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Harmlos
„Du Idiot!“, hörte ich noch, begleitet vom Nachhall meiner zugeworfenen Wohnungstür und dem Klappern von Marions hohen Absätzen im Treppenhaus. Ich zog die Gärtnerhandschuhe aus, betrachtete kurz die Erdkrumen auf dem Dielenboden im Eingangsbereich und stieg über ein paar Bewässerungsschläuche in die Küche. Ich kratzte mich am Hinterkopf, seufzte und machte mich auf die Suche nach einer sauberen Tasse für Kaffee, fand aber nur Gläser mit angetrockneten Resten von grünlichem Flüssigdünger. Da sich der Wasserhahn der Spüle wegen angeschlossener Gartenschläuche nicht benutzen ließ, wartete ich, bis die Kaffeemaschine ihr Fauchen eingestellt hatte, nahm hastig einen großen Schluck direkt aus der Kanne und verbrannte mir dabei so sehr den Mund, dass ich mich bei dem Versuch ins Bad zu kommen in den Schläuchen verhedderte und mit dem Kopf gegen den Türrahmen knallte.
Marion verstand es einfach nicht. Verstand nicht, wie faszinierend das alles war und wie, in ihren Worten, ein Mann in meinem Alter so viel Zeit in etwas stecken konnte, was vor ein paar Wochen noch nicht einmal ansatzweise zu seinen Interessen, geschweige denn seinen Hobbys gehört hatte.
Das Zittern fing wieder an, früher als erwartet und stärker als letztes Mal, vielleicht wegen des Streits. Ich wollte nicht warten bis frische Flüssigkeit an den verholzten Poren-Wülsten entstanden war, nahm ein kleines Küchenmesser aus dem Messerblock neben der Spüle und ging ins Wohnzimmer. Direkt vor der voll aufgedrehten Heizung, die zusammen mit den Luftbefeuchtern den ganzen Raum bei wohligen 32 Grad Celsius mit 87% Luftfeuchtigkeit hielt, wuchs der Hauptstamm. Vorsichtig kratzte ich mit dem Messer etwas Rinde ab, wartete, bis sich ein kleines Tröpfchen durchsichtiger Flüssigkeit gebildet hatte und leckte es ab. Zuerst waren da ein leicht bitterer Geschmack und ein Prickeln auf der Zungenspitze. Dann kam eine süßliche Note dazu und das Prickeln breitete sich aus. Durch den Mund, in die Nase, die Stirn. Auf meiner Schädeldecke waren plötzlich tausende Ameisen unterwegs und alle entschlossen sich gleichzeitig, am Nacken entlang, die Wirbelsäule hinunter zu krabbeln. Wow! Ich setzte mich, starrte die Wand an und genoss ein Gefühl absoluter Ruhe. Der Streit mit Marion war sofort vergessen, der verbrannte Mund und die Beule am Kopf schmerzten nicht mehr. Nach einer Weile stand ich wieder auf, zog die Gartenhandschuhe an und machte gut gelaunt weiter, neue Ableger einzutopfen und Dünger zu verteilen.
Vor vier Wochen war ich, aus der Bank kommend, von der neuen Nachbarin vor meiner Wohnungstür abgefangen worden. Sie hatte mir einen weißen Pott mit ein paar Blättern und einem dürren grünen Stengel in die Hand gedrückt, sich überschwänglich dafür bedankt, dass ich ihr und ihrem Mann beim Einzug geholfen hatte, und war sofort wieder verschwunden, um ihrem Mann Abendessen zu kochen. Ich hatte die Pflanze ins Wohnzimmer gestellt und sie schon vergessen, als ich mich vor den Panoramabildschirm an die XBox hängte. Ein paar Tage später war Marion abends bei mir, mit Sushi und Weißwein.
„Duhuu?“
„Mmmh.“ Wir lagen zusammen auf dem Sofa.
„Was riecht denn hier so komisch?“
„Ich riech' nichts.“
„Du merkst das nicht?“
„Nö, was denn?“
„So ein Geruch nach, na ich weiß auch nicht … Füßen?"
Ich boxte sie verspielt in die Seite, zog meine rechte Socke aus und roch daran.
„Riecht sauber.“
Sie blieb auf Abstand zur Socke, schnüffelte kurz und sagte:
„Nee, das ist es nicht.“
Ich überlegte wann ich zuletzt den Müll rausgebracht hatte. Heute Morgen. Das konnte es nicht gewesen sein. Beim Hin- und Herdrehen des Kopfes streifte mein Blick die Pflanze am Fenster, die eine große weiße Blüte gebildet hatte.
„Vielleicht die da. Geschenk von den Nachbarn.“
Marion stand auf, roch an der Blüte, verzog das Gesicht und sagte:
„Puuh. Ja, die stinkt! Bist du sicher, dass deine Nachbarn dich mögen?“
Ich stand auf und trug das Gewächs in die Küche, steckte dabei meine Nase fast ganz in die Blüte, roch absolut nichts und musste von den Pollen niesen. Mit einer neuen Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank ging ich zurück zum Sofa, wo Marion dabei war, ihre Bluse aufzuknöpfen. Am Morgen danach hatte ich beim Kaffeekochen ein Foto der Blüte gemacht und ins Netz hochgeladen. Vielleicht wusste ja jemand, was mir da untergejubelt worden war. Aber es hatte keine klaren Antworten gegeben. Manche sagten Orchidee, andere meinten, es wäre eine Passiflora-Variante.
Das Eintopfen war beendet und das Bewässerungssystem sprang gluckernd an. Jetzt hatte ich insgesamt siebzehn neue Ableger herangezogen, einfach durch Abschneiden und Einpflanzen kleiner Seitenäste. Langsam machte ich mir Sorgen, dass es in meiner Wohnung nicht hell genug war. Der Hauptstamm hatte zwar positiv auf die Anhebung von Temperatur und Luftfeuchtigkeit reagiert, aber da der Sommer zu Ende ging, war bald wohl das Licht ein Problem. Ich kontrollierte die Stelle, die ich vorhin angeritzt hatte und sie war bereits wieder mit Rinde bedeckt. Ich hoffte wirklich, der Hauptstamm verzieh mir die Verletzung. Auf den Poren-Wülsten deutete sich ein Schimmern an, was mich beruhigte, denn es hieß, dass die tägliche Dosis Nektarflüssigkeit gebildet wurde, und ich sie heute Abend zu mir nehmen und gut schlafen konnte.
Marion hatte zwar immer noch ab und zu die Nase gerümpft, wenn sie vorbei kam und sich zu nah an der Pflanze in der Küche aufhielt, aber ich war immun gegen ihre Bemerkungen und roch nach wie vor nichts. Im Gegenteil. Ich war fasziniert von dem, was ich nach Hinweisen aus dem Internet über Myrmekophyten gelesen hatte. Um so mehr, nachdem ich beobachtet hatte, wie sich eine Stubenfliege in meine Küche verirrte und schnurstracks auf die Pflanze zuhielt, aber nicht auf der Blüte landete, sondern neben einem kleinen Gnubbel am Stamm, an dem ein Tröpfchen Flüssigkeit glitzerte. Die Fliege hatte ihn aufgesogen und war dann davon gesummt. Am Tag darauf hing ein neuer Tropfen am Gnubbel. Das Ganze konnte ich noch zweimal beobachten, und dachte dann: Probier es selbst aus. Was konnte schon schiefgehen? Die Fliege ist nicht daran gestorben, dann werde ich es auch überleben. Der Tropfen, den ich dann ableckte, war winzig.
„Kommst du Schatz? Essen ist fertig!“
„Schon unterwegs!“, sagte Gerhard, machte die Tagesschau aus und stand vom Sessel auf. Er dachte, dass sie beide bald in eine schönere Wohnung ziehen konnten, vielleicht näher am Institut. Diese Überganglösung war nichts für Leute in ihrem Alter. Wenn das Verteidigungsministerium seine Einreichung auf die vertrauliche Ausschreibung schnell bewilligte, dann konnte er schon nächsten Monat das Labor vergrößern lassen und fünf neue Postdocs unter seine Fittiche nehmen. Phytohormone waren vor fünfzehn Jahren eine heiße Sache gewesen, hatten aber im Laufe der Zeit immer mehr an Glanz verloren. Der neue Ansatz, den das Verteidigungsministerium jetzt verfolgen wollte, klang zwar ein bisschen nach Science Fiction, aber nachdem die Damen und Herren in Berlin erfahren hatten, dass sich die Amis ernsthaft mit Anwendungen im Verteidigungsbereich beschäftigten, sah die Politik in Deutschland plötzlich auch Handlungsbedarf. Er ging in Richtung Esstisch und fuhr dabei mit der Hand über die Blätter von ein paar harmlosen Exemplaren, die er mit nach Hause genommen hatte … fehlte da eines?