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Hasis neue Ohren
»Ich habe schlechte Nachrichten für dich.« Oma schaute mich traurig an. »Ich fürchte, Hasi muss mal zum Arzt.«
Ich klammerte mich an mein Lieblingskuscheltier.
»Aber warum denn?«
»Hasi braucht dringend mal neue Ohren.«
»Stimmt doch gar nicht!«
»Schau doch mal«, sagte Oma. »Hier kann man fast schon durchschauen, dort ist ein Loch und das linke Ohr hängt nur noch an einem Faden.«
Oma hatte schon irgendwie recht. Die Jahre, die ich mit Hasi verbracht hatte, waren seinen Ohren wirklich nicht besonders gut bekommen. Aber so ist das eben bei Entdeckern wie uns: Wir tragen die Beweise unserer Abenteuer auf der Haut. Und wenn nur einer der Schatzsucher laufen kann und den anderen an seinen Löffeln hinter sich herziehen muss, geht das an denen eben nicht spurlos vorbei.
»Muss Hasi dann zum Doktor?«, fragte ich. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich selbst zum Arzt gehen musste, als ich vor einiger Zeit Ohrenschmerzen hatte. Natürlich hatte Hasi mich begleitet.
»Keine Sorge«, lächelte Oma. »Ich bin staatlich ungeprüfte HNO-Ärztin.«
»Was heißt denn das?«
»Ich bin spezialisiert auf Hasennasen und -ohren.«
Ich staunte. Davon hatte sie mir noch nie erzählt.
»Echt jetzt?«
»Na klar. Und ich werde die Operation selbst durchführen.«
Skeptisch willigte ich ein.
»Na siehst du. Euer Termin ist gleich morgen früh nach dem Aufstehen. Dann kannst du dir ein neues paar Ohren aussuchen und ein paar Minuten später sieht Hasi aus wie neu.«
In der Nacht träumte ich etwas Seltsames. Ich stand, Hasi fest an mich gekuschelt, in Omas Waschküche. Normalerweise warteten hier Berge getragener Kleidung darauf, in die Waschmaschine gestopft zu werden. Doch scheinbar hatte jemand den Raum zu einer Art Lager umfunktioniert.
»Willkommen in meinem Hasenohrendepot!«
Oma begrüßte mich mit offenen Armen und warf einen stolzen Blick auf die unzähligen Regale an den Wänden der Waschküche. Hasenohren in allen Formen und Farben ragten aus den Brettern hervor. Es gab flauschige Lauscher und feste, solche mit riesigen Ohrmuscheln ebenso wie ganz winzige Exemplare. Sie waren aus allen erdenklichen Materialien gefertigt.
»Schauen Sie sich ruhig in Ruhe um. Wenn ich Ihnen helfen kann, sagen Sie gerne Bescheid.«
Oma war seltsam gekleidet. Statt ihrer Blumenschürze trug sie ein schwarzes Kleid, das so festlich aussah, als wäre sie auf dem Weg zu einer Hochzeit. Ihre Haare waren streng, aber schick, zurückgekämmt.
Ich schaute mich im Lager um. Hier und da nahm ich ein Paar Lauscher in die Hand, um ihren Stoff zu befühlen, legte sie jedoch schnell wieder zurück.
Ich stöhnte.
»Mensch Oma, wie soll ich mich denn hier jemals entscheiden?«
»Eine ganz schön große Auswahl, was?« Oma nickte verständnisvoll. »Ja, wir sind das größte Hasenohrendepot östlich des Nullmeridians.«
Ich verstand kein Wort.
»Aber keine Sorge, mein Schatz, du musst deine Entscheidung ja zum Glück nicht alleine treffen.«
»Nicht?«
Da begann Hasi zu sprechen.
»Können Sie uns denn etwas empfehlen, gnädige Frau?«
Ich konnte nicht glauben, was gerade passiert war. Hasi hatte etwas gesagt. Er hatte seinen Mund geöffnet und Töne produziert. Vielleicht war mit meinen Ohren auch etwas nicht in Ordnung?
»Das ist natürlich schwierig«, antwortete Oma professionell. »Letztlich sind die Ohren alle gut. Sie müssen eben zu ihrem Träger passen.«
»Hm«, sagte Hasi, »das hilft uns jetzt natürlich nicht so richtig weiter.«
»Ich kann Ihnen ja mal einige Highlights aus unserem Sortiment präsentieren.«
Oma ließ ihren Blick über die Regale schweifen. Schließlich kramte sie ein blaues Stück Stoff hervor, das mit roten Sternen verziert war.
»Das«, sagte Oma, »sind die superfantastischen Superheldenohren.«
»Ah ja«, sagte Hasi abwartend.
»Die sehen schick aus«, meinte ich begeistert.
»Aber nicht nur das«, sagte Oma. »Mit denen kann man fliegen.«
Hasi war beeindruckt. »Fliegen? Das klingt spannend!«
»Aber entscheiden Sie sich nicht zu früh«, warnte Oma. »Ich habe noch mehr außergewöhnliche Produkte im Angebot.«
Sie legte die Superheldenohren beiseite und holte ein anderes Paar aus dem Regal.
»Ich präsentiere: Praktische Waschlappenohren, perfekt geeignet zur Beseitigung kleinerer und größerer Missgeschicke.«
»Das könnte ich gut gebrauchen«, gab ich zu.
Hasi blieb skeptisch. »Ich weiß ja nicht. Kann ich die Superheldenohren nochmal sehen?«
»Ich sehe schon, ich sehe schon«, sagte Oma. »Damit treffe ich nicht ihren Geschmack. Aber ich habe eine Idee.«
Wieder wühlte sie in den Stoffen herum.
»Wo habe ich denn … ach ja, hier.«
Oma hielt eine eigentümliche Apparatur in der Hand, die nur entfernt an Hasenlöffel erinnerte. Sie glitzerte golden im Licht und schien seltsam fest zu sein.
»Ein ganz besonderes Stück«, erklärte Oma. »Trichterohren aus echtem Grammophonmetall. Mit denen kann man alles hören, was irgendwo auf der Welt gesprochen, gesungen oder musiziert wird. Ein einzigartiges Klangerlebnis, das in diesem Universum seinesgleichen sucht.«
Hasi war interessiert. »Und das funktioniert wirklich?«
»Das klingt ja wie Magie«, sagte ich.
»Stell dir das mal vor«, sagte Hasi zu mir. »Wenn ich diese Ohren hätte, könntest du mich mit in die Schule nehmen und wenn ich mich dort langweile, klinke ich mich einfach aus und lausche einem Konzert in Asien oder Südamerika!«
»Ich sehe, Sie sind interessiert«, sagte Oma, bereits die nächste Variante in der Hand. »Aber schauen Sie sich mal diese hier an.«
Oma reichte mir ein dickes, weiches Stoffbündel.
»Das sind daunenbefüllte Winterjackenohren. Mit denen kann man sich einwickeln und gegen Wind und Wetter schützen.«
»Für die nächste Schneeballschlacht natürlich super geeignet«, gab Hasi zu. »Aber doch nicht ganz das, was ich mir vorstelle.«
»Wie wäre es dann mit …«
Oma gab mir zwei Gummilappen in die Hand.
»Unsere extraquietischigen Neoprenohren. Die halten auch einigermaßen warm, vor allem aber immer trocken. Sie liefern keine Angriffsfläche für Schmutz und lassen keine Chance für Flecken. Nie wieder Ohrenwaschen, weil die Ohren erst gar nicht dreckig werden.«
»Solche Löffel könnte ich wirklich gut gebrauchen«, sagte Hasi. »Nie wieder Ohrenwaschen klingt nämlich sehr verlockend.«
Ich war nicht überzeugt. »Die mögen ja ganz zweckmäßig sein, aber so richtig schön fühlen die sich nicht an.«
»Was ist denn so ihr Favorit bislang?«, fragte Oma.
»Ich habe ein Auge auf die Grammophonohren geworfen«, sagte Hasi.
»Und was sagst du dazu?«, fragte Oma an mich gewandt.
»Von denen, die du mir gezeigt hast, mochte ich die Winterjackenohren eigentlich am liebsten.«
»Ich weiß ja nicht«, sagte Hasi. »Was trage ich denn dann im Sommer?«
»Naja«, sagte ich. »Wie Oma schon gesagt hat: Letztlich müssen die Ohren zu ihrem Träger passen. Und weil du ja schließlich damit leben musst, finde ich, dass das deine Entscheidung sein sollte.«
Doch bevor sich Hasi ein paar neuer Lauscher aussuchen konnte, endete mein Traum.
Als ich aufwachte, war Hasi verschwunden. Ich suchte ihn hinter meinem Kopfkissen, in meiner Bettdecke und sogar unter meinem Bett, doch ich konnte ihn einfach nicht finden. Ich sprang auf und rannte nach unten.
Oma stand in der Küche. Sie lächelte mich an, als ich panisch die Tür aufstieß. Obwohl sie jetzt wieder ihre Blumenschürze trug, wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie eben noch im Traum vor mir gestanden hatte.
»Oma! Oma!«, keuchte ich. »Hasi ist weg!«
»Keine Sorge, mein Schatz. Du hast so fest geschlafen, dass ich die Ohrenoperation einfach schonmal vorgezogen habe. Hasi hat alles gut überstanden. Er wacht gerade wieder auf.«
Ich lief in die Waschküche. Dort lag Hasi auf Omas Nähtisch. Aufgeregt betrachtete ich seinen Kopf.
Er hatte wunderschöne, samtene Löffel in dunkelbraun, die perfekt zu seinem restlichen Fell passten und sehr anschmiegsam waren. Sofort drückte ich Hasis neue Ohren an meine Wange. Sie fühlten sich wundervoll an.
Oma war hinter mich getreten. Ich drehte mich zu ihr um.
»Danke, Oma!«
Sie zwinkerte mir zu.
»Er hat sich für die schmuseweichen Knuddelohren entschieden – die Ohren, mit denen man am besten kuscheln kann.«