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Haselnüsse
Wie überrascht mein Opa war, als ich ihn umarmte, fest um seinen runden Bauch, wie beschämt er mir da die große Hand auf den Kopf legte, als ob er gar nicht wüsste, dass die Welt sich weitergedreht hat, dass jetzt ich am Fenster stehe und raus starre, wie er es immer getan hat, dass jetzt ich von den Krähen geweckt werde und schnell das Fenster öffne und zwei Haselnüsse auf die Fensterbank lege und es dann schnell wieder schließe, bevor die Herbstluft hereinziehen kann, dass er gar nicht weiß, dass meine Oma, also seine Frau, jetzt eine Brust weniger hat, als wäre das etwas Normales, einfach so einen Teil des Körpers abnehmen, als wäre man kein Mensch, sondern eine Puppe, als wäre das ganze Leben nur ein komisches kosmisches Spiel, in dem man Körperteile wechselt wie Kleidung, vielleicht den Kopf durch einen anderen tauscht, wenn der Krebs dann auch dort gestreut hat, vielleicht, aber wie überrascht er war, als ich ihn so umarmte, das geht mir jetzt nicht mehr aus dem Kopf, deshalb überlege ich jetzt, nach draußen zu gehen, am Fluss entlangzugehen, manchmal hilft das, aber draußen ist es ja so kalt, es ist jetzt fast November, und seit drei Wochen funktioniert jetzt die Heizung nicht mehr, man hört sie rauschen, aber wenn man seine Hand drauflegt, die Rückseiten der Finger, ist sie nicht mal lauwarm, genauso kalt wie das Wasser aus der Leitung, jedes Mal beim Duschen möchte ich am liebsten weinen, jedes Mal stehe ich wieder da und die Kopfhaut zieht sich zusammen und ich kann mir gar nicht vorstellen, den Duschkopf auf die Brust zu richten oder den Bauch, gerade am Bauch bin ich immer besonders empfindlich, und vielleicht ging es meinem Opa früher genauso und vielleicht war er deshalb auch so überrascht, als ich meine Arme um seinen Bauch gelegt habe, vielleicht hat er, weil er jetzt schon so lange tot ist, vergessen, wie sich das anfühlt, Wärme am Bauch zu spüren, vielleicht hat er sich daran erinnert, wie es sich angefühlt hat, Bier zu trinken, von innen gewärmt zu werden, und wenn ich jetzt darüber nachdenke, weiß ich gar nicht, ob mein Opa viel Bier getrunken hat, als er noch am Leben war, früher wohl schon, aber später nicht, so viel ich weiß, besonders ganz am Ende, als er dement war, wäre er nicht auf die Idee gekommen, Bier zu trinken, überhaupt konnte er da nur noch wenig für sich selbst entscheiden und wenn doch, musste man es ihm oft ausreden, zum Beispiel dann, wenn er raus wollte, raus aus der Wohnung, wenn er sich aus seinem Sessel drückte und man es dann rascheln gehört hat im Flur und man wusste, dass er sich wieder am Jackenständer zu schaffen machte, dass er sich wieder seine Jacke überziehen wollte, um spazieren zu gehen, an den Füßen noch die Hauslatschen, die immer dieses saugende Geräusch machten, wenn er ruhelos durch die Wohnung ging, von Fenster zu Fenster und raus starrte, um dann und wann zwei Haselnüsse auf die Fensterbank zu legen für die Krähen, da überkam ihn dann wohl auch manchmal der Gedanke, was er hier eigentlich tat den ganzen Tag lang, nur auf und ab zu gehen und aus dem Fenster zu starren, und dann ging er zum Jackenständer und dann hörte man seinen Schlüsselbund und dann wusste man, dass man ihm die Sache ausreden musste, weil es keine gute Idee war, wenn er vor die Tür ging, er war ja wacklig auf den Beinen und würde auch nicht wieder zurückfinden, er war ja in der Wohnung schon mit allem überfordert und lief auf und ab, drückte sich aus seinem Sessel, weil er vielleicht Hunger hatte und ging dann in die Küche, um etwas Obst zu essen und auf halbem Weg war der Gedanke schon wieder verblasst und er ging stattdessen zum Fenster und starrte raus, als ob er da draußen vielleicht eine Antwort finden könnte, und deshalb überkam ihn wohl auch manchmal der Drang, seine Jacke überzuziehen und rauszugehen und deshalb wurde er wohl auch aggressiv, wenn man versuchte, ihn daran zu hindern, er war ja immer noch ein großer Mann, wie ein Baum, eine Eiche, früher war er ja Soldat gewesen und später Gefängniswärter, er hatte ja gelernt, sich nichts gefallen zu lassen, und wenn es ihn dann nach draußen zog, war er kaum noch aufzuhalten, dann musste man sich ihm in den Weg stellen und die Tür abschließen, ihn einsperren wie die Gefangenen, die Verbrecher, die er sein halbes Leben bewacht hatte, aber mein Opa war ja kein Verbrecher, höchstens ein bisschen schwierig, ein Kind seiner Zeit, würde man heute sagen, und ein bisschen cholerisch, auch wenn davon am Ende nicht mehr viel übrig geblieben war, da wurde er fast umgänglich, das bemerkten wir zum ersten Mal dann, als wir zusammen essen waren und mein Opa, der sonst so sehr auf Manieren achtete, vor allem bei anderen, als der plötzlich rülpste und dann Bim-Bam rief, worüber wir heute noch lachen müssen, wenn wir daran zurückdenken, obwohl es ja damals, als wir in dem Lokal saßen, fast ein Schock war, diesen großen, ernsten Mann rülpsen und dann Bim-Bam rufen zu hören und vor allem den Blick zu sehen, der danach in seinem Gesicht lag, so ein suchender Blick, als ob er gar nicht recht wüsste, wo er eigentlich war und vielleicht auch, wer er war, und so ähnlich schaute er auch, als ich ihn heute Nacht umarmte in meinem Traum und meinen Kopf an seinen Bauch legte, so ähnlich schaute er auch früher schon mal, erinnere ich mich jetzt, als die Frau von der Pflegegeldstelle zu ihm und meiner Oma nach Hause kam und Fragen stellte, zum Beispiel, in welchem Jahr er geboren wurde oder wer der Bundeskanzler war, auch da schaute er so, so suchend, als wüsste er gar nicht recht, wo er eigentlich war und was das sollte, die Fragerei von dieser Fremden, und kurz darauf wurde er dann auch sauer, aggressiv, dann kam wieder seine andere Seite zum Vorschein, der Choleriker, er war ja auch ein Tyrann, auf eine Art, er hielt die Menschen um ihn herum ja gerne klein, als er es noch konnte, vor allem seine Frau, meine Oma, die jetzt sicher daheim sitzt und aus dem Fenster starrt und manchmal denke ich, dass sie dort immer noch auf ihn wartet, dass sie immer noch glaubt, dass er wieder zurückkommt, dass er gar nicht tot ist, aber ich weiß es ja, ich habe ihn ja gesehen, heute Nacht, als ich meine Arme um ihn gelegt habe und meinen Kopf an seinen Bauch gelegt habe und er seine Hand auf meinen Kinderkopf gelegt hat und seine Hand war kalt, und deshalb fühlt sich der Tage heute wohl auch so komisch an, so grau, vielleicht frag ich deshalb gleich meine Frau, ob wir nicht raus wollen, ein paar Schritte gehen, auch wenn es draußen ja auch so grau ist heute, auf dem Fluss hängt der Nebel, ja, vielleicht ist heute einfach so ein Tag, aber vielleicht hilft es, ein bisschen rauszugehen, ein bisschen zu reden oder auch einfach zu schweigen, aber vielleicht gehe ich lieber allein, vielleicht will ich sie auch nicht anstecken mit dem, was ich heute spüre, aber ich weiß ja auch, dass sie das nicht stört, auf ihre Art ist ja auch meine Frau eine Eiche, wenn ich darüber nachdenke, aber ich denke auch daran, wie ruhelos mein Opa war, als seine Frau ins Krankenhaus musste nach dem Schlaganfall, dass er gar nicht mehr sitzen bleiben konnte in seinem Sessel, dass er immer auf und ab ging und hin und her und ich denke an das saugende Geräusch, das seine Hauslatschen dabei machten, schmatz, schmatz, und dass er mich Hermi nannte, obwohl ich das nicht bin, und dass er laut wurde und brüllte, Hermi!, und was ich hier will, und dass ich dafür nicht bereit war, dass ich zu jung war, dass ich dort raus wollte aber dass niemand da war außer mir und meinem Opa und dass mich das bis heute noch prägt, wie so Vieles, und vielleicht melde ich mich dann später noch bei meiner Oma, wenn ich mich überwinden kann, wenn ich das Gefühl habe, ihr damit eine Freude machen zu können, sie nicht bloß anzustecken mit der Kälte und dem Grau, das ich heute spüre.