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Happy Hour
Ich hustete, während ich eine Dose Bier aufriss. Das Bier war lauwarm. Mitte Juli bei 28 Grad ohne Strom kein Wunder.
Die Reste der dicken Plastikplane, die an den Fensterrahmen getackert worden war, flatterten träge im Wind. Ich weiß nicht, was sich die Leute von Folien an den Fenstern versprochen hatten. Genützt hatte es meines Wissens nach niemandem.
Jens lümmelte auf der Couch und blätterte lustlos in einem Magazin mit dem klangvollen Titel „Tabulose Teenys“. Nach meinem dritten Schluck war er der immer gleichen Bilder und Verrenkungen offenbar überdrüssig, denn er feuerte die Teenys knapp an meinem Kopf vorbei aus dem Fenster.
„Ich würd’ gern mal wieder unter Leute“, verkündete er und hustete.
Ich trank weiter mein warmes Bier.
Jens starrte gedankenverloren auf die Wand, die mit nackten Frauen und attraktiven „Monaten“ vollgeklebt war.
Ich hatte aus einer morbiden Laune heraus Zeitungsartikel an die Wände meines Zimmers gehängt und so oft betrachtet, dass ich sie auswendig kannte. Am besten gefielen mir „Kaukasische Grippe breitet sich weiter aus - WHO ratlos“, „Gesundheitssystem komplett zusammengebrochen“ und „Jeder Impfstoff wirkungslos - Gott steh uns bei!“. Diese Headlines stellten den Nachruf der Menschheit dar. Das Ende unserer Zivilisation in drei Sätzen.
„China und Australien schließen Grenzen“ und „Bundesregierung verschärft erneut Infektionsschutzgesetz (IfSG)“ waren die sinnlose Plastikplane vor dem Fenster in globalem Maßstab gewesen. Man konnte bis zum Schluss weder die Ursache für den Ausbruch finden, noch den genauen Erreger isolieren, geschweige denn ein Heilmittel entwickeln. Abgesehen davon, dass man die Krankheit für eine Form der Vogelgrippe hielt, sie extrem ansteckend und tödlich war, hatten die Wissenschaftler im Prinzip nichts herausbekommen. Die USA vermuteten einen Terroranschlag, das Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie ging von einer natürlichen Pandemie aus und die Kirchen tippten, was auch sonst, auf den Zorn Gottes.
„Ich wette, wir finden ein paar Mädels bei der Uni-Klinik.“ Jens legte seine ganze Überzeugungskraft in die Stimme. Dann hustete er.
„Halt dich ran“, sagte ich zwischen zwei Schlucken, „das Angebot wird knapp.“ Tatsächlich hatten wir den letzten lebenden Menschen vor drei Tagen gesehen. Kein Mädel, sondern einen jungen Burschen, der im Delirium mit schweißverklebten Haaren und einer Lunge voll Wasser durch die Fußgängerzone getorkelt war. Er hörte sich an wie eine gluckernde Heizung, die entlüftet werden musste, als er vor sich hin brabbelnd in einem verwüsteten Frisörsalon verschwand. Das letzte Stadium dauerte nur ein paar Stunden.
„Erzähl mir von deiner Kollegin. Du weißt schon, die Dunkelhaarige.“
„Ich hab dir doch schon hundert Mal von ihr erzählt.“
Trotzdem schloss ich die Augen. Ich dachte gerne an sie zurück. Mir gefiel ihr Lächeln und die Art, wie sie ihre Haare über die rechte Schulter legte, wenn sie schrieb. Wir hatten zwar nicht nebeneinander, aber zumindest im gleichen Hörsaal gesessen. Ich hatte ihr zugelächelt, wenn sich unsere Blicke trafen und ich war mir sicher, dass sie das bemerkt hatte. Dabei kannte ich nicht mal ihren Namen, denn angesprochen hatte ich sie nie. Ich war davon ausgegangen, dass Mädchen wie sie ohnehin einen Freund hätten und ich wäre mir dann nur dumm und plump vorgekommen.
Jens hatte tonnenweise Schmuddelheftchen angeschleppt. Und trotzdem verblassten die Hochglanz-Models jedes Mal, wenn ich an meine Kommilitonin dachte. Die ganzen Magazin-Schönheiten waren eben schon vor der Kaukasischen Grippe nur Papier und schmutzige Fantasien gewesen. Meine dunkelhaarige Studienkollegin war echt und aus Fleisch und Blut. Und da erschien mir die Erinnerung an sie mit jedem Gedanken kostbarer.
Die Labore, Gesundheitsämter, Universitäten und Institute versuchten die Sache noch in den Griff zu bekommen, während die Medien eine Panikmeldung nach der nächsten rausbrachten. Irgendwann jedoch merkten sogar die sensationsgeilen Aasgeier, dass die Geschichte aus dem Ruder gelaufen war. Die Krankenhäuser waren dem Ansturm der Kranken und Sterbenden nicht gewachsen und als klar wurde, dass es weder Impfung noch Heilmittel gegen die „möglicherweise mutierte Variante des H4N7-Grippevirus“ gab, schwenkten die Zeitungen um. Las man vorher noch andauernd von „Pandemie“ oder „Virus-Apokalypse“, so hieß es auf einmal „Geheimes Forschungslabor findet Heilmittel“ und „Eindämmungsmaßnahmen zeigen Wirkung“. Das war leider alles staatlich befohlener Bullshit, der die aufkommende Massenpanik rauszögern sollte.
Erst, als die Leichen mit Baggern in Müllverbrennungsanlagen geschaufelt werden mussten, bevor man sie schließlich ein paar Wochen später überhaupt nicht mehr beseitigte, blickten die Zeitungen und Politiker der Wahrheit ins Auge. Der aktuellste und zugleich letzte Zeitungsartikel, den ich gefunden hatte, war einige Monate alt und klebte an meiner Schlafzimmerwand. „Jeder Impfstoff wirkungslos - Gott steh uns bei!“
Jens lebte damals noch bei seinen Eltern und hatte gerade die Ausbildung zum Bürokaufmann abgeschlossen. Er wollte sich eine eigene kleine Wohnung nehmen und hatte den Arbeitsvertrag bei seinem Ausbildungsbetrieb schon unterschrieben, als H4N7 den Laden endgültig schloss. Sein Vater arbeitete in einer Bank und seine Mutter in einem Blumengeschäft. Um Weihnachten herum war die Bank zu, der Blumenladen hatte seinen letzten Beerdigungskranz verkauft und seine Eltern waren beide tot.
Jens erging es so wie wohl den meisten Menschen. Er fiel in ein tiefes, hoffnungsloses Loch. Seine traurigen und depressiven Tage verbrachte er damit, dass er trank, in herrenlosen Luxusautos und Sportwagen durch die wenigen nicht restlos verstopften Straßen herumfuhr, goldene Armbanduhren aus Juwelierläden klaute und über Selbstmord nachdachte. Doch am Ende siegte die Neugier, was wohl noch alles kommen würde, und er sprang nicht von einem Hochhaus. Statt dessen traf er mich, als wir uns zufällig in derselben Boutique mit neuen Klamotten eindeckten. Nach ein paar Bieren fanden wir, dass wir gut miteinander klar kämen und blieben zusammen.
Ich war mit meinem Jurastudium fertig und büffelte fürs Examen. Eines Tages wurde unsere Uni „auf unbestimmte Zeit“ geschlossen und nie wieder aufgemacht. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon mehrere Male versucht, zu meiner Mutter zu fahren, die in einer anderen Stadt wohnte. Da jedoch aus Quarantänegründen der gesamte öffentliche Verkehr längst eingestellt worden war und Autos ohne Sondergenehmigung nicht mehr fahren durften, um die Kranken- und Leichentransporte nicht zu behindern, saß ich fest.
Ich hatte geplant, mit einem Rucksack zu Fuß zu ihr zu gehen. Sie bat mich jedoch immer, wenn ich das zur Sprache brachte, zu warten, „bis sich die Lage wieder beruhigt“ hätte. Die Berichte über Chaos, Anarchie und marodierende Räuberbanden häuften sich in letzter Zeit und außerhalb der Städte war es mittlerweile gefährlich geworden. Ich konnte nur per Telefon die Verbindung zu meiner Mutter aufrechterhalten. Mein Vater hatte sich von uns getrennt, als ich drei Jahre alt war und mittlerweile irgendwo eine neue Frau und neue Kinder. Ich hatte zu ihm, abgesehen von Unterhaltszahlungen und sporadischen Geburtstagsgrüßen, keinen Kontakt und ihm schien das ganz recht zu sein. Sein Verhalten war mir immer wie Verrat vorgekommen, selbst nach all den Jahren. Ehrlich gesagt war mir sein Schicksal relativ egal.
Nicht egal waren mir die immer stärker werdenden Hustenattacken meiner Mutter. Aber es war ja Frühling und sie gegen alles Mögliche allergisch. Das war die Erklärung, die ich mir wider besseren Wissens vorlog. Als ich jedoch den Anruf einer hustenden Nachbarin erhielt, meine Mutter sei ins Krankenhaus gekommen, weil sie sehr krank sei, drehte ich regelrecht durch. Ich versuchte, irgendwie zu ihr zu kommen. Die Straßen waren verstopft oder von Polizei und Bundeswehr gesperrt. Ein paar Mal geriet ich mit Wachposten heftig aneinander und wäre einmal beinahe von einer Gruppe Soldaten in Schutzanzügen verhaftet worden.
Ich weiß nicht, ob ich es als „Glück“ bezeichnen sollte, jedenfalls dauerte die quälende Ungewissheit über den Zustand meiner Mutter ohnehin weniger als zwei Tage, bis mir eine (ebenfalls hustende) Krankenhausangestellte mit erschöpfter Stimme mitteilte, meine Mutter sei gestorben und ihre sterblichen Überreste müssten laut Gesetz verbrannt werden.
Das Haus, das Jens und ich zur Zeit bewohnten, lag im exklusivsten Teil der Stadt. Nur Parks und Villen. Der Garten war mittlerweile ein Biotop, aber die Aussicht und Einrichtung waren phantastisch. Ich hatte keine Vorstellung, wie hoch die Miete gewesen sein musste.
Bei unserem Einzug waren die Kühlschränke und Tiefkühltruhen mit Schimmel und Glibber gefüllt gewesen. Trotzdem würden wir nicht verhungern oder verdursten. Die Polizei hatte in den Städten lange genug die Ordnung aufrecht erhalten, so dass zu viele Menschen gestorben waren, bevor alle Läden restlos geplündert werden konnten.
Ich wurde durch einen etwas stärkeren Hustenanfall von Jens aus meinen Gedanken gerissen.
„Du solltest dir einen Tee machen. Hörst dich irgendwie krank an“, sagte ich. Jens lachte trocken.
„Oder wir gehen zur Klinik. Die haben da sicher Krankenschwestern. Komm schon, ich hab keinen Bock allein loszuziehen.“
Ich warf die halbvolle Dose Bier aus dem Fenster und traf meinen Porsche, der in der verwilderten Einfahrt stand und schon eine dicke gelbe Schicht Blütenstaub angesetzt hatte. Mit einem satten Bamm! schlug die Bierdose eine Delle in die Motorhaube.
„Meinetwegen.“
Die Uni hatte eine magische Anziehungskraft gehabt. Bei so vielen Professoren musste es ja schließlich ein geniales Zaubermittel geben, um dem Tod in letzter Sekunde mit der Infusion im Arm den Mittelfinger zeigen zu können. Natürlich hatte es keine Wundermedizin gegeben und die Forscher waren genauso hilflos wie ihre Patienten einfach nur gestorben. Dennoch blieben viele der Menschen auf dem Gelände der medizinischen Fakultät, auch als es schon längst keine Ärzte mehr gab.
Das Ganze glich einer kaputten Version von Woodstock. Es ging überraschend entspannt zu. Natürlich gab es Leute, die weinten oder apathisch vor sich hin stierten, aber die meisten waren relativ gefasst und nicht hysterisch. Keine Laienprediger, die mit Glocke in der Hand und Pappschild um den Hals „das Ende der Welt“ herbeischrieen. Statt dessen hörte man Musik und ab und zu sogar Gelächter.
Ein Typ hatte damals aus ein paar Tischen, Sonnenschirmen und Barhockern eine Cocktail-Bar zusammengebaut, mit Kunstpalmen, Girlanden und batteriebetriebenen Lichterketten ausgeschmückt und dann von morgens bis abends bei Reggaemusik Cocktails gemixt. Er hatte Joachim geheißen, war Steuerberater gewesen und sein Lebenstraum hatte immer aus einer Cocktaillounge bestanden. Am liebsten auf den Seychellen, aber das Unigelände tat's zur Not auch. Er hatte mir das mit einem Lachen erzählt, als würde er sich wegen seines naiven Wunsches ein wenig schämen. Ich hatte mich oft mit ihm unterhalten. Man merkte ihm an, dass er sich gelassen mit seinem Schicksal abgefunden hatte und die Zeit, die blieb, so gut es ging mit den Dingen füllte, die er schon immer tun wollte. Er strahlte eine unglaublich lebensbejahende Einstellung aus. Das war wohl auch der Grund, warum ausgerechnet er, ein unbeholfener Junggeselle Ende 40 mit Bauchansatz und Halbglatze eine umwerfend attraktive Freundin gefunden hatte, um die man früher in einer Arena gekämpft hätte. Ich vermute, dass er trotz allem irgendwo glücklich war, als er sich schließlich in ihren Armen zu Tode hustete. Seine Freundin schluckte nicht mal eine Stunde später Schlaftabletten und bat auf einem Zettel darum, zusammen mit ihm begraben zu werden.
Jens und ich hatten uns gefragt, ob wir nicht dauerhaft auf dem Unigelände bleiben sollten. Wir wollten jedoch eine gewisse Distanz zu den Dingen entwickeln, die früher selbstverständlich waren und nun unweigerlich verschwinden würden. Wie die Leute auf dem Campus. Es waren vielleicht noch 60 Menschen übrig. Beim letzten Mal waren es über 100 gewesen. Joachims Cocktailbar stand mit ihren mittlerweile umgestürzten Plastikpalmen und herunterhängenden Lichterketten einsam und verlassen auf der Wiese.
Während Jens eine bunt gemischte Gruppe ansteuerte, ging ich zur Cocktailbar und setzte mich auf einen der Barhocker. Mit dem Ärmel meiner Jacke – schwarzes Leder für 699 € im Sommerschlussverkauf – wischte ich Staub und Dreck von der Theke und sah die grauen Unigebäude an. Ich erinnerte mich an meine Kommilitonen, die Dozenten, die vielen Stunden in den Bibliotheken und die Studentenpartys. Und ich dachte an meine dunkelhaarige Studienkollegin. Ein paar halbvolle Flaschen und unbenutzte Gläser standen hinter der Theke in Plastikkisten.
Ich machte mir einen Wodka-Martini und hob mein Glas auf James Bond, als jemand hinter meinem Rücken einen Barhocker bewegte.
„Krieg ich auch einen?“
Ich drehte mich um und ließ beinahe das Glas fallen. Meine dunkelhaarige Kommilitonin stand hinter mir. Sie lächelte mich an.
„Hab ich mich doch nicht geirrt, als ich dich vorhin sah. Wir kennen uns aus der Uni.“.
„Ich weiß. Ich saß in Schuldrecht hinter dir. Und in Strafrecht auch. Wahnsinn, dass du noch lebst. Ich meine, so meine ich das natürlich nicht, aber trotzdem super, dass du...“. Ich unterbrach mich und kam mir wie ein Idiot vor.
Sie lachte, obwohl ihr ein Schatten über das Gesicht huschte. Dann drehte sie sich kurz von mir weg und hustete.
„Ich freue mich auch. Also, wie wär’s mit einem Cocktail?“
Ich zog zwei Flaschen aus der Kiste.
„Ich kann außer Wodka Martini und Whiskey Cola aber keine anderen Cocktails.“
„Ein paar Rezepte kenne ich auch. Ich heiße übrigens Semra.“
Während sie zu mir hinter die Theke kam, dachte ich an Joachim und seine Freundin. Und an seinen Traum von einer Cocktailbar, den er sich auf der Uniwiese verwirklicht hatte.
„Weißt du, wir könnten die Bar wieder aufmachen. Die hat mal einem Freund von mir gehört und der Laden ist eine richtige Goldgrube. Keine Konkurrenz weit und breit.“
„Das klingt gut. Wir brauchen aber eine Gaststättengenehmigung.“
„Kein Problem, wofür haben wir denn Jura studiert? Du willst mich nicht zufällig heiraten?“
Semra lachte. Lächelnd steckte ich mir zwei Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus.
„Hey Leute! Will jemand einen Cocktail? Es ist Happy Hour.“