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Harry Ostermann
Drei Dinge können passieren, wenn ein Baby von einem Meteoriten getroffen wird.
1.) Das Baby stirbt.
Das wird statistisch das häufigste Ergebnis eines solchen Zusammentreffens sein, denn so ein Meteorit ist in der Regel schwer, schnell und kommt aus dem Weltall. Babys nicht.
2.) Das Baby überlebt und erhält wahnwitzige Superkräfte.
Das ist relativ wahrscheinlich. Da so ein Meteorit aus dem Weltall kommt, ist es mehr als plausibel anzunehmen, dass er selbstverständlich wahnwitzige Superkräfte verleiht.
3.) Nichts.
Das ist albern. Würde infolge eines solch spektakulären Ereignisses nichts geschehen, müsste das Ereignis an sich auch gar nicht erst stattfinden. So funktioniert das Universum nicht. Wenn es sich schon die Mühe macht, dann will es auch etwas Spaß dabei haben.
Harald Ostermann wurde im zarten Alter von sieben Monaten von einem Meteoriten getroffen.
Er war gerade dabei gewesen, genüsslich an seinem Zeh zu nuckeln und sich dabei zu überlegen, ob er gleich im Anschluss ein Nickerchen machen oder lieber nur so zum Spaß nochmal nach der Mama rufen sollte, als der Himmel über seinem Elternhaus zu glühen begann, die Wolkendecke sich teilte und ein Stein nicht nur durch das Fenster, sondern auch genau auf die Krippe des kleinen Harald fiel.
Daraufhin ist genau eines von drei Dingen passiert.
Es war einer dieser gewöhnlichen Freitage in Central City, an denen die Menschen mit einem Grinsen zur Arbeit gingen, beim Sprechen lächelten und sich manchmal gegenseitig dabei erwischten, wie sie in vermeintlich einsamen Momenten leise vor sich hin summten.
Man war in Gedanken bereits beim Wochenende und dachte an die vielen schönen Dinge, die man mit der Freizeit anstellen könnte. Partys, zu denen man eingeladen war, Rotwein, den man trinken könnte, und die vielen Ausreden, um nicht auf die Partys gehen zu müssen und stattdessen zuhause Rotwein trinken zu können.
In der Big International Bank im genauen Zentrum der Stadt hatte so ein Freitag traditionsgemäß noch eine weitere Bedeutung. Die Mitarbeiter wussten aus Erfahrung, dass irgendwann im Laufe des Tages irgendein wahnsinniger Pinguin, eine Gruppe Clowns oder auch mal eine alte Dame im Katzenkostüm die Räumlichkeiten stürmen, mit einem Maschinengewehr die Decke perforieren und dann irgendwas brüllen würde wie "Kohle her, aber zackig!"
So etwas geschah jeden Freitag, denn aus irgendeinem Grund suchten die Bankräuber sich immer diesen Tag für ihre Coups aus. Vermutlich sind Kriminelle auch nur Menschen und arbeiten am liebsten freitags. Die Angestellten der Big International Bank freuten sich jedenfalls die ganze Woche auf diesen Moment. Es war eine willkommene Abwechslung zum sonstigen Alltag und bot normalerweise für mindestens zwei Stunden eine gute Unterhaltung und hinterher ein prima Gesprächsthema für jene Partys am Wochenende, für die man keine Ausrede gefunden hatte.
Die Big International Bank verdankte ihren Namen übrigens einem etwas übermotivierten, aber hoffnungslos unkreativen PR-Manager, der im Zuge einer Imagekampagne vor etwa zehn Jahren den Vorstandsvorsitzenden nach dessen Vorstellungen für einen neuen Namen gefragt hatte.
"Was soll der Name implizieren?", hatte er gefragt. "Was möchten Sie dem Kunden mitteilen?"
"Nun", war die Antwort. "Wir sind eine Bank. Das ist schonmal wichtig. Und wir operieren weltweit. Und wir sind groß. Das sollte aus dem Namen klar hervorgehen, soviel ist sicher."
An diesem Freitag jedenfalls ließ der wöchentliche Banküberfall auf sich warten. Gegen drei Uhr nachmittags wurden die Angestellten ein wenig nervös und begannen, sich gegenseitig mit schalen Witzchen von der Tatsache abzulenken, dass sie alle das gleiche dachten. Was, wenn wir heute tatsächlich unterbrechungsfrei arbeiten müssen? Oder schlimmer: Was, wenn der Räuber drei Minuten vor Feierabend kommt? Was, wenn er dann noch Geiseln nehmen will? Heute war doch das große Spiel im Fernsehen!
Es war gegen viertel vor sechs, als Heidi Schmidt-Lupinski, die Kassiererin von Kasse sechs, endlich die maschinengewehrtragende Silhouette eines Mannes hinter der Milchglastür ausfindig machen konnte. Verärgert über die Verspätung, aber auch ein wenig aufgeregt gab sie ihrer Kollegin einen Knuff und deutete Richtung Tür. Beide wussten sofort, was das bedeutete. Überstunden.
"Kohle her, aber zackig!", bellte der Mann mit dem Kartoffelsack auf dem Kopf und feuerte eine Salve in die Decke. Hinter ihm betraten drei weitere Kartoffelsackträger die Bank, warfen ihre dicken Reisetaschen auf den Tresen und deuteten den Kassierern, sie vollzumachen. Kleine MU-Scheine, nicht nummeriert, keine faulen Tricks, das Übliche eben.
Unter jeder Kasse gab es extra zu diesem Zweck eine Schublade mit eben solchen Banknoten, was die Sache für alle Beteiligten deutlich vereinfachte. Daneben gab es noch einen Knopf, der im direkt benachbarten Polizeirevier eine rote Lampe erstrahlen ließ. Ebenfalls eine Vereinfachung für alle Beteiligten.
Die Polizei hatte sich im Laufe der Zeit eine erstaunliche Routine erarbeitet. Wie im Halbschlaf rückten die Beamten aus, nahmen die zehn Meter zur Eingangstür der Bank im gemütlichen Spazierschritt und postierten sich an der Tür.
"Nehmen Sie die Hände hoch und verlassen Sie die Bank!", erschallte es aus dem Megaphon. "Das Gebäude ist umstellt."
"Niemals!", erschallte es zurück. "Wir haben Geiseln." Ein Murren machte sich unter den Angestellten breit. Ausgerechnet heute, wo doch nachher das Derby zwischen dem Central City Club und dem Far Town Sportsteam stattfand.
"Na gut", kam es routiniert und etwas gelangweilt zurück. "Wie lauten Ihre Forderungen?"
"Pff... mal sehen..." Die Räuber steckten die Köpfe zusammen, wobei immer einer die Geiseln im Auge behielt, und beratschlagten sich. "Wir wollen einen Fluchtwagen!", brüllte ihr Anführer schließlich. "Und Pizza für die Wartezeit!"
"Könnten wir einen Fernseher bekommen?" Walther Mömper, der Filialleiter, hatte schon genug Geiselnahmen mitgemacht, um zu wissen, worauf es in solch einer Situation ankommt. "Nachher ist doch das Spiel. Die Far Towns kommen."
"Oh ja. Guter Punkt", sagte der Anführer. Und - deutlich lauter: "Wir wollen einen Fernseher! Und zwar nicht so 'ne olle Röhre, sondern so einen modernen, flachen. Mit HD!" Einer der anderen Räuber verpasste ihm einen Knuff. "Äh... ich meine 4K! Und Chips. Ordentliche, und nicht diesen billigen Discountscheiß!"
Und so lief die ganze Geschichte eine ganze Weile ereignislos vor sich hin. Man tauschte Forderungen, wartete und sah nebenbei Chips mampfend fern. Irgendjemand gähnte.
Irgendwann, es mochte so gegen zehn Uhr abends gewesen sein, schreckte ein Knall die Anwesenden aus ihrer Routine. Der schwarze Golf knatterte sich seinen Weg durch die Polizeisperre und blieb direkt vor dem Eingang der Bank stehen. Eine weitere Fehlzündung später hatte er den gesamten Bereich in schwarzen Rauch gehüllt, der, nachdem er sich wieder gelichtet hatte, zwei Gestalten preisgab.
Eine von ihnen war ein wenig dicklich, ein wenig über vierzig und trug einen, an einigen Stellen vielleicht ein wenig zu engen, schwarzen Ganzkörperanzug nebst farblich passender Gesichtsmaske. Auf ihrer Brust prangte ein dickes gelbes "E". Die andere Gestalt war ganz offensichtlich weiblich, trug einen knallgelben Anzug, der in Sachen Silhouette nichts der Fantasie überließ, und war mit der ersten Gestalt verheiratet.
Elisabeth Ostermann übernahm dann auch sofort resolut die Führung und schob ihren Mann in die Bank.
"Oh nein! Es ist Easterman!" Die Räuber warfen ihre Chipstüten in die Ecke, schnappten sich ihre Waffen und eröffneten sofort das Feuer. Doch sie hatten keine Chance gegen den Superhelden. Er war in seinem meteoritengestählten Körper natürlich nicht nur kugelsicher, sondern sein Bauch hatte zudem die praktische Eigenschaft, Projektile in gleichem Winkel abprallen zu lassen, wodurch sie dem Schützen die Waffe aus der Hand schossen. Vorausgesetzt, dieser bewegte sich während dieser Zeitspanne nicht. Ansonsten waren die Folgen unberechenbar.
"Schnapp sie dir, Liebling", feuerte Elisabeth ihren Gatten an und lehnte sich danach zufrieden an die Wand, um das Schauspiel zu genießen. Ihr Teil der Arbeit war getan. Mit schlafwandlerischer Sicherheit wandelte Harry Ostermann durch die Bank, packte die Räuber am Kragen und warf sie einfach aus der Tür, wo sie von der Polizei aufgesammelt wurden.
Harry Ostermann war kugelsicher. Er konnte mit seinem Hitzeblick ganze Häuserblöcke zum Schmelzen bringen, schneller rennen als eine Wildkatze bergauf, binomische Formeln ausrechnen, hatte einen Eisatem und konnte an einem guten Tag auch mal ein paar Meter weit fliegen. Harry Ostermann war ein Superheld.
Und er schlafwandelte.
...
"Guten Morgen, mein Schatz." Harry Ostermann gähnte herzhaft und schlappte in seinen Wohlfühlpantoffeln Richtung Frühstückstisch, gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn und warf im Hinsetzen einen flüchtigen Blick auf die Morgenzeitung, die Central City Newspaper, bevor er sich den ersten Schluck Kaffee des Tages genehmigte.
"Dir auch, Liebling." Elisabeth trug ihren Morgenmantel und war bereits dabei, ihr Frühstücksei aufzuklopfen. Die beiden hatten irgendwann die Vereinbarung getroffen, am Wochenende abwechselnd für das Frühstück zuständig zu sein. Diese Woche war sie an der Reihe. "Hast du gut geschlafen?"
"Ganz hervorragend. Ich fühle mich wie neu geboren. Fast, als hätte ich gestern Nacht Sport gemacht."
"Das ist toll, Liebling. Butter?"
"Ja, bitte. Ich habe nur so ein seltsames Drücken in der Magengegend." Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle, an der er gestern Abend von einem besonders scharfkantigen Projektil getroffen worden war.
"Ein Drücken? Hast du etwa wieder vor dem Schlafengehen an den Chilischoten geknabbert?" Jeder Mensch hat irgendein Laster. Manche essen Schokolade, andere schlagen sich die Bäuche mit Kartoffelchips voll. Harry Ostermann hatte eine Vorliebe für Chilischoten. "Du weißt doch, dass du das nicht verträgst", fuhr Elisabeth tadelnd fort und reichte ihrem Mann die Butterdose.
"Nein, natürlich hab ich das nicht. Und wenn, dann allerhöchstens eine ganz kleine." Harry schmierte sein Brötchen, wobei die Zeitung wieder in sein Blickfeld rutschte. "Oh, war gestern Nacht wieder ein Banküberfall?"
"Ja, Schatz. So viel Aufregung und wir haben es mal wieder verschlafen."
"Easterman... Pff! So ein Blödsinn", schnaubte Harry Ostermann verächtlich. "Ich finde ja, man sollte solche Sachen der Polizei überlassen." Er schaute auf das Bild neben dem Artikel und für einen kurzen Moment erkannte Elisabeth einen merkwürdigen Ausdruck seinen Augen. Erinnerung vielleicht?
"Naja, ich finde das schon edel", sagte sie schnell. "Ich meine, wenn man nun einmal Superkräfte hat, dann kann man sie doch für das Gute einsetzen."
"Ich weiß nicht", fuhr Harry fort. "Was, wenn das jeder machen würde?"
"Es hat ja nicht jeder Mensch Superkräfte wie Easterman."
"Du scheinst ja ganz schön angetan von ihm zu sein. Muss ich mir Sorgen machen?"
"Ach, weißt du... wer hätte nicht manchmal gerne einen Helden um sich herum."
"Wer weiß", grinste Harry. "Vielleicht bin ich ja auch ein Held." Er verdeckte sein Gesicht mit einer Hand und hielt mit der anderen die Zeitung mit Eastermans Bild auf der Titelseite neben seinen Kopf. "Siehst du die Ähnlichkeit? Verblüffend, oder?"
"Ja, Schatz. Wie eineiige Zwillinge." Sie lachten und tauschten vielsagende Blicke. Beide jedoch aus unterschiedlichen Gründen.
...
Der Samstagnachmittag gehörte traditionell den jeweiligen Interessen der beiden Eheleute.
Während Harry im Keller den neuen Bahnhof für seine Modelleisenbahn bastelte - er war sehr stolz darauf, dafür keine vorgefertigten Sets zu benutzen, sondern alles selbst zu bauen - hatte seine Frau ihre Staffelei im hinteren Teil des Gartens aufgebaut. Sie malte für ihr Leben gerne, am liebsten Sonnenblumen, und hatte extra dafür einen Teil des Gartens als offizielles Sonnenblumenbeet deklariert. Dort, wo das Licht mittags am schönsten war.
"Ich glaube, du hast dich verzählt", mäanderte eine Stimme über den Gartenzaun. Saskia Schmidt, Nachbarin und eine von Elisabeths ältesten und besten Freundinnen. "Die Blume hat in Echt viel mehr Blütenblätter. Ich fürchte, das musst du nochmal machen."
"Ich geb dir gleich nochmal", lachte Elisabeth. "Das zählt doch eh keiner nach."
"Wie geht es Harry? Ich hab gelesen, dass ihr gestern wieder auf der Straße wart?"
"Sein Bauch drückt."
"Oh." Saskia hielt sich besorgt die Hand vor den Mund. Sie wusste, was das bedeuten konnte. Jeder in der Stadt wusste es, bis auf Harry Ostermann. "Jemand hat ihn angeschossen?"
"Nicht so schlimm. Er ist ja unverwundbar. Ich habe ihm eingeredet, dass das Grummeln von den Chilis kommt."
"Das ist gut. So etwas wie damals darf einfach nie wieder passieren."
Im Keller stieß Harry derweil auf ein viel elementareres Problem. Das Rot war alle. Und wie sollte man bitte das Dach eines Hauses anmalen, wenn man keine Farbe für die Ziegel hat? Eben.
Er gab ein verärgertes Schnauben von sich und ging die Treppe hinauf, auf der Suche nach dem Autoschlüssel. Vielleicht hatte Günthers Modellbauladen noch geöffnet.
"Ich finde diese ganze Sache ja immer noch mehr als riskant", fuhr Saskia hinten im Garten fort.
"Wir haben damals abgestimmt. Die ganze Stadt. Du warst dabei."
"Ja. Aber was, wenn sich mal jemand verplappert? Oder wenn du einen Fehler machst?"
"Was für einen Fehler sollte ich denn machen?", fragte Elisabeth. Auch, wenn sie es niemals zugeben würde, hatte sie die Frage ein klein wenig gekränkt.
"Ich weiß nicht... Wenn er zum Beispiel eure Anzüge findet. Oder den Wagen."
"Die Anzüge sind in der Geheimkammer und die Zeitung achtet penibel darauf, dass unser Wagen niemals..." Sie stockte. "Verdammt!"
Harry Ostermann öffnete das Garagentor. Als das einfallende Sonnenlicht auf die Motorhaube des schwarzen Golfes fiel, hatte er für einen Moment das Gefühl, als würde er sich an irgendetwas Dringendes erinnern müssen. Als würde ein Gedanke tief in seinem Unterbewusstsein schlummern und nur darauf warten, endlich gedacht zu werden. Er blieb eine Weile unschlüssig stehen und fragte sich, wo er seinen Wagen heute schon mal gesehen hatte.
Elisabeth Ostermann rannte zurück ins Esszimmer, wo die Newspaper noch genauso auf dem Tisch lag, wie ihr Mann sie vorhin dort abgelegt hatte. Sie musste nicht wirklich hinsehen, um zu wissen, was das Bild auf der Titelseite zeigte. Easterman, seinen weiblichen Sidekick und den schwarzen Golf, dessen Nummernschild sehr deutlich zu lesen war.
Aber der wütende Anruf bei der Redaktion musste warten, denn nun gab es wichtigeres zu tun. Die Tür zum Hobbykeller war offen und Harrys Autoschlüssel lagen nicht in der Schale.
...
"Wie kann ich Ihnen helfen?" Der Mann hinter dem Tresen war nicht Günther. Er war deutlich jünger, trug eine vernickelte Brille und ein veraknetes Gesicht.
"Wo ist Günni?", fragte Harry deshalb. "Hat er sich doch endlich mal frei genommen?"
"Mein Onkel ist angeln gefahren. Ich passe auf den Laden auf." Der Junge, vielleicht sechzehn, zeigte stolz auf das Namensschild auf seinem Hemd. Hallo, mein Name ist Kevin stand dort. "Das erste Mal alleine."
"Okay, Kevin. Dann hätte ich gerne eine Dose Karmesinrot."
"Alles klar, Easterm... ich meine... werter Herr... Kunde."
"Habt ihr auch... Moment. Easterman?"
"Wie bitte?"
"Hast du mich gerade Easterman genannt?"
"Was? Nein... nein, warum?", lachte er nervös. "Das wäre ja albern. Easterman ist ein Superheld."
"Ja. Ja, das stimmt. Albern." Harry zwang sich zu einem Lachen, kaufte eine Dose Karmesinrot, bezahlte mit einem säuberlich in der Mitte gefalteten Zehn-Moneyunit-Schein und verließ nachdenklich das Geschäft.
Etwas stimmte nicht. Erst das Auto und jetzt diese Sache mit dem Namen.
Als er an seinen Golf trat und den Autoschlüssel aus der Jackentasche nestelte, fiel sein Blick zum ersten Mal seit... keine Ahnung, wie lange, bewusst auf das Nummernschild. CC-HO1EM stand dort.
Der Schriftzug brannte sich in Harrys Netzhaut, bahnte sich seinen Weg durch seine Synapsen, suchte in den tiefsten Ecken seines Unterbewusstseins nach einer Information, die dort seit Zeiten schlummerte, an die er sich nicht erinnern konnte. Der Gedanke öffnete eine imaginäre Tür, durchwühlte diverse staubige Kisten und setzte sich schließlich erschöpft an den imaginären Frühstückstisch in Harry Ostermanns mentaler Küche. Sein Blick fiel auf den Tisch, fiel auf die Morgenzeitung, fiel auf das Titelbild, fiel auf den dort abgebildeten Wagen, fiel auf dessen Nummernschild. CC-HO1EM stand dort.
Harry schaute auf die Fahrertür seines Wagens, wo er sich in der Scheibe reflektierte. Er nahm seine Hand und verdeckte den oberen Teil seines Gesichts, so dass er zwischen den Fingern hindurchschauen konnte und sah in sein Spiegelbild.
Er trat zurück in den Laden.
"Sag mal, Kevin", begann Harry.
"Ja?"
"Kannst du mir einen Gefallen tun?"
"Na... Natürlich."
"Nimm doch mal diese Dose in die Hand", er reichte Kevin das Karmesinrot, "und wirf sie mir an den Kopf. So hart, wie du kannst."
"Wie bitte?"
"Ich würde gerne sehen, was passiert."
...
"Bin bei Günni. Gleich zurück."
Elisabeth schaute zum gefühlt hundertsten Mal auf die Worte in ihrer Hand. Sie hatte den Zettel inzwischen derart häufig in ihrer Hand hin und her bewegt, geknickt und geknüllt, dass die Schrift kaum noch zu lesen war.
"Ganz ruhig", sagte Saskia, die auf dem Fahrersitz saß und ihren alten Kombi zielsicher durch den Samstagnachmittagsverkehr lenkte. "Wir werden ihn schon finden."
"Was, wenn wir zu spät kommen?" Elisabeth fuhr sich mit der Hand panisch über die Stirn. "Was, wenn er sich erinnert?"
"Das wird er nicht. Keine Angst." So zuversichtlich Saskia auch klingen mochte, ertappte sie sich selbst dabei, wie sie noch etwas stärker auf das Gaspedal trat.
...
Mit quietschenden Reifen hielt der schwarze Golf in der Ostermannschen Einfahrt. Harry öffnete die Autotür und lief schnellen Schrittes ins Haus.
"Elisabeth?", rief er wütend. "Wo bist du? Was ist hier los?"
Er durchsuchte das Haus, jeden Raum, doch von seiner Frau keine Spur. Er ging in den Garten, wo die Staffelei mit dem begonnenen Sonnenblumenbild einsam vor sich hin trocknete und jedem, der es sehen wollte, mitteilte, dass Elisabeth Ostermann nicht die beste im Zählen war.
Er ging hinunter in den Keller, wo das Miniaturholzhäuschen immer noch auf Vollendung wartete. Wie lange lief das schon so, fragte er sich. Wie viele Jahre hatte er hier gesessen und sein Leben mit der Eisenbahn vertrödelt? Wie lange hatte sie ihn schon belogen? Harry Ostermann nahm das unfertige Haus, und schmetterte es gegen die Wand, wo es in tausende Splitter zerbarst. Er trat gegen den Stuhl, der gegen seinen Basteltisch prallte und ebenfalls in seine Teile zersprang. Er schlug mit der blanken Faust in die Wand, wo sie eine etwa blankfaustgroße Delle hinterließ. Er stieß die Werkbank um, die mit einem lauten Knall auf dem Boden landete und eine Falltür offenbarte. Er kickte gegen den Schraubstock, der... Falltür?
Tatsächlich! Sonst verborgen unter der massiven Werkbank sah Harry Ostermann nun eine Klappe im Boden des Kellers. Und, jetzt wo er darauf achtete, erkannte er auch Kratzspuren auf dem Beton, die darauf hindeuteten, dass die Werkbank häufiger verschoben worden sein musste. Er kniete sich hin, öffnete die Falltür und kletterte die Leiter hinab in die Dunkelheit.
Instinktiv suchte er nach einem Lichtschalter, doch dann trat eine weitere seiner Erinnerungen hervor. Er hob seine rechte Hand und schnippte mit dem Daumen gegen den Zeigefinger. Eine Flamme entsprang seinen Fingern und schwebte wenige Zentimeter über seiner Handfläche. Im flackernden Licht des Feuers sah er sich um.
Die Wände der kleinen Kammer waren mit Zeitungsartikeln behängt. Heldentaten des großen Easterman, der mit schlafwandlerischer Sicherheit und begleitet von seinem Sidekick Nacht für Nacht die Straßen von Central City von allerlei Schurkerei befreite. Der Banküberfall von letzter Woche Freitag, der Museumsdiebstahl am Mittwoch davor, der Banküberfall von vorletzter Woche Freitag, die Katze im Baum des Stadtparks, der Banküberfall von vorvorletzter Woche Freitag und so weiter.
In der Ecke stand ein alter Kleiderschrank. Harry öffnete ihn und ihm fielen drei Anzüge entgegen. Einer war schwarz und trug ein großes gelbes "E" auf der Brust, der zweite war grellgelb und eindeutig weiblich geschnitten.
Es war dieser Moment, in dem Harry Ostermann endgültig klar wurde, dass er ein Superheld war. Und es war der nächsten Moment, in dem ihm klar wurde, dass er in Wirklichkeit kein Superheld war.
Der dritte Anzug nämlich war grau und trug einen grünen Schriftzug auf der Brust.
Mad Harry
...
Als sie den blutüberströmten Körper Kevins neben dem Tresen liegen sah, musste Elisabeth ein Würgen unterdrücken. In ihrer Zeit als Superheldensidekick Schrägstrich Ehefrau hatte sie natürlich schon einiges gesehen, aber an den Anblick von Blut konnte und wollte sie sich einfach nicht gewöhnen.
"Was ist hier passiert?", fragte eine kreidebleiche Saskia, die hinter ihr den Laden betrat.
"Harry", antwortete Elisabeth tonlos.
"Du meinst..."
"Könnten Sie mir bitte hoch helfen?" Kevin versuchte, sich vom Boden abzustoßen, rutschte jedoch in der roten Lache aus und landete hart mit dem Ellenbogen auf dem Parkett. "Au! Scheiße!", fluchte er.
"Er lebt!", seufzte Saskia erleichtert.
"Natürlich lebe ich."
"Aber... aber, das Blut."
"Was? Das ist Farbe. Dieser Verrückte wollte, dass ich ihm ne Dose an die Rübe werfe. Da ist sie dann abgeprallt und mir an den Kopf geflogen. Hat mich komplett weggehauen." Er hob den Kopf und sah sich im Raum um. "Mein Onkel bringt mich um, wenn er das sieht."
...
Die Erinnerungen prasselten nun im Sekundentakt auf Harrys Bewusstsein.
All die schönen Dinge, die er getan hatte. Die Nummer mit der Rückkoppelungsmaschine im Klärwerk. Die Pinguine mit Mundgeruch, die er auf die Stadt losgelassen hatte. Oder das eine Mal, als er den Bürgermeister in einer Rakete zum Mond hatte schießen wollen. Die Geschichte mit dem kaputten Käse im Supermarkt. Die Gang.
Die Gang!
Er setzte sich hinter das Steuer seines Wagens und gab Gas.
Das Random Shithole war mehr als eine einfache Kneipe im dreckigsten Bezirk der Stadt. Nicht nur gab es hier den schlechtesten Schnaps, die versifteste Dartscheibe, das niederträchtigste Klientel und den grummeligsten Barkeeper der Stadt, sondern dies war auch das Hauptquartier seiner alten Gang gewesen, den Generic Bad Guys.
"Ist es denn die Möglichkeit!", begann Siegfried Kammerhuber und spuckte sein Streichholz, auf dem er bis eben noch herumgekaut hatte, auf den Boden. Der Barkeeper grinste. Breit.
"Das kann nicht sein", sagte einer der Gäste, nachdem er sein Bierglas abgestellt hatte.
"Es ist eine Falle", sagte ein anderer. Immer mehr Stimmen wurden nun laut und redeten durcheinander.
"Aber er trägt den richtigen Anzug."
"Nach all der Zeit?"
"Jemand sollte ihn fragen, was er vorhat."
"Geh du doch, wenn du dich traust."
"Ich nehm nochmal drei Bier."
"Ich verstehe das nicht! Ist das dieser Mad Harry, von dem ihr immer redet?"
"Endlich geht es wieder los! Wie in alten Zeiten."
"Mach doch lieber vier draus."
Harry Ostermann tat im ersten Moment nichts. Er stand einfach nur in der Tür und verschränkte die Arme vor der graubespandexten Brust. Er bereute etwas, dass in dem Laden kein Lüftchen wehte und sein Superschurkenumhang deshalb nicht effektvoll in ebenjenem Wind wehen konnte. Im zweiten Moment ließ er einen kleinen Feuerball aus seiner Hand hervorschnellen, der durch den Raum schoss und die Jukebox in Flammen aufgehen ließ. Im dritten Moment schließlich, als er die Aufmerksamkeit wirklich aller Anwesenden auf sich spürte, öffnete er den Mund.
"Ich bin zurück."
...
Doktor Olaf von Grün war eigentlich gar kein Doktor. Er hatte auch keine adligen Vorfahren. Sein richtiger Name lautete Olaf Grün und genau genommen war auch das gelogen.
"Doktor!" Elisabeth Ostermann hämmerte gegen die Holztür seiner Praxis, öffnete sie, ohne auf Antwort zu warten und stürmte in den Raum.
"Elisabeth. Was machen Sie denn hier?" Er legte den Stift beiseite, mit dem er eben etwas Unleserliches auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. "Sie wissen doch sicher noch, dass die Tür normalerweise nach außen aufgeht?"
"Was? Oh, das tut mir leid. Wir haben ein Problem."
Saskia folgte ihrer Nachbarin etwas weniger stürmisch durch die Trümmer und brauchte ein paar Momente, um den Raum auf sich wirken zu lassen. "Die Praxis", wie er allerseits genannt wurde, hatte nichts mit einer gewöhnlichen Arztpraxis gemein. Zumindest, wenn man vom Schreibtisch und dem Arzneischrank in der Ecke absah.
Drei der vier Wände waren komplett mit elektronischem Gerät vollgestellt. Dort standen mehrere Serverschränke, in denen es hektisch und manchmal seltsam synchron vor sich hin blinkte. Diverse Monitore standen und hingen irgendwo dazwischen und zeigten irgendwelche Diagramme oder Programmcode, der rasend schnell durch die geöffneten Programmfenster rannte. Teilweise über mehrere Monitore hinweg. Ein Bildschirm war komplett Schwarz, abgesehen vom Wort "Absinth", das in großen weißen Buchstaben oben rechts in der Ecke stand.
Es gab ein paar Tischchen, auf denen Mikroskope standen, Glasröhrchen, sowie Dinge mit Antennen, Drehrädchen, Knöpfen und Anzeigen mit Einheiten, von denen Saskia in ihrem Leben noch nie etwas gehört hatte. Mikrodelta, Tangentialmembran oder Optimalsenke, um nur einige zu nennen.
"Harry?" Der Doktor nahm in einer dramatischen Geste seine Brille von der Nase.
"Ja." Elisabeth senkte den Kopf.
"Ist es etwa geschehen?" Er schlug mit den flachen Händen auf die Schreibtischplatte und erhob sich ruckartig aus seinem Stuhl. Beinahe so, als hätte er den Rückstoß der Schläge als Antrieb für sein Hinterteil genutzt.
"Ich fürchte, ja. Wir waren gerade bei uns zuhause. Er hat die Garage verwüstet und den Geheimraum gefunden."
"Aber... wie konnte das passieren?"
"Ich schätze", sagte Elisabeth und schluckte, "er hat ein Bild in der Zeitung gesehen. Von gestern Nacht. Das muss etwas in ihm ausgelöst haben."
Doktor von Grün ließ sich mit einem schweren Seufzer zurück auf seinen Stuhl fallen. Er öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches und zog die oberste Akte hervor. Ostermann. Damit hatte alles begonnen.
Er gestattete sich einen kurzen Moment der Rückblende und
...
dann war alles sepia.
"Und jetzt lehnen Sie sich zurück und entspannen sich."
"Aber..."
"Herr Ostermann. Wir möchten doch Ihren Schlafstörungen auf den Grund gehen, oder? Und das geht am besten, wenn Sie mir vertrauen."
Wenn man von einem Meteoriten getroffen wird und Superkräfte bekommt, gibt es im Wesentlichen drei Möglichkeiten, mit der Sache umzugehen:
1.) Man hilft alten Damen über die Straße, entschärft unnötig komplizierte Atombombenkonstruktionen, durchkreuzt verrückte Pläne wahnsinniger Superschurken und rettet die Welt, weil es einfach das richtige ist.
2.) Man schubst alte Damen auf die Straße, entwirft wahnwitzig komplexe Atombombenkonstruktionen, erstellt brillante Pläne, wie sie nur ein verfluchtes Genie erstellen kann, und unterwirft sich die Welt, weil es einfach das richtige ist.
3.) Man geht heim und sieht fern.
Harry Ostermann hatte sich damals für die zweite Variante entschieden. Er hatte seine Kräfte früh erkannt und bereits das Mobile über seiner Babykrippe in Brand gesteckt, hatte Babybrei vereist und war an das Keksregal ganz oben im Küchenschrank geflogen. Später hatte er die Nachbarkatze in einen Eisblock verwandelt, der unterkühlten Hanna Brandstetter die Haare versengt, als diese seine pubertären Annäherungsversuche abgeblockt hatte, und eines Tages aus Versehen einen Kühlschrank auf seine Mutter fallen lassen. Irgendwann hatte er sich dann eine Bande aus verruchten Schlägern, halbseidenem Gesocks und schurkischen Ganoven zusammengestellt und aus einer dreckigen Kneipe heraus die Stadt terrorisiert.
Niemand hatte eine Idee, wie man dieser Bedrohung Einhalt gebieten könnte. Mad Harry war unzerstörbar, unverwundbar und damit generell unbesiegbar. Man konnte ihn nicht ausschalten, ihn nicht gefangen halten und ihn schon gar nicht töten.
Bis eines Tages ein unadeliger Nichtdoktor auf die Idee kam, es auf psychischem Wege zu probieren. Er verbrachte Tage und Nächte, die er kurzerhand zu Tagen machte, damit, sich in entsprechende Fachliteratur einzulesen, hypnotisierte die Nachbarskatze, die Profimannschaft des Central City Club (er ließ sie glauben, sie wären die besten in ihrem Sport) und schließlich die stärkste Person, die er kannte: seine Schwester.
Und irgendwann fühlte er sich stark genug, seiner Nemesis gegenüber zu treten. Und durch einen elaborierten Trick, der ebenso hintertückisch wie genial war, gelang es ihm tatsächlich, Harry Ostermann zu hypnotisieren. Er brachte ihn dazu, seine Superkräfte zu vergessen und zu glauben, er wäre ein ganz normaler Mann, der gemeinsam mit seiner ihn liebenden Gattin in einem kleinen Haus am Rande der Stadt lebte und Spielzeugeisenbahnhäuschen klebte.
Heute war die dritte Session.
"Fühlen Sie sich schon ganz schläfrig?"
"Ehrlich gesagt..."
"Schließen Sie die Augen. Leeren Sie Ihren Kopf, denken Sie an gar nichts. Da ist nichts, nur der Klang meiner Stimme. Konzentrieren Sie sich auf die Worte, nur auf meine Worte. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Es gibts nichts, was Ihre Ruhe..."
"Doktor!" Elisabeth Ostermann öffnete die Tür, die dabei aus ihren Angeln brach.
"Elisabeth. Wie oft muss ich Ihnen das noch sagen? Ziehen."
"Tut mir leid. Wie geht es meinem Mann?"
"Er schläft." Olaf von Grün warf einen kritischen Blick auf seinen Patienten. "Wenn Sie ihn jetzt nicht geweckt haben. Und er ist nicht wirklich Ihr Mann, vergessen Sie das nicht."
"Nein, ist er nicht."
"Sie sollen nur auf ihn aufpassen. Darauf hatten wir uns geeinigt"
"Ja. Ich passe nur auf ihn auf. Nichts weiter", sagte Elisabeth und dann
...
war wieder alles bunt.
Doktor von Grün warf die Akte auf den Schreibtisch. "Das wäre alles nicht passiert, wenn Sie damals nicht mit diesem Superheldenkram angefangen hätten!"
"Es war eine Möglichkeit, seine Kräfte für das Gute zu benutzen", rechtfertigte sich Elisabeth.
"Sie sollten auf ihn aufpassen. Das war Ihr Job. Nichts weiter!"
"Aber er hat es nie gemerkt. Er ist einfach schlafgewandelt."
"Er hat es offenbar doch gemerkt!" Erneut schlug er mit seinen Händen auf den Tisch. Diesmal blieb er jedoch sitzen. "Wie dem auch sei. Wir müssen das irgendwie reparieren."
"Was kann ich tun?"
"Sie überhaupt nichts. Oder sind Sie jetzt vom Sidekick zum Helden befördert worden?"
"Wer soll es sonst tun? Sie etwa? Oder die anderen? Die sind alle sonst wo in der Welt verstreut. Ich bin die einzige Hoffnung, die wir haben."
"Da ist was dran. Zum Glück war ich auf so etwas vorbereitet." Er öffnete die zweite Schreibtischschublade und holte ein kleines Gerät heraus. "Nehmen Sie das. Suchen Sie Ihren Mann. Schnell!"
Elisabeth Ostermann steckte das Gerät in ihre Handtasche, nahm die immer noch komplett perplexe Saskia an die Hand und beide Frauen verließen die Praxis.
"Finden Sie meinen Sohn", murmelte Doktor von Grün, alias Olaf Ostermann.
...
"Wir könnten Eiswagen klauen und dann tun wir Ziegengift in das Eis."
"Oder... oder, oder wir entführen Hundewelpen und kreuzen sie mit Alligatoren."
"Was soll das bringen?"
"Hundegatoren. Die könnten dich fressen und dir dabei auf den Rasen kacken."
"Okay, ich geb zu, das ist ziemlich clever."
"Habe ich lange drüber nachgedacht", sagte Ulf stolz. Er öffnete eine weitere verstaubte Kiste. Diese war voller Rockerlederjacken. "Cool."
"Mega! Kann ich auch eine?" Ingo öffnete den Knopf seines Clownkostüms. Es wurde Zeit für eine neue Identität. "Aber eine Frage habe ich."
"Ja?"
"Wie willst du das anstellen? Ich meine, Biologisch."
"Was weiß ich. Solche Sachen hat immer der Boss gemacht. Ich liefer nur die Ideen."
"Und überhaupt. Woher willst du die Hundewelpen nehmen? Ist ja nicht so, dass die hier auf Bäumen wachsen. XL bitte."
"Hundewelpen gibts doch überall. Wenn ich abends ins Hauptquartier komme, laufe ich mindestens an drei Stück vorbei. Und du bist niemals XL."
"Wohl bin ich XL! Ich hab abgenommen. Hast du dem Boss die Idee schon gesteckt?"
"Nee. Er ist ja erst seit ein paar Stunden wieder hier. Wo ist er eigentlich?"
"Er hat gesagt, er will was Ordentliches zum Feiern holen."
"In meiner Zeit als Schurke habe ich mich nie so gewürdigt gefühlt wie bei Mad Harry."
"Auf jeden Fall mega, dass er wieder da ist. Endlich gehts wieder los! Aber deinen Plan solltest du vielleicht lieber doch nicht mit ihm teilen. Der hat noch zu viele Schwachstellen."
"Ja, ich gebs zu. Im Detail fehlen noch ein paar Schliffe. Aber deine Idee ist auch kacke, ehrlich gesagt."
"Du meinst, weil niemand von uns weiß, wie man einen Eiswagen fährt?"
"Das und die Tatsache, dass Ziegen nicht giftig sind."
"Und was ist mit Giftziegen?"
"Du meinst Zwerge. Zwerge sind giftig."
"Ich glaube, sie möchten nicht, dass man sie Zwerge nennt. Oder, Heiko?" Heiko nickte.
"Okay. Wie wäre es damit", fuhr Ulf fort. "Wir erzeugen einen Tornado."
"Soweit schonmal schwierig."
"Und dann werfen wir da Haie rein und gucken, was passiert."
"Hast du da noch ne Jacke in XXL?"
Ulf konnte diese Frage nicht beantworten. Denn schon im nächsten Augenblick huschte eine grellgelbe Gestalt durch das Fenster des Lagerraums und verpasste dem Schlägertypen einen Schlag, woraufhin der Typ einmal quer durch den Raum geschleudert wurde und in einem Kleiderständer voller Gorillakostüme zu liegen kam.
"Ulf, bis du okay?", fragte Ingo, nur um im nächsten Moment von einer Abrissbirne in die Magenkuhle getroffen zu werden. Zumindest fühlte es sich so an. Er klappte zusammen und blieb reglos liegen.
Dann erst fielen die ersten Schüsse.
Elisabeth Ostermann hatte keine zwei Versuche gebraucht, um den Aufenthaltsort ihres Mannes zu erraten. Sie brauchte drei.
Nachdem sie sowohl im Hafen, als auch im Bowlingcenter (das Big Bowling Center hatte den selben PR-Berater wie auch die ortsansässige Bank) kein Glück gehabt hatte, war sie nun schließlich im Random Shithole gelandet. Und während Saskia draußen im Wagen saß und auf den richtigen Moment wartete, war sie nun in das Hinterzimmer gesprungen und begann, die Schurken nach und nach zu vermöbeln.
Ein wohlgezielter Karateschlag sorgte dafür, dass der Typ in der Panzerknackeruniform seine Waffe fallen ließ, ein weiterer setzte einen schmierigen Kerl im Businessanzug außer Gefecht, ein dritter Heiko.
Als sie schließlich die Tür in den Hauptraum öffnete, wurde sie von einer Salve Schrotkugeln empfangen, die sie nur knapp verfehlte. Auf der anderen Seite dieses Bleiaustausches stand der Barkeeper, der hektisch nach einer neuen Patrone griff. Nicht schnell genug, um Elisabeth daran zu hindern, einen Stuhl zu greifen und ihn dem Mann an den Kopf zu werfen. Zwei weitere Schläger machten Bekanntschaft mit ihrer Faust, wobei einer durch die Klotür und der andere in die immer noch leicht vor sich hin kokelnde Jukebox geschleudert wurde.
Ein paar Minuten später hockte Elisabeth Ostermann hinter einem umgestürzten Holztisch, der erstaunlicherweise komplett schusswaffenresistent zu sein schien, und sah sich dem letzten Schlägertypen ihres Mannes gegenüber.
"Na, Mäuschen, hast du dich verlaufen?", fragte der und lud seinen Revolver nach. Er feuerte einen Schuss in ihre ungefähre Richtung ab. Die Kugel schlug einen Meter links neben dem Tisch ein. Eine weitere Kugel landete einen Meter rechts neben dem Tisch. Er spielte mit ihr.
"Soll der Onkel dir den Weg zeigen?" Er lachte dreckig. "Ins Grab?" Vermutlich hatte Elisabeth es hier mit dem humoristischen Epizentrum der Gang zu tun. Zwei weitere Schüsse, diesmal schon dichter. Elisabeth hörte seine Schritte, die sich langsam dem Tisch näherten. Noch ein Einschlag, diesmal mittig in die Tischplatte, die sich aber äußerst unbeeindruckt von dem Kontakt zeigte.
Sechs.
Das war der Moment, auf den Elisabeth gewartet hatte. Sie rammte ihre Schulter in den Tisch, der in hohem Bogen in Richtung ihres Widersachers flog und ihn mit einem lauten Poltern zu Boden warf. Sie stand auf und setzte wenige Schritte später dem Mann ihren Schuh auf die Brust.
"Na, Mäuschen", sagte sie spöttisch, als plötzlich unter ihr ein Schuss erklang und ihr das Standbein wegriss. Während Elisabeth aus ihrem Oberschenkel blutend zu Boden sank, während der Schütze sich etwas unsicher erhob und mit einem Grinsen seine Waffe nachlud, während die im Kampf arg mitgenommene Deckenlampe endgültig aus ihrer Verankerung fiel und mit lautem Scheppern auf dem Fußboden landete, öffnete sich die Eingangstür der Kneipe.
"Was ist denn das hier für ein Lärm?", fragte Mad Harry. "Da lässt man euch einmal für ein paar Minuten alleine. Und wie geht es Heiko?" Elisabeth sah ihren Mann, sah die Kiste mit dem Champagner in seiner Hand, den er offenbar irgendwo für die Wiedersehensparty gestohlen hatte. Mit der anderen Hand hielt er Saskia am Arm fest, die sich wild zappelnd zu wehren versuchte, aber keine Chance gegen die Superkräfte des Schurken hatte.
"Hallo Elisabeth", sagte er. "Sieh mal, wen ich draußen gefunden habe." Er gab Saskia einen Schubs und sie stolperte in den Raum, wo sie neben ihrer Nachbarin liegen blieb.
"Hast du das Gerät", flüsterte Elisabeth. Saskia nickte.
"Wie lange, Elisabeth?", begann Harry. "Wie lange hast du meine Frau gespielt? Wie lange hast du mich in dieses Gefängnis gesteckt?"
"Sieben... Sieben Jahre."
"Sieben Jahre. Sieben Jahre!" Harry ließ einen umgekippten Tisch in einer Feuerwolke explodieren. "Hast du eine Ahnung, was ihr mir damit angetan habt?"
Saskia griff in ihre Jackentasche und holte das Gerät heraus. Ein Tonband. Sie drückte auf den Knopf und die Stimme Doktor von Grüns schallte durch den Raum.
"Schließen Sie die Augen. Leeren Sie Ihren Kopf, denken Sie an gar nichts." Es zeigte Wirkung. Harry ließ den Karton fallen, woraufhin die Flaschen auf dem Boden zerschellten. "Da ist nichts, nur der Klang meiner Stimme." Sein Blick wurde leer, seine Augenlider flatterten. "Konzentrieren Sie sich auf..." Es gab einen Knall, als Harrys Handlanger eine Kugel in das Gerät jagte. Und einen zweiten, als er eine weitere Kugel in Saskias Brust folgen ließ.
"Glaubst du wirklich, dass ihr mich mit so einem Trick überlisten könnt?", brüllte Harry. "Mich? Mad Harry?"
"Harry, hör mir zu", begann Elisabeth. "Ja, wir haben dich belogen. Und wir haben dich eingesperrt. Aber... nicht alles war eine Lüge. Ich habe dich wirklich..."
Harry Ostermann holte tief Luft. Das hier war immerhin seine Frau. Er hatte Jahre mit ihr verbracht, hatte ihre Blumenbilder im Haus aufgehängt, hatte ihr Frühstück gemacht. Er konnte sie nicht einfach töten. Andererseits hatte sie ihn belogen. Jahrelang.
Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Eisatem.
...
Doktor von Grün warf die Zeitung auf den Schreibtisch. Die Prügelei im Random Shithole hatte es selbstverständlich auf die Titelseite geschafft. Saskias Name wurde besonders hervorgehoben, da sie die einzige Person war, die an diesem Abend gestorben war. Harrys Handlanger waren zwar übel zugerichtet worden, konnten sich aber offensichtlich vor dem Eintreffen der Polizei retten. Elisabeth wurde an keiner Stelle erwähnt.
Die Nachricht war jedoch nicht der einzige Artikel auf der Titelseite der Central City Newspaper. Direkt daneben stand nämlich in großen Lettern und drei Ausrufezeichen: Mad Harry erneut gesichtet!!!
Er nahm den Hörer von der Gabel und wählte eine Nummer.
"Ja, ich bin es. Wir haben versagt. ... Ja, er ist aufgewacht. ... Vermutlich tot. ... Ja, schrecklich. ... Ich weiß nicht, was er nun vorhat. Vermutlich ... Ja ... Ja, das auch. ... Nein, das eher nicht. ... Siebzehn. ... Ich fürchte, wir haben keine Wahl. Wir müssen das T.E.A.M. zusammenrufen. ... Genau. Code Absinth."
"Das hast du sehr gut gemacht, Kevin."
Das Licht in Günnis Laden erlosch ohne erkennbaren Grund und es wurde sofort stockfinster. Kevin schluckte schwer. Er konnte seinen Besucher in der Dunkelheit nicht erkennen. Musste er auch nicht, die Stimme reichte aus.
"Dein Onkel wäre stolz auf dich gewesen", sagte die Gestalt. Sie hatte eine heisere, beinahe flüsternde Stimme.
"Wäre? Sie... Sie haben doch gesagt, wenn ich Ihnen helfe..."
"Ja. Ja, das habe ich gesagt." Er kicherte. "Der Redakteur der Newspaper dachte auch, dass ich seinen Bruder verschone, wenn er mir hilft."
"Ich verstehe nicht..."
"Das macht nichts, Kevin. Das macht nichts. Manchmal braucht es nur Kleinigkeiten, ein Foto oder einen Namen, um einen Mann auf den richtigen Pfad zurückzuführen."
"Wer sind Sie?"
"Ich bin Destruktor, der Anführer der Evil Alliance. Und Mad Harry wird mir helfen, dass mir schon bald die Welt gehören wird." Er hob seine Hand, in der eine grünlich schimmernde Glaskugel ruhte. Als dann die Kugel grell aufleuchtete und Kevins Kopf sich in eine Pfütze aus Matsch verwandelte, konnte man für einen Moment das vernarbte Gesicht Destruktors erkennen. Er grinste.
"Und dann werde ich sie zerstören."