Harry und der Moschusochse
Harry hatte seinen ersten Schuss aus der Ferne voll versiebt, mitten ins Dickicht der schier endlos weiten Tundra in Sibirien.
Er trifft nur stillstehende Objekte, weil er auf‘m Rummel schießen gelernt hat. Das weiß er auch. Nun, Harry hat es halt versucht. Woher sollte er auch ahnen, dass ein Moschusochse, der sich gerade vom Ausruhen etwas ausruhen wollte, auf einmal mit der Wimper zuckt.
Ja, du hast richtig gelesen. Irgendwo dort draußen in der Tundra von Sibirien. Es könnte auch in Kanada sein. Ich weiß es gar nicht genau. Wenn ich mich in diesem Land umschaue, sehe ich eine Landschaft, die so aussieht, als wäre sie gestern erst entstanden. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Nicht mal Fußstapfen. Naja, bis jetzt. Ich glaube, es ist ein unbekanntes Land. Ein schlafendes. So gut versteckt, dass man es nur manchmal findet. Unser Blick, so sagt man, ist angeblich eingefroren, in einer Welt, in der Technik den Verstand an- und ausknipst. Wenn die Temperaturen hier im Winter steil nach unten sinken, fühlt es sich tatsächlich an, als ob sich bereits unter der Nase unangekündigt Eiszapfen bildeten. Zum Popeln eine Zumutung. Selbst der Boden sieht auf den ersten Blick nicht gerade fruchtbar aus. Auch nicht auf den zweiten. Und doch gibt es einige Pflanzen und Tiere, denen dieses Stückchen Erde ganz besonders gefällt.
Was treibt einen Großstadtbürger wie Harry in diese gottverdammte Gegend?
Harry sucht nach einem Duell. Er ist Auftragskiller, spielt seine Rolle mal äußerst erfolgreich, mal weniger. Ein Durchschnittstyp eben. Schon lange wartet er auf den großen Durchbruch. Heute hat er seinen ersten Auftrag im gehobenen Außendienst. Da lässt sich Kohle machen. Nicht viele kommen so weit in ihrer Karriere. Harry wittert seine Chance.
Allerdings hat er einen merkwürdigen Auftrag erhalten. Er soll hier ein Tier erledigen, mit einem Fell voller wuscheliger Haare. Man nennt es „Moschusochse“. Es sei eins der letzten Exemplare seiner Art. Harry hat es bisher nur auf einem Foto gesehen, die Abbildung war unscharf. An das Fell erinnert er sich noch gut. Man sagte ihm, die Wolle sei sehr kostbar und bringe viel Geld ein. Doch ob das allein der Grund für seinen Auftrag ist, weiß er nicht. So etwas bleibt streng geheim, bei jedem Auftrag. Wenn es doch mal Gerüchte gibt, verrieseln sie einfach mit der Zeit, wie Sand, den man durch die Luft pustet.
Die Abendsonne wirft gerade ihre ersten Strahlen auf die dürren Sträucher, Korbblütler, unter denen sich Harry ein Schluck Wasser genehmigt. Die Plastikflasche ist noch halbvoll. Sein Blick hat sich vor kurzem vom Moschusochsen abgewandt und fällt schon eine Weile auf das raue, ungeschliffene Land um ihn herum. Da tut sich nicht viel. Es ist ein verlassener Ort. Alles scheint still zu stehen. Auch das Wasser in einem kleinen, blauen See. Es schlägt keine Wellen. Trotzdem riecht es nach Leben. Harry spürt indes wie hart der Boden unter ihm ist. Ein fester Tritt bringt ihn zu der Annahme, dass selbst ein stählerner Spaten versagt. Unbeeindruckt dessen kramt er seinen Campingkocher aus dem Rucksack und gönnt sich eine Stärkung. Bohnen mit Speck.
Bis jetzt ist der heutige Tag für den konditionell gut aufgestellten Harry kein anstrengender gewesen, voller unspektakulärer Begebenheiten, in einem Land, in dem Zeit etwas anderes bedeutet als bei uns. Sie verläuft langsamer, zumindest fühlt es sich so an. Wie ein Wasserfall, der bremst. Harry kommt noch nicht so gut damit zurecht. Lieber wünscht er sich reißerische Ströme und peitschende Winde – Nervenkitzel auf höchstem Niveau. Aber nicht die Spur von alldem, nicht einmal der Hauch eines Tropfens Risiko, der für den erfrischenden Adrenalin-Kick sorgen könnte. Einfach verschwunden. Unvereinbar mit den trockenen, endlosen Weiten der Tundra und ihrer befremdlichen Stille. Alles karg. So scheint es, verlassen wir uns auf die vermeintlich abgestumpften Sinne unseres Killers.
„Was zum Geier mache ich hier… am Arsch der Welt?!!“, seufzt Harry in die Atmosphäre und verdrückt gierig die erste Bohne.
Für ihn ist es allmählich an der Zeit, sich auf Umgebung und Arbeitsplatz einzustellen, mental wie physisch. Er muss die neue Herausforderung als Chance begreifen. Unscheinbare Dinge, die sonst an ihm vorbeirauschen, warten in dieser Einöde darauf, aufgesaugt zu werden. Intensiv. Mit allen Sinnen. Es dämmert ihm langsam, dass er seine innere Uhr umstellen muss. In dieser Gegend muss sie anders ticken, nach Gefühl. Was nütze ihm schon seine teure Armbanduhr? Er hatte sie heute Morgen eh verloren, als er im Gebirge eine steile Böschung erklomm. Soll die gefühlte Zeit doch regeln, wann er sich dem Ochsen stellt.
Noch immer kommen Sonnenstrahlen mit etwas Licht um die Ecke, an einem Tag, der hier, fernab der Zivilisation, einen krönenden Abschluss verdient. Nach dem inspirierenden Bohnenmahl nimmt sich Harry die Zeit, Dinge zu hinterfragen. „Alles nur wegen dem Fell? Stellt das monströse Geschöpf eine Bedrohung dar? Vielleicht haben Wissenschaftler herausgefunden...“ Absurde und weniger absurde Gedanken schießen ihm dabei durch den Kopf. Während Harry so da sitzt und grübelt, kommt hin und wieder ein Rabe vorbeigeflogen und leistet ihm Gesellschaft. Mittlerweile sind es mehr als drei. Die Vögel kommentieren das Geschehen. Ihr Gekrächze macht Harry nervös. Hier ein lautes „KRAA“, dort ein scharfes „RAK“. Dann auf einmal nichts mehr. Totenstille. Man hört nur den Wind wehen.
Für einen Augenblick schaut Harry einer Ameise zu, wie sie Dinge durch die Gegend schleppt.
„Die muss Kraft haben!“, flüstert er. Dann schnappt er sich sein Fernglas und richtet es auf die bergige Landschaft vor ihm. Doch er kann den Ochsen nicht mehr sehen und wundert sich.
„Hm? Das gigantische Tier kann sich doch nicht in Luft auflösen. Hat meine Kugel eben ‘nen Umweg gemacht, hab ich den ollen Ochsen doch erwischt?“
Nach Harrys ersten Schuss, der wohl gerade irgendwo in der Pflanzenwelt verpufft sein muss, hatte das Wimpernzucken den Ochsen tatsächlich veranlasst, ein, vielleicht auch zwei Meter, loszumarschieren, um sich in Zeitlupe unter einer Zitterpappel wieder hinzupflanzen. Direkt in ein Meer plattgedrückter Flechten. So hat sich das stämmige Tier, welches aus der Ferne eher einem riesigen, lebendigen Felsblock ähnelt, für einen Augenblick unsichtbar gemacht. Ganz schön pfiffig, was?
Harry denkt schärfer nach. Damit er heute noch die Ehre hat, dem Paarhufer „Guten Tag und Lebewohl“ zu sagen, beschließt er um den Hügelkamm herumzuschleichen, mehr oder weniger unbemerkt von hinten. So. Gleich kann es endlich losgehen. Das Finale.
Noch ein letztes Mal vergewissert sich Harry, ob er scharfe Munition bei sich hat. Sein prüfender Blick auf die Anzahl der Kugeln in seinem Magazin verrät uns: „Ähm..2, 4, 6.. okay, das muss reichen.“ Zack!, neu geladen. Sein Herz pulsiert, er marschiert unauffällig weiter.
Dort drüben sitzt er, der Moschusochse. In Sichtweite. Birken und Baumstümpfe mit grünlich schimmerndem Moos umringen ihn. Sein Hinterteil ist staubig und mit Blättern übersät, farblich abgestimmt. Wurzelschlagend träumt er vor sich hin, schaltet einfach ab. In diesem Augenblick erhebt sich der Koloss, legt sich dann aber doch wieder hin. Harry könnte jetzt schon abdrücken. Aber er zögert. Beide haben jetzt Sichtkontakt. Harry pirscht sich stattdessen noch ein Stück näher an den misstrauisch gewordenen Ochsen heran. Dieser brummt jäh seltsame Laute vor sich hin, klingt nicht gerade nach „Hallo“. Vermutlich nur ein entspanntes Bäuerchen. Wird das bemerkenswerte Geschöpf seine teure Zeit mit einem Auftragskiller vergeuden?
Obacht! Das großzügig behaarte Wesen setzt zum Gebrüll an. Ein ganzer Satz. Und noch einer. Bergziegen-Dialekt.
„Juchee Eloy, mäh King Mosh. Uhm? Honk? Wrat kramsti? Horchtata, Kallar snarcha. Eijeijei..Hajadese no hosta okopolopok jesses erzaas Tañanaa.”
Für uns klingt das wirsch. Karpatengämse wüssten annähernd Bescheid, was gemeint ist. Wir Menschen können nur versuchen, die Botschaft mit unserem Sprachempfinden zu entziffern. Die meisten scheitern, weil sie einfach nicht richtig hinhören. Etwas Gesagtes verliert somit seinen eigentlichen Sinn, und das ist nicht gut.
Wer auf die Idee käme, es hieße – „Halt Stop! Ich bin der König aller Moschusochsen. Was willst du? Hau bloß ab, ich will dich hier nicht sehen!“ – liegt falsch oder hat sich nicht mal die Mühe gemacht und wenigstens eine Vokabel nachgeschlagen. Bei Wildziegen ist es schwer die zahlreichen Schwingungen von „mäh“ herauszuhören, die beim Blöken verschluckt werden. Die gegrunzten Laute des Moschusochsen sind besonders komplex, sie erinnern an eine Mischung aus Langschwanzgoral und Gnuziege. Beim seltenen Bergziegen-Dialekt, der zuweilen hölzern klingt, bedarf es schließlich einer Prise Phantasie, um ihn vollständig zu entschlüsseln. Nun, ich weiß nicht, ob du mir diesen ganzen Ziegenmist abkaufst, aber der Moschusochse hat jedenfalls nicht „Halts Maul - Verpiss Dich!“ gesagt, sondern:
„Moooin, ich bin ‚Charly der Büffellord‘. Wer bist du denn? Und was machst du hier? Möcht‘ mich ausruhen. Puuhh.. kein Bock auf so ‘nen Stress am früühen Moorgeeen.“
Das zottelige Tier macht einen friedlichen Eindruck, es gähnt erst mal. Mit kräftigem Gegröle gibt es wenig später leicht angepisst kund:
„Jschou Jschou Cocka umstag kla dos eldenit Lafuna, uaargh! Uhm, jau kas bartchiel luunck azagmul Tañana.“
Auf gut Deutsch heißt das nichts anderes als:
„Hömma, heut’ wird nix mehr überrumpelt, echt nicht! Du, komm doch einfach morgen noch ma‘ wieder.“
Klare Ansage. Der Ochse dreht ihm glatt den Rücken zu. Harry ist zunächst perplex. Doch er denkt nicht im Traum daran, jetzt schon zu verduften. Es brodelt in ihm. Seine Devise: Er oder der Ochse – Einer muss dran glauben. Schließlich ist es ein Duell. Harry bricht die schrille Stille. Zunächst mit einem keifenden Schrei, der sich in die Länge zieht wie eine Sirene mit Wackelkontakt. Gefolgt von Worten, die er pathetisch in den bewölkten Abendhimmel trällert:
„A-t-t-a-c-k-e, A-t-t-a-c-k-e C-o-m-p-a-d-r-e!!! Lohhooos!! Nu komm schon, dummes Vieh!”
Zuviel des Guten, denkt sich der seelenruhige Vierbeiner. Er erhebt sich und trampelt davon, wuchtig durchs morsche Geäst hindurch. Der Wind bläst ordentlich dazu, sein immerwährendes Lied. Harry, mit einer Frisur auf halb acht, jagt wie vom Affen gebissen der haarigen Staubwolke hinterher. Plötzlich, wie aus dem Nichts, eine fiese Kuhle prädestiniert zum Stolpern. Dann Schlammpfützen im Zickzack! Sieht nicht so pralle aus für Harry. Dem falschen Schuhwerk zum Trotz rutscht er weg, geht eindrucksvoll mit Köpper im Schlamm einer Grube baden. Dabei entgleitet ihm die Knarre. Sie fliegt ein paar Meter und landet direkt vor der Schnauze seines gehörnten ‚Freundes‘. Dieser ist derweil am Überlegen:
„Ukk.. Hasi bin Snarcha elón manar azoríel Hoschis dravna boohm Spakkopatastra, esrar kri-kra-krulla...“
Was der Ochse damit meint, liegt auf der Hand:
„Hmm.. fein weiterdösen oder meine geschliffenen Hörner testen, ker is’ schon sooo lange her...“
Während er am Abwägen ist, stampft er völlig gleichgültig auf Harrys Knarre rum, welche nun bei näherem Hinsehen mit dem grobkörnigen Sandboden eine Einheit bildet.
„Astrein“, ruft er stolz. „Punkt für mich!“ Der Ochse spricht auf einmal Deutsch, in tiefster Stimmlage.
Harry hört ihn, laut und deutlich. „Ich glaub mich tritt ein Pferd! Ahhh, ich werd‘ verrückt, Hiilllfee!“ Mit Gesichtszügen, die sonst wohin gleiten und dem Tier fremd erscheinen. Es schaut neugierig, tritt jetzt näher heran.
„Trampel mich nich‘ plaahaaatt! Ich will nonnich‘ steerbeen!!“, stottert Harry. Währenddessen krakelt er noch immer aus dem breiten Schlammloch empor. Das braucht halt seine Zeit. Der Ochse wartet.
Dann stampft er zu Harry rüber, schaut ihm in die Augen und sagt: „Is’ mir völlig Hupe, wat dat für ‘n Gerät war“, und lacht. Dabei leuchten seine Hörner ein wenig.
Harry kann sein Glück nicht fassen. „Meine Knarre ist hin, aber ich lebe. Verdammt noch mal, ich lebe!!“ Schielender Blick in Richtung Himmel, dazu ein geflüstertes „Danke“. „Nicht dafür!“, meint sein Gegenüber mit breitem Grinsen.
Der Ochse würde ja gerne noch mit Harry aufs Leben anstoßen, doch er hat Termine. Er muss bald los. Sonst kommt er nicht mehr rechtzeitig zu seiner Verabredung. Die Moschusdame Cheyenne wartet schon. Das lässt er sich doch nicht entgehen. Harrys Vorschlag kommt wie aus der Pistole geschossen: „Un-entschieden?“
Da muss der Ochse schmunzeln: „Jo geht klar, Kumpel. War echt nett dich kennen gelernt zu haben. Ich mach dann jetzt mal ‘n Sittich. Mach et juut!“ Dann trapst er langsam los.
Harry wischt sich Dreck aus dem Gesicht und schnallt sich seinen Rucksack um, der nicht mit in die Grube gefallen war. Dem charmanten Ochsen mit dem warmen Gemüt wollte er gerade Allet Jute und so wünschen, doch dieser ist schon wieder eingeknackt, nach drei Metern. Trotzdem kommt von Harry noch eine spontane, leicht unverständlich klingende Lobhudelei zum schnarchenden Ochsenhintern, keine drei Meter vor ihm.
„Mensch wie konnt‘ ich nur.. du hast ja wirklich ein Herz aus Holz und das Holz am Herd..“ Ihm fehlen die Worte. Die dicke Wampe des Ochsen plustert sich auf, mit jedem Atemzug küssen die Fellhaare den Boden. Harry würde sich ja dazulegen, aber das Schnarchen schlägt ihn schließlich in die Flucht.
Mühsamen Schrittes entfernt er sich. Vor seinen Augen erstreckt sich ein bergiges Tal, ein schmaler Fluss mit kristallklarem Wasser fließt gemächlich hindurch. Unterdessen reflektiert er noch mal, was geschehen ist. „Wie kann es sein, dass ein Ochse zu mir spricht? War das Schlammloch früher Mal ein Zauberbrunnen? So etwas gibt es doch nicht. Ich muss mir alles eingebildet haben.“ Schroffe Felsen ziehen wie Wolken an ihm vorbei. Ein paar Haufen Steingeröll, alle in Sitzhöhe, zersetzen die Landschaft und verleiten zu einer Pause. Harry greift sich einen Stein mit scharfer Kante und ritzt Hieroglyphen in die Rinde einer jungen Birke. Darunter „Moschusoschuss“. Nach dem Verschnörkeln dreht er sich um, kneift die Augen zusammen und erblickt in der Ferne völlig im Nichts als braune Erhebung ein ruhendes Hinterteil, das sich noch ein letztes Mal hin und her bewegt, bevor es am Horizont verschwimmt.
„Er eilt wohl zu einem wichtigen Termin“, stellt Harry nüchtern fest und erntet ein Gelächter in der Ferne. Dann blickt er wieder nach vorn zu den Wäldern, die am Fuße des Tals beginnen. Für einen kurzen Moment hält er jetzt inne, während er tief ein- und ausatmet. Nichts außer frischer Luft. Harry spürt die Kraft, die ihn umgibt. Er bewegt sich fortan kein Stück mehr und genießt die stille Ruhe bis er ganz in sie eintaucht.
Eine Stunde später. Die Abendsonne verabschiedet sich mittlerweile so langsam: „Tschauuu“. So manch ein Tier ist gerade eingeknackt, ein anderes hellwach. Im ganzen Tal herrscht eine beruhigende, friedliche Stille. Man hört unseren Moschusochsen Charly von weitem, wie er fröhlich vor sich her schlummernd eine Melodie brummt – „Moschusochsen sind guuut... ♫♪♫“ – bevor er in netter Gesellschaft unter seinem Lieblingsbaum eindöst.
Zwei Stunden später. Vor Einbruch der Dunkelheit beschließt Harry, sein Werk zu vollenden.