seiner Freundin getreten und anschließend gefallen war. Am Morgen hatte seine Freundin ihm dann – versehentlich – die Tasse Kaffee, die er jeden Morgen trank, bei einer Überraschungsumarmung aus der Hand geschlagen, sodass er sich seine Hand verbrannt hatte. Und dann noch der Pickel am Kinn... Ob das wohl ein Zeichen für das von ihm bereits wohlüberlegte Beziehungs- Aus war?
Und im selben Moment schaltete die Ampel von rot auf grün um.
Sofort gab er Gas und der alte, apfelgrüne Renault ruckelte los.
Nach wenigen Minuten kam er an der Schule, in welcher er schon seit über zwei Jahren Mathematik und Erdkunde unterrichtete, an.
Ein erneuter Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er kaum Zeit verloren hatte. Er stieg aus – nicht ohne sich, wie so oft, den Kopf zu stoßen. Gleich darauf ging sich Andy mit seinen Fingern durch sein beinahe schulterlanges, dunkelbraunes Haar, das von so vielen Schülerinnen sehr gemocht wurde. Oft bemerkte er ihre Blicke, wenn diese nachschauten und dann anfingen zu kichern. Der junge Lehrer schulterte seine Ledertasche und verschwand durch eine Hintertür in das Innerer des Schulgebäudes.
Schon auf dem Weg ins Lehrerzimmer konnte er die schrillen Stimmen seiner Kollegen ohne Probleme hören. Hätte Frau Sonnenkönig aber noch etwas lauter gebrüllt, hätte sie jedoch die Stimmen der Anderen gänzlich übertönen können.
„Der junge Kollege hat sie doch nicht mehr alle. Habt ihr mal einen Lehrer mit so langen Haaren gesehen? Sind wir denn auf einem Heavy-Metal-Konzert? Der sollte wirklich mal zum Friseur gehen... Der sieht ja aus wie ein Obdachloser.“
Andy bliebt stehen und schaute auf die Uhr. Dann atmete er noch ein letztes Mal durch und betrat das Lehrerzimmer. Sofort war alles still. Die Köpfe der Lehrer waren augenblicklich in die Schulbücher versunken und Frau Sonnenkönig ging mit einem aufgesetzten Lächeln in die Richtung des Kopierers während sie nervös an ihren blonden, gelockten Haarspitzen zupfte.
„Guten Morgen“, rief er und hoffte, dass man ihm seine Unzufriedenheit nicht anmerken konnte.
Niemand antwortete. Nur das gleichmäßige Geräusch der Absätze von Frau Sonnenkönig war zu hören, als diese sich umdrehte und zu ihrem Tisch ging.
Andy setzte sich wieder in Bewegung und ging hinüber zu seinem Platz. Wie sonst auch, stapelten sich auch heute wieder benutzte Taschentücher, Brot- und Bonbonpapiere auf seinen Unterlagen – jedoch stammten diese nicht von ihm. Allmählich hatte er genug. Genug vom Müll, um daraus eine Mauer zu bauen - nur um Frau Sonnenkönig nicht mehr sehen zu müssen, aber er hatte auch genug von der Schule selbst. Den Lehrerberuf hatte er sich anders vorgestellt. Und seine Kollegen auch. Manchmal merkte er, wie er versuchte das Kollegium zu vergessen, indem er freiwillig die Aufsicht auf dem Schulhof übernahm oder erst ein halbe Stunde nach dem Schulschluss das Lehrerzimmer betrat.
Doch so würde es nicht weitergehen können.
Er suchte die Kopiervorlage des Arbeitsblattes, die er am Abend zuvor herausgelegt hatte und ging zum Kopierer. Doch der Vorrat an Kopierpapier war aufgebraucht.
Aus dem Augenwinkel sah er Frau Sonnenkönigs spöttisches Grinsen. Er hatte das Gefühl, dass mit ihm gespielt wurde wie mit einer Marionette. Egal, was er machte – es war falsch. Alles war falsch.
Die Vormittage in der Schule zogen sich wie Kaugummi – welches, wenn man es lang zog, sich zog und zog, bevor es dann schließlich doch riss. Das war dann der Moment, indem er zuhause die erste Bierflasche aus dem Kühlschrank nahm und sich auf sein Sofa fallen ließ.Manchmal folgte noch ein zweites Bier, manchmal auch ein drittes.
Wieder strich er sich die Haare aus dem Gesicht. Eine Angewohnheit, die er sich abgewöhnen wollte.
„Andy, geht es dir nicht gut?“
Es war Heidi. Heidi Rosenberg, die Lehrerin, die die wenigen Wochen in Rente gehen würde - die Lehrerin, die ihn mochte. Ihn – so wie er war. Sie konnte lachen und sie übernahm den Unterricht in seiner Klasse an den Tagen, an denen er krank war.
„Danke, mir geht’s gut.“
Er lächelte zurück und ging stockend wieder zu seinem Platz.
Die letzten Sekunden vor dem Gong, welcher ihn aus dem Lehrerzimmer befreien würde, kamen ihm wie Stunden vor. Allmählich leerte sich das Lehrerzimmer. Nach und nach gingen die Lehrer in ihre Klassen oder ein letztes Mal auf Toilette. Doch Andy wartete. Eigentlich hatte er heute in seiner siebten Klasse einen Erdkundetest schreiben wollen. Aber das ging nicht. Nicht heute. Er würde den Test einfach auf morgen verlegen. Vielleicht war das ein weiterer Grund dafür, dass er – laut Heidi – bei den Schülern der beliebteste Schüler der Schule war, überlegte Andy, als er schließlich das Lehrerzimmer verließ.
Man konnte nicht gleichzeitig der beliebteste Lehrer der Schüler sein und gleichzeitig auch im Kollegium respektierte werden konnte – oder etwa doch? Plötzlich war er sich unsicher. Was wollte er eigentlich? Hatte er vielleicht selbst nie versucht mit den anderen Lehrern auszukommen? Musste man das überhaupt versuchen? Oder war es ein simples soziales Phänomen – manchen gelingt so etwas und anderen wiederum nicht?
Er hatte den Klassenraum erreicht und schloss ihn auf, um sich dort auf seinem Pult niederzulassen. Ihm war schwindelig, sein Magen rumorte und er schwitzte. Fühlte man sich so wenn man dachte, dass man seinen Traumjob gefunden hatte? Wenn man jeden Tag mit jedem Schritt, mit dem man sich dem Arbeitsplatz näherte, einen immer größeren Wunsch verspürte, sich einfach umzudrehen, und schnell, schnell wegzulaufen – ganz weit weg, wo man von den Anderen nicht mehr gesehen werden konnte?
Er fühlte, wie sich seinen Augen langsam mit Wasser füllten. So etwas durfte nicht passieren. Ein Lehrer durfte nicht weinen – zumindest nicht, wenn es nach Andy ging. Eilig wischte er sich mit dem Handrücken sein Gesicht und blieb mit gesenktem Blick sitzen. Seine Haare blieben auf dem tränenverschmierten Gesicht kleben wie eine Briefmarke, die man auf einen Umschlag geklebt hatte. Er hatte einen Entschluss gefasst. Zumindest glaubte er das.
Stockend erhob er sich und zog eine Schere, sie fast unbenutzt in einer mit Stiften gefüllten Weihnachtstasse auf seinem Pult gestanden hatte, heraus und verließ mit energischen Schritten den Klassenraum.
Er lief und lief. Wohin genau, wusste er nicht. Es schien, als hätten seine Füße und Beine sämtliche Funktionen seines Gehirns übernommen, sodass diese ihn durch etliche Korridore bis hinaus zu den außer Betrieb genommenen Lehrertoiletten trugen. Selbst die Schüler, die noch in den Fluren gesessen und ihm nachgeschaut hatten, hatte er nicht wahrgenommen. Er zog den Schlüsselbund mit seiner freien Hand aus der Hosentasche, schob den richtigen Schlüssel leise ins Schlüsselloch und drehte ihn um. Mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf – und er trat ein. Staub hatte sich auf das vergilbte Waschbecken und eine alte Heizung gelegt. Ein leicht modderiger Geruch lag in der Luft. Hier würde so schnell wohl niemand nach ihm suchen...
Er betrachtete sich im Spiegel. Seine Augen waren angeschwollen und seine Hautfarbe ähnelte eher der eines Vampirs. Sein Blick fiel wieder auf die Schere, die er noch immer in seiner verschwitzten, rechten Hand, die sich nun gefährlich seinem Gesicht nährte, hielt. Mit der anderen Hand griff er die Strähne, die bis dahin sein linkes Auge verdeckt hatte.
Die Schere hatte nun die Strähnen berührt; und im nächsten Moment sah er, wie sie dunklen Haare geräuschlos ins Waschbecken fielen und dort auf der grauen Staubschicht liegen blieben.
Andy fühlte Erleichterung... und das Gefühl, über seinen eigenen Schatten gesprungen zu sein. Jetzt würde er es durchziehen – so wie er es sich vorstellte. Hieß es nicht immer, dass man das tun sollte, was für einen selbst gut war?
Andy genoss das Geräusch der Schere, die nun auch seine restlichen Haare kürzten, auf eine Länge, die Andere vielleicht nun „normal“ nennen würden. Andere... Gehörte er jetzt dazu - zu den Anderen? Würde er jetzt respektiert – nein, erst einmal akzeptiert werden? War er jetzt ein richtiger Lehrer – so wie auch seine Kollegen, die vermutlich in diesem Augenblick Deutsch, Englisch und Mathe unterrichteten, so wie es eigentlich auch verlangt wurde?
Er schaute wieder in den Spiegel. Im nächsten Augenblick waren alle seine glücklichen Gedanken, die er gehabt hatte wieder verschwunden...
Hatte er gerade seine Seele verkauft?