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Harmonie
Ihr ganzes Leben hatte sie die verdammte Oberflächlichkeit ihrer Mutter verachtet. Da lag sie nun mit blassem Gesicht, die Haut war fahl geworden und ihre spröden, schmalen Lippen umschlossen den leicht geöffneten Mund. Solange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie Mutters Mund immer genau betrachtet, geradezu stoisch beobachtet. Immer in der Hoffnung aus diesem Mund würde nur einmal etwas Liebevolles, Einfühlsames oder gar Tiefsinniges kommen.
In diesem Moment wurde ihr plötzlich bewusst nun wird es nie wieder diese Hoffnung geben, bald würde es vorbei sein und sie könnte dann endlich dieses Kapitel, ihrer lebenslangen Suche nach „Mama“ beenden. Mama so nannte sie Mutter nur in ihren Träumen, ihrer grenzenlosen Sehnsucht nach einem Menschen der diese selbstverständliche Titulierung verdiente.
In ihrem Leben waren Harmonie und Ruhe immer extrem wichtig, sie stellte fest wie schön diese Ruhe selbst in diesem besonderen Augenblick war. Nicht dass sie so eine Situation als harmonisch bezeichnen würde, dafür war ein Abschied für immer zu aufwühlend.
Eine gesunde Wut wäre hilfreich gewesen, es hätte alles leichter gemacht oder vielleicht sogar lösbar. Die Verletzungen und Demütigungen in ihrem Leben hatte sie unterdrückt diese befreiende Wut.
Dann hätte sie vielleicht irgendwann ihren Schmerz Ausdruck geben können, ihrer Mutter alles an den Kopf werfen, sie dadurch zum Nachdenken zwingen können. Obwohl sie bezweifelte dass es zwischen ihnen etwas geändert hätte. Sie war fest überzeugt dass es in der Welt der Oberflächlichkeit keine Hinterfragung seiner selbst gibt.
Für sie selber war es geradezu eine zwanghafte innere Pflicht ihr Tun und Wirken zu hinterfragen. Eigentlich ein Widerspruch zur ihrer Harmoniesucht aber sie hatte noch nicht bemerkt dass dieses beruhigende Gefühl der Ruhe nichts zu tun hatte mit inneren Frieden.
Sie träumte regelmäßig von Mama, wie sie ihr sanft mit der Hand über die Wange strich, eine Frau die ihr kleines Mädchen über alles liebte.
Sie blickte gleichgültig ihre schlafende Mutter an, plötzlich überschlugen sich ihre Gedanken. Mutter war bald unaufhaltsam auf den Weg ins Jenseits , sie fragte sich ob sie überrascht sein würde. Sie wusste nach so vielen Jahren nichts über das Seelenleben ihrer Mutter, nichts über ihre Träume, Sehnsüchte und Wünsche. Sie hatte sich auch nie die Mühe gemacht es zu erkunden, sich keine Zeit genommen für mehr Nähe. Sie hatte ihr Leben lang gewartet dass Mutter auf sie zukommen würde. Diese riesengroße Sehnsucht begleitete sie immer, wie ein Schatten und sie konnte sich nie lösen von ihr.
Ihr Mut hatte nie gereicht etwas zu ändern, sie blickte wieder zu Mutter aber nun war es zu spät für beide.
Sie sollte jetzt wahrscheinlich gehen, es war an der Zeit aber sie konnte sich nicht satt sehen an Mutters Gesicht, sie wollte begreifen wie es so weit kommen konnte. Ihr innerer Kampf wurde je beendet, sie wurde wieder ganz ruhig, ihrem Naturell entsprechend.
Nur ihre Hände zitterten ein bisschen, sie hatte das Messer die ganze Zeit in der rechten Hand gehalten. Der große Moment war gekommen, sie hob den Arm und stach zu. Präzise ohne Leidenschaft, sie beobachtete das Blut dass sofort aus dem Bauch quoll, Mutter öffnete die Augen, blickte sie entsetzt und fragend an.
Sie lächelte und plötzlich platzte es aus ihr heraus „Mama, ich bin es, deine kleine Leni“, zärtlich gar bedächtig sprach sie es noch einmal aus. In diesem Moment war es endlich da, das überwältigende Glücksgefühl, das sie immer gesucht hatte in Mutters Nähe.