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Harriet lächelt

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28.02.2003
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Harriet lächelt

Harold und Harriet waren ein ganz normales Ehepaar, wenn auch eines, das vom Glück besonders begünstigt zu sein schien. Sie hatten keinerlei finanzielle Sorgen, bewohnten ein schönes Haus und führten eine rundum harmonische Ehe.

Zumindest waren all ihre Freunde und Bekannten dieser Meinung, die sie oft voller Bewunderung und manchmal auch mit ein wenig Neid darauf ansprachen:
„Wie schafft ihr das nur, nie habt ihr irgendwelchen Streit?“
„Wie kann man nur immer so glücklich sein? Es ist wundervoll, wie perfekt ihr zusammenpasst.“
Harold lächelte dann jedes Mal voller Stolz, zwinkerte verschmitzt – und sagte nichts dazu.
Auch Harriet enthielt sich jeglicher Kommentare, doch in ihrem Lächeln lag kein Stolz. Tatsächlich war es beinahe unmöglich, von Harriets Mimik auf das zu schließen, was in ihrem Inneren wirklich vorging. Sie hatte Jahre gebraucht um diese Fähigkeit zu perfektionieren und gute Gründe, dass das auch so blieb.

Harold war Künstler von Beruf, genauer gesagt, er war Bildhauer. Ob Holz, Stein oder Metall, es gab kaum ein Material, mit dem er nichts anzufangen wusste. Doch am glücklichsten war er, wenn er einen Klumpen Ton modellieren konnte.
„Ich liebe es, diese amorphe Masse meinem Willen zu unterwerfen, ihr eine Gestalt nach meinen Vorstellungen zu geben!“ Der Enthusiasmus, der diese Worte begleitete, ließ seine Augen stets aufs Neue hell und beinahe schon fanatisch erstrahlen.

Harriet hingegen war hauptberuflich damit beschäftigt, Harold zu bewundern. Bei der Vielzahl seiner Elaborate hatte sie alle Hände voll zu tun, ihn in seinem Schaffensdrang zu bestärken und sich auf seinen zahlreichen Ausstellungen lächelnd als die hingebungsvolle Ehefrau zu präsentieren.

Das wohlwollende Publikum nahm ihre aufopferungsvolle und stetige Präsenz bewundernd zur Kenntnis; eine Frau, die ganz und gar in der Arbeit ihres Mannes aufging und damit absolut zufrieden schien.
Und Harriet lächelte ob der vielen Komplimente, lächelte ihr liebliches Lächeln doch es lag keinerlei Stolz darin. Ihr Lächeln war auch bar jeglicher Freude oder Zufriedenheit, doch es war perfekt. Deshalb machte sich niemand die Mühe, auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, was es mit Harriets Lächeln auf sich hatte.

Ein lächelnder Mensch war ein glücklicher Mensch, so einfach war das.
Doch Harriet war alles andere als ein glücklicher Mensch und so einfach war es leider überhaupt nicht.
Sie stellte nicht einmal besonders hohe Ansprüche, sie bewunderte Harolds Werke in der Tat und wäre mit ihrem Leben durchaus auch zufrieden gewesen, wenn nicht …

Wenn da nicht diese große, schwarze Schiefertafel gewesen wäre, die in ihrer Küche an der Wand über der Anrichte dräute wie eine zweidimensionale Gewitterwolke.
An sich wäre an großen schwarzen Schiefertafeln nichts auszusetzen, sie können sogar recht praktisch sein. Das Problem war vielmehr das, was sie repräsentierte.

Die große schwarze Schiefertafel war, wie könnte es auch anders sein, Harolds Idee gewesen, ein Einfall, der ihn mit besonderem Stolz erfüllte und der in seinen Augen den Erfolg ihrer wunderbaren Ehe ausmachte.
Harold war zwar durch und durch Künstler, doch dabei hatte er seinen Sinn für praktische Dinge nicht verloren. Alles musste harmonisch, übersichtlich, geordnet und vor allem nachvollziehbar sein. Und besonderes Gewicht legte er auf das Prinzip von Ursache und Wirkung.

Nun stellte aber eine Ehe, mochte sie auch noch so harmonisch verlaufen, eine permanente Gefahr für all diese Werte dar: Partnerschaften neigten gerne zur Irrationalität, zu Chaos und zu gefühlsmäßigen Ausbrüchen, die kein normal denkender Mensch nachvollziehen konnte. Es gab Auseinandersetzungen wegen der nichtigsten Anlässe und am schlimmsten war es, wenn beide Partner gleichzeitig der Ansicht waren, in wichtigen Punkten das Sagen zu haben – und sich dann entsprechend benahmen.
All das hatte Harold zu einem konsequenten Ehegegner gemacht, bis zu dem Tag, an dem er
1. Die großartige Idee mit der Schiefertafel gehabt, und
2. in Harriet die dazu passende Frau gefunden hatte.

Harriet war, als sie sich während einer Ausstellung kennengelernt hatten, ein wenig verhuscht gewesen, eine Frau ohne nennenswertes Selbstbewusstsein. jedoch gesegnet mit Liebe zur Kunst und einem ausgeprägten Sinn für alles Ästhetische.
Ihr Äußeres wirkte eher farblos, unscheinbar im Sinne von etwas Unfertigem. Ein Rohdiamant, dem nur die erfahrenen Hände eines Meisters den nötigen Schliff zu geben brauchten, damit er in wunderbarem Glanz erstrahlen würde.
Sie erschien Harold wie das lebendige Pendant zu einem seiner Lehmklumpen: formlos, grau und unansehnlich, doch sobald er ihm Leben eingehaucht und ihn zurechtmodelliert hätte, würde er ein unverwechselbares Kunstwerk darstellen.
Mit ihr, so entschied Harold, könnte er es riskieren, sie bedeutete keine Gefahr für sein Bedürfnis nach Ordnung, nach Kontrolle und Überschaubarkeit und dafür liebte er sie von ganzem Herzen.

So geschah es dann auch, Harriet wurde Harolds Frau, wurde unter seinen Händen zur hübschen, genügsamen, stetes so sanften und deshalb allseits bewunderten Ehefrau.
Anfangs war sie überzeugt, das große Los gezogen zu haben. Harold war klug, war tatkräftig und immer nett zu ihr. Ihre mangelnde Entschlußkraft störte ihn nicht, im Gegenteil, er nahm ihr selbstverständlich alle lästigen Dinge ab. Er verlangte auch nicht viel von ihr, ihr oblagen lediglich die Haushaltspflichten – und sie musste natürlich in der Öffentlichkeit stets an seiner Seite sein.

Obwohl Harold seine Frau gerne mit dem Klumpen Lehm verglich, den er so erfolgreich geformt hatte, musste er für ihre Umwandlung andere Werkzeuge anwenden. Er konnte schlecht auf der Drehscheibe ihre wenigen Kanten glattschleifen und der Brennofen kam natürlich auch nicht in Frage. Diesen Zweck erfüllte – die große, schwarze Schiefertafel, die er am ersten Tag ihrer Ehe in der Küche an die Wand montierte.

Harriet hatte sie zuerst etwas irritiert betrachtet, erschien sie ihr doch ziemlich groß, um als Einkaufsliste oder Notizblock zu dienen.
Doch dann hatte ihr Harold sehr geduldig auseinandergesetzt, was es damit auf sich hatte.

„Diese Tafel“, so dozierte er mit stolzbebender Stimme, „wird das Barometer für den Zustand unserer Ehe.“
Er erntete einen weiteren, verständnislosen Blick.
„Schau Liebes, ich bin für klare Verhältnisse und jeder soll zu jeder Zeit wissen, woran er ist.“
Er nahm ein Stück Kreide und begann, eine Art Tabelle auf den schwarzen Untergrund zu malen. In die vorderste Spalte kam das heutige Datum, in die daneben wurde mit grüner Farbe die Zahl 500 eingetragen. Die beiden restlichen Spalten blieben leer.

Harriet versuchte nach wie vor vergeblich, hinter den Sinn des Ganzen zu kommen.
„Wofür stehen diese 500?“ wagte sie zaghaft zu fragen. „Und was haben die mit dem heutigen Tag zu tun?“
Ein zärtliches Lächeln umspielte Harolds Mundwinkel. „Heute ist der erste Tag unserer Ehe und du bekommst 500 Pluspunkte dafür, dass du mich geheiratet hast.“

„Aha.“ Sie nickte verstehend, wenn es ihr auch etwas eigenartig erschien. Doch da sie über keinerlei Erfahrung in Sachen Partnerschaften verfügte, wunderte sie sich nicht allzu sehr.

„Das Ganze funktioniert folgendermaßen“, dozierte Harold weiter. „Jedesmal, wenn du etwas tust was mir gefällt, bekommst du Pluspunkte gutgeschrieben. Wenn du etwas machst, was ich nicht so gut finde, werden dafür dann natürlich auch Punkte abgezogen.“ Er wies auf die noch leere Spalte neben den 500. „Die werden dann hier eingetragen, in roter Farbe. „In die letzte Spalte kommt dann der Übertrag, der Tagesstand also. Je nach dem, ob du im Plus oder im Minus liegst, wird er in rot oder grün notiert.“

Harriet nickte erneut, das System erschien ihr soweit verständlich. „Aber wofür sind die ganzen Punkte?“ Wollte sie dann wissen. „Ich meine, was bekomme ich dann dafür?“

Harold war begeistert, dass seine neue Frau sich so bereitwillig damit auseinandersetzte. „Für die Pluspunkte werde ich dir deine Wünsche erfüllen. Wenn du etwas Größeres haben möchtest, kannst du sie dir natürlich auch aufsparen, bis du die nötige Punktzahl erreicht hast.“

„Das ist ja wie ein Payback-System!“ Harriet freute sich, denn damit kannte sie sich aus. Dann stutzte sie. „Aber was ist, wenn ich mal im Minus liege?“

„Dann sehe ich mich leider gezwungen, dir etwas zu streichen, was dir Freude gemacht hätte.“ Harold lächelte beruhigend über den besorgten Gesichtsausdruck seiner Frau. „Anderenfalls würde ein reines Belohnungssystem ja keinen Sinn machen. Aber sorge dich nicht, ich bin überzeugt, dass das praktisch nie der Fall sein wird.“

Harriet strich sich mit einer fahrigen Handbewegung durch die Haare. Dabei stieß sie versehentlich mit dem Ellenbogen ihre Kaffeetasse vom Tisch und das zarte Porzellan zerschellte auf den Küchenfliesen.

Harolds Augenbrauen wanderten hinauf bis zum Haaransatz. „Siehst du, das gehört zu den Dingen, die ich nicht sonderlich schätze. Das Geschirr war teuer und sollte achtsam behandelt werden.“ Er erhob sich, schritt zur Tafel und notierte in die bisher leere Spalte: „Eine zerschlagene Tasse, das macht 10 Minuspunkte.“ Quietschend zog die rote Kreide ihren erbarmungslosen Strich über den Schiefer, ein Geräusch, das Harriet im Laufe der Zeit noch hassen lernen sollte.

„Es tut mir so leid“, sagte sie und fühlte sich wie ein absoluter Versager.
„Aber das ist doch nicht weiter schlimm, du liegst ja noch 490 Punkte im Plus“, wurde sie von Harold liebevoll getröstet. „Trotzdem müssen wir dringend an deiner körperlichen Koordination arbeiten und etwas gegen deine Nervosität unternehmen.“ Harriet nickte nur.

„Bevor ich es vergesse, ich habe noch etwas für dich.“ Harold überreichte ihr eine Mappe mit diversen fein säuberlich bedruckten Seiten. „Darin findest du eine genaue Aufstellung, was alles mit wieviel Plus- bzw. Minuspunkten bewertet wird. Na, was sagst du dazu?“

Er schaute gespannt zu ihr herüber und Harriet beruhigte sich etwas. „Ich denke, damit kann ich mich anfreunden“, meinte sie dann. „Es ist sehr praktisch, denn so weiß ich immer, wo ich stehe.“

„Du wirst die perfekte Ehefrau werden!“ Harold gab ihr einen zärtlichen Kuß und beglückwünschte sich in Gedanken zu seiner ausgezeichneten Wahl. So war die Welt der beiden zunächst einmal in Ordnung.

~***~

Die folgenden Wochen verbrachte Harriet in erster Linie mit dem Auswendiglernen von Harolds Listen. Niemals hätte sie geahnt, was man in einem Haushalt alles falsch machen konnte und noch immer war sie in vielem so ungeschickt, dass es Minuspunkte nur so hagelte.

Der Vorrat der Hochzeitspluspunkte war schnell aufgebraucht und trotzdem sie auch vieles wieder gutmachen konnte, passierte es irgendwann zum ersten mal, dass Harold sie bestrafen musste.
Sie lag eines Abends zu ihrem Entsetzen 18 Punkte im Minus, das bedeutete, heute würde es für sie keine neue Folge von ‚bei Königs zuhause’ geben, eine Serie, die sie liebte. Doch sie sah ein, dass Harold vollkommen im Recht war, schließlich hatte sie es nicht besser verdient, wenn sie sich so dumm anstellte.

Andererseits war ihre Freude grenzenlos, als sie es kurz darauf auf 150 neue Pluspunkte brachte und diese voller Stolz in ein neues Kostüm von Armani umtauschte.

Harriet lernte schnell und verstand es im Laufe der Jahre immer besser, das zu vermeiden, was Harolds Mißfallen erregte. Sie war vollkommen zufrieden mit ihrem geordneten und überschaubaren Dasein. Wie wundervoll hatten sie es doch, dass sie sich, Dank Harolds genialem Punktesystem, niemals über irgendetwas streiten mussten, da ja alles genauestens geregelt war.

Eines schönen Tages passierte es dann. Harold war leicht angetrunken nach Hause gekommen, hatte im Wohnzimmer noch einen Schlummertrunk genommen und ihr, im Eifer seiner gestenreichen Art zu sprechen, den Inhalt seines Glases über das Kleid geschüttet.

Rotwein auf cremefarbener Rohseide von Dior macht sich selten gut und trotz Harriets augenblicklicher Rettungsversuche war das edle Stück ruiniert. Sie war todunglücklich, schließlich hatte sie fünf volle Wochen lang darauf ihre Punkte gespart, bis sie es sich gestern dann endlich hatte leisten können. Fünf Wochen und 200 Punkte für nichts, in einem einzigen Moment null und nichtig gemacht. Das war nicht fair!

Harriet nahm all ihren Mut zusammen, ging zurück ins Wohnzimmer und brachte ihr Anliegen zur Sprache.
„Das Kleid ist hinüber“, begann sie. „Und ich hatte so lange darauf gespart.“
„Tut mir wirklich leid.“ Harold lallte ein wenig. „Aber wenn du dir Mühe gibst, kriegst du ja schon bald wieder ein neues.“
„Meinst du nicht, dass ich sofort ein neues haben könnte? Schließlich konnte ich ja gar nichts dafür und ich finde, ich habe Ersatz verdient.“

„Sobald du die nötigen Punkte beisammen hast.“ Harold war ein Mann von Prinzipien, aber bei Harriet war jetzt ein Limit erreicht.
„Wieso kriege eigentlich immer nur ich die Miesen? Für das verdorbene Kleid hättest du genauso Minuspunkte verdient.“
„Ich kriege ja auch keine Pluspunkte“, hielt Harold dagegen.
„Aber das ist nicht gerecht!“ Harriet war wirklich aufgebracht und Harolds Augenbrauen wanderten diesmal noch über seinen Haaransatz hinaus. Schlagartig war er völlig nüchtern.
„Für das Beginnen einer Grundsatzdiskussion gibt es 110 Minuspunkte, meine Liebe. Das solltest du eigentlich wissen.“ Er stand auf, ging zur Küche und gleich darauf hörte Harriet das charakteristische Geräusch von Kreide auf Schiefer. Es quietschte immer, wenn Harold auf die Tafel schrieb, doch irgendwie klang die rote Kreide anders als dir grüne. Bösartiger und hämischer.

Harriet war einer Panik nahe. Sie hatte gerade noch ein Plus von 17 gehabt, ergo lag sie jetzt mit 93 im roten Bereich. 93 Minuspunkte, das hieß, sie würden am Wochenende nicht auf die Geburtstagsparty ihrer besten Freundin gehen, ein Ereignis, auf das sie sich schon seit Monaten freute.
Gerade mal zwei Tage waren es noch bis dahin, doch wie sollte sie in dieser kurzen Zeit 93 Minuspunkte wieder wettmachen?

Harold lehnte breit grinsend am Türrahmen, sich ihres Dilemmas nur zu genau bewußt. „Sieht schlecht aus für’s Wochenende“, meinte er gönnerhaft. „Aber wenn du dich an Punkt 28 auf unserer Liste erinnerst, weißt du ja, wie du dir die Party retten kannst.“

Punkt 28, natürlich. Das wäre die einzige Möglichkeit, doch Harriet erschauderte. Punkt 28 brachte 100 Pluspunkte auf einen Schlag, sehr lukrativ, doch Harriet verabscheute oralen Sex und hatte Punkt 28 deshalb vermieden, wo es nur ging. Aber diesmal würde wohl kein Weg dran vorbeiführen.

Harriet erwirtschaftete in dieser Nacht Dank Punkt 28 also ihre 100 Pluspunkte und gleich noch 20 weitere für eine ‚normale’ Nummer mit dazu, doch etwas in ihr war zerbrochen.
Ihr war mit einem Schlag klargeworden, dass in ihrer Ehe etwas vollkommen falsch ablief und sie eigentlich aus tiefstem Herzen unglücklich war.
Das war der Zeitpunkt, von dem an ihr Lächeln nicht mehr von Herzen kam sondern zu einer Maske der Pflichterfüllung mutierte.

Harriet war ein bedächtiger Mensch und so gingen beinahe zwei weitere Jahre ins Land bis sie sie begriff, daß sie endlich selbst etwas würde unternehmen müssen. Sie war wirklich nicht die schnellste, doch einmal zu einer Erkenntnis gelangt, war ihr Gedankenfluss nicht mehr aufzuhalten.
Nicht einmal Harold ahnte etwas von den Dingen, die sich in ihrem Kopf abspielten. Sie lächelte wie immer oft und viel, doch jetzt besaß ihr Lächeln eine neue Ursache: Harriet hatte nämlich einen Plan.

Der ahnungslose Harold glaubte sich im siebenten Ehehimmel, denn seine Frau hatte eine weitere Sprosse auf der langen Leiter zur absoluten Perfektion erklommen.
Der Haushalt lief wie am Schnürchen und in Gesellschaften versprühte Harriet einen neuen Charme, der alle bezauberte.
Die grüne Kreide machte Überstunden auf der Schiefertafel, während die rote langsam Staub angesetzt hätte, wäre sie nicht von Harriet sorgsam und regelmäßig gereinigt worden.

Ihr Punktekonto bewegte sich jetzt im Tausenderbereich, doch sie tauschte nicht einmal ein paar neue Seidenstrümpfe dagegen ein.
„Ich bin eben wunschlos glücklich“, versicherte sie jedes Mal, wenn Harold sie danach fragte. Er wunderte sich häufig, auf was in aller Welt sie nur sparen mochte, doch Harriet tat das jedes Mal mit einem Schulterzucken ab. „Nichts bestimmtes, mir wird schon etwas einfallen, wenn es soweit ist“, sagte die dann immer und lächelte strahlend.
Harold wunderte sich noch mehr, doch als er dann eines Tages diverse Reiseprospekte in einer ihrer Schreibtischschubladen entdeckte, wurde ihm alles klar. Natürlich, ihr zehnter Hochzeitstag stand in einigen Monaten ins Haus, wahrscheinlich wollte sie zur Feier des Tages für sie beide etwas ganz Besonderes, eine Reise in die Karibik zum Beispiel.

Für so etwas Teures gab es zwar keine Entsprechung auf der Liste, doch Harold, von Harriets Fürsorge zutiefst angetan, fand, dass eine solche Reise eine wundervolle Idee wäre. In einem Anfall seltener Großzügigkeit beschloß er, dass er ihr die Reise schenken und ihr beeindruckendes Punktekonto davon nicht angetastet werden würde. Voller Tatendrang machte er sich umgehend auf den Weg ins nächste Reisebüro, um die Flüge zu buchen.
Während andere Ehefrauen solche Sachen von ihren Männern rundheraus fordern, spart sich meine Harriet Punkt für Punkt vom Munde ab, dachte er. Was habe ich doch für ein Glück mit meiner Frau!

~***~


Einen Tag vor dem denkwürdigen Ereignis rückte Harold dann mit seiner Überraschung heraus und überreichte Harriet die Flugtickets. Wie erwartet fiel sie ihm glücksstrahlend um den Hals, versicherte immer wieder, was für ein wundervoller Ehemann er doch wäre und machte sich umgehend daran, die Koffer zu packen. „Das ist genau das, was ich mir gewünscht habe“, sagte sie, fast schon unter Tränen.

Ihr Hochzeitstag empfing sie mit strahlendem Sonnenschein, als ob sich selbst die Natur über ihr Glück freuen würde.
Harriet bereitete ein reichhaltiges Frühstück, denn sie hatte gehört, dass das Essen im Flugzeug grauenhaft sein sollte.
Leise singend werkelte sie in der Küche herum und ließ ihre Blicke immer wieder zur Schiefertafel wandern. 10 000 stand da in fetten grünen Strichen zu lesen und sie hatte diese Zahl mit einem rosa Herzchen umkringelt.
Heute, dachte sie, heute ist es endlich soweit.

Harold erschien gutgelaunt am Frühstückstisch und überreichte ihr einen Straus roter Rosen. „Für die beste aller Ehefrauen“, sagte er und Harriet war wieder einmal fast zu Tränen gerührt.
Während des Frühstücks unterhielten sie sich über ihre bevorstehende Traumreise, doch plötzlich wechselte Harriet abrupt das Thema.

„Ich habe jetzt 10 000 Pluspunkte“, verkündete sie und ihr Lächeln hatte niemals schöner ausgesehen.
„Ich weiß, meine Liebe. Ist dir inzwischen etwas eingefallen, was du dafür haben möchtest?“
„Oh ja, ich habe in der Tat etwas gefunden.“

Nichts an ihrem Tonfall ließ auf etwas Unangenehmes schließen, doch Harold verspürte plötzlich ein unangenehm schmerzhaftes Ziehen in der Magengegend. Rasch trank er seinen Kaffee aus.
„Und was ist es, was du dir so sehr wünschst, dass du ewig darauf gespart hast?“ Harold war jetzt sehr neugierig.
Harriet lächelte versonnen. „Es ist etwas wirklich außerordentlich Teures und steht auf keiner Liste, doch ich denke, dass 10 000 Pluspunkte einen annehmbaren Gegenwert darstellen.“
„Na sag schon, was ist in deinen Augen 10 000 Punkte wert?“ Harold fühlte sich immer elender, irgendwie kam sein Kreislauf heute nicht so richtig in die Gänge.

Harriet erhob sich und griff, noch immer lächelnd, nach ihrem Koffer, denn draußen fuhr gerade das Taxi vor.
„Das Zyankali in deinem Kaffee, den du gerade getrunken hast.“
Und zum ersten mal seit vielen Jahren entsprang ihr Lächeln der reinen, ungetrübten Freude.

 

hi yoro,

obwohl das ende der geschichte ein wenig absehbar ist (was anderes könnte man mit diesem ekelpaket harold wohl sonst machen?) hat mich dein erzählstil über die gesamte länge deiner story bei der stange gehalten. allerdings glaube ich, dass die kategorie "spannung" eher angebracht gewesen wäre. humor kann ich nur in zarten ansätzen erkennen.

lg p.

 

Hehehehehehehe *ggggg*

Hat mir gefallen! Ist vielleicht etwas länger zu lesen, aber es lohnt sich in jedem Fall.
Auf so eine Idee wie das Punktesystem muss man erst mal kommen... wobei... wenn man es ableitet könnte ich mir schon vorstellen, daß manche Ehen so ablaufen.
Jedenfalls gönne ich deiner Harriet ihr Lächeln von Herzen am Ende ;)

 

Hallo Yoro,

tolle Geschichte! Ich vermutete zwar bei den ersten Zeilen zunächst die falsche Kategoriesierung, habe dann aber beim Lesen doch permanent geschmunzelt. Einzig dem Umstand meiner derzeitigen Büroanwesenheit ist es zu "verdanken", dass ich nicht laut losgelacht habe. Auch muß ich zu meiner Schande gestehen, dass ich am Ende nicht an Zyankali gedacht habe, aber umso besser hast Du den Spannungsbogen aufgebaut! Ich bin jedenfalls begeistert!

Herzliche Grüsse
apollox
:huldig:

 

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