Happy Birthday
Ende Oktober kroch mit langsamen Bewegungen immer näher. Überall in den Läden wurden mit einer Dekorierung aus Orangetönen die Ware zu Halloween angeboten.
Knabbereien, Kostüme, Kürbisse und was sich noch in dieser Zeit gut verkaufen ließ.
Sogar Mara und ihre Clique saßen zusammen in der Schule und hielten Rat.
Die anderen Schüler konnte nichts halten aus den eher tristen Mauern zu verschwinden aber sie genossen die Einsamkeit und Ruhe hier.
Nun ja, ganz einsam waren sie nicht.
Eine ihrer Mitschülerinnen saß noch an ihrem Platz. Die Nase verborgen in einen dicken Stapel Bücher, als ob es nichts Spannenderes als lernen gäbe. Mara und ihre Clique wären da tausend Sachen eingefallen, die sie stattdessen tun konnten. Und trotzdem hielten sie sich hier auf.
„Wie wäre es mit einer Party?“, rief Sofie in ihrer piepsigen und viel zu lauten Stimme.
Ihre kurze Nase und das runde Gesicht waren es nicht, weswegen Mara sie gerne mit einem Spatz verglich. Eher das doch recht klein ausgefallene Gehirn, dass sie gerne mit sich herum trug.
Im Gegensatz dazu griffen die gängigen Blondinenwitze bei ihren beiden anderen Freundinnen nicht. Die naturblonde Julia und Michelle, die diese Farbe seit dem letzten Frühling trug.
Bei der brünetten Sofie, konnte man einige davon gut umwandeln.
Mara wies der Freundin an leiser zu reden. Und als ob es in der Lautstärke eines Presslufthammers nicht verständlich genug war, wiederholte Sofie jetzt ihre Frage im Flüsterton.
Ob sie eine Party organisieren wollten.
„Ach nein“, meinte Michelle. Unaufhörlich spielte sie mit einer Strähne ihres hellen Haares. „Dieses eine Mädchen aus unserer Parallelklasse – verdammt ich komm jetzt nicht auf den Namen. Miss ich bin so cool, dass ich schon im September für Schnee sorgen muss, schmeißt eine. Ihre Eltern sind seit letzter Woche im Urlaub und irgendwie hat sie da wohl die halbe Schule eingeladen.“
„Also bleiben für uns nur noch solche Loser.“ Mara warf einen deutlichen Blick auf das stille Mädchen in der Ecke. „Oder die betrunkenen Idioten, die meinen bei uns mehr zu bekommen, als ein paar Flaschen Bier.“
Das Thema Party hatte sich somit erledigt.
Ein Spukhaus für die Kids anzufertigen, wie ihre Mutter ihr vorschlug. Nein, das wagte sie nicht anzusprechen. Sie waren doch keine Kindernachtstätte oder ein gemeinnütziger Verein, dass sie sich mit diesen Plagen abmühte.
Wie vier verlorene Hühner auf die Party zu gehen, nur um vor der Tusse den Hof zu machen und damit sie zur Königin zu krönen. Nein, da musste was anderes her.
„Mein Bruder meinte, er wolle der Felber ganz im Sinne der Nacht einen gehörigen Schrecken einjagen“, plauderte Julia los. „Eier an die Fenster werfen. Auto in Klopapier einwickeln oder war es eher das Haus? Den Tod vor der Haustür spielen. Er sagt, er braucht noch Leute für seinen Masterplan.“
Wo sie gerade erst das Thema betrunken Idioten abgehakt hatten. Julias Bruder entsprach genau dem.
Vielleicht war genau das auch die Lösung.
Mara wies den anderen an, ihre Köpfe ihrem zu nähern. Dabei unterbreitete sie ihnen im Detail ihren Plan.
Kichern drang von der kleinen Gruppe und manchmal hob sich der Kopf einer von ihnen, spähend auf das andere Mädchen im Raum.
„Aber geht dass denn?“, zweifelte die recht naive und viel zu brave Sofie. „Das wäre zu gemein.“
Sofort warfen die anderen ihre Zweifel weg. Sofie ließ sich leicht bei allem mitreisen. Sie würde schon nicht petzen.
Seit mehreren Tagen ging es jeden Tag so. Die Clique aus vier Mädchen zog sich nach Unterrichtsende und Schulschluss in dieses Klassenzimmer zurück. Sie steckten die Köpfe zusammen, als könne so niemand verstehen, was sie sagten.
Ein Trugschluss. Anita vernahm einiges, was nicht für ihre Ohren bestimmt war.
Welcher Junge bei ihnen zurzeit angesagt war. Mode- und Schminktipps. All das könnte sie heraushören, doch ihr Interesse galt eher den Büchern vor sich.
Anita wartete nicht lange. Sie griff mit rechts in ihre Tasche. Ihr Blick ruhte dabei weiter auf den Büchern, die sie gerade las und holte nach kurzer Suche das Knäuel aus Kabel und dem kleinen Gerät hervor. Nach kurzem Entwirren steckte sie sich die Ohrknöpfe ein und betätigte den Knopf, bis sie nur noch von der Musik berieselt wurde, nicht mehr das Gegacker dieser Suppenhühnchen aufgezwungen bekam.
Das Klassenzimmer gehört zu ihrer Klasse, die sie leider mit Sofie teilen musste.
Einer 14-Jährigen, die vor einem Jahr, das kombinieren von Kleidung und Make-up zu ihrem Talent gemacht hatte. Für mehr fand sich in ihrem Kopf kein Platz.
Die 15-Jährigen Mädchen Mara und Michelle gingen zusammen mit der 16-jährigen Julia in eine Klasse. Was sie von Sofie wollten, blieb Anita bisher verborgen.
Eigentlich interessierte es sie auch gar nicht.
Sie hatte ihre Bücher und bei dem Sehnen nach Ruhe, würde sie sich demnächst wohl einen anderen Flecken suchen müssen. Je nachdem, wie es sich in der Clique entwickelte. Wenn sie meinten, dieses Zimmer zu ihrem Clubraum zu machen, würde sie das Handtuch werfen.
Dabei war es angenehm hier zu sitzen, bis ihre Klassenlehrerin meinte, sie nach Hause schicken zu müssen.
Tief versunken in das Werk vor ihr, wegen der Gesellschaft mit einem ihrer Schulbücher getarnt, entging ihr, wie die Mädchen ihren Kreis verließen. Und noch ehe sie ihnen wieder ihre Aufmerksamkeit schenkte, entglitten die Seiten des Buches nach oben ihrem Blick.
Sofort zog sie die Ohrstöpsel an dem Kabel aus ihren Ohren, wollte aufspringen, doch es war schon ihrer Reichweite entschwunden.
„Oh, was haben wir denn hier?“
Mara mochte jünger als Julia sein, führte die Clique aber wie eine unbarmherzige Königin an. Dabei trampelte sie jeden nieder, der es wagte sich ihr entgegen zu stellen.
„Wie interessant. Hexenkünste für den Alltag. Irgendwie wundert es niemanden, dass du auf solchen Müll stehst.“
Die Nägel ihrer langen Finger waren mit blauem Lack versehen, dem weiße Blumen entwuchsen. Damit blätterte sie jetzt die Seiten um, in einer kurzen Prüfung der Überschriften.
Sofort sprang Anita nach vorne, in der Hoffnung noch alles verhindern zu können.
Leider traf sie auf eine Wand aus den anderen drei Mädchen. Zierlich waren sie aber konnten das wehrhafte Mädchen vor sich gut in Schach halten.
„Oh“, drang es mit dumpfer Stimme von Mara. „Ein Liebestrank. Hast du den gesucht? Wen unsere Anita wohl damit verzaubern möchte?“
„Wahrscheinlich Andrew“, plapperte Sofie fröhlich los und verschlang die Hände ineinander. Mit einem höhnischen Säuseln sagte sie das nächste. Blanker Spott, der Klassenkameradin gegenüber. „Oh Gott, wie sie in bei jeder Stunde anhimmelt und der Arme weiß noch nicht einmal etwas von seinem Glück.“
Na und? Anita wollte nicht versuchen mit Hilfe von einem Kilo Make-up eine gute Figur zu machen. Und auch wenn sie im geheimen für den Jungen schwärmen würde, braucht diese Clique das nicht zu interessieren.
Eine unbändige Wut wallte sich in ihr gegen die Mädchen auf.
Wenn sie nur ein einziges Mal… Ihre rechte Hand ballte sich zur Faust. Aber nein, den Mut sich gegen diese Biester durchzusetzen fand sie einfach nicht, egal wie oft sie danach in sich suchte. Dort war nur eine weite Leere, wo sich deutliche Worte des Zorns verbergen sollten. Eine Angst, die alles fest einschnürte.
Anita zog sich zurück.
Neben dem Liebesspruch, befanden sich einige Sprüche, die sie sich manchmal wünschte an diesen Mädchen auszuprobieren. Wenn sie denn wirklich funktionieren würden.
Sie ließ sich zurück auf den Stuhl plumpsen.
Ein Kampf hatte eh keinen Sinn, sie würde versagen. Nicht einmal die Lehrer könnten ihr eine Hilfe sein.
„Hier!“
Anita sah auf, wo das Buch vor ihr in der Luft schwebte, gehalten von Maras Händen und dem eindrucksvollen Nagellack.
„Wicca, nennt sich der Kult?“, fragte sie nach. Ein recht neutraler Ausdruck lag auf ihren hübschen Zügen, die Anita nicht genau deuten konnte. „Ist cool so was.“
Echt? Das Mädchen hob eine Augenbraue. Erst nach genauer Prüfung näherte sich ihre Hand vorsichtig in Buch. Fast so, als müsse sie gegen eine elektrische Spannung ankämpfen.
Dann schlossen sich ihre Finger um den Buchdeckel. Ihr Eigentum entglitt den Fingern der Anderen sehr leicht.
„Tut mir Leid, dass wir manchmal so gemein zu dir sind.“
Manchmal? Die Finger ihrer linken Hand umspielten ihr kurzes Haar, das sie vor einer Woche noch in einem festen Strang nach hinten nahm. Jetzt fehlt dieser Zopf. Nur noch kurze Stoppeln verblieben.
Alles wegen einer Attacke auf dem Schulhof durch diese Clique.
„Du weißt doch, was das für ein Kampf ist. Gefressen oder gefressen werden.“ Mara rollte mit den Augen, bevor sie sogar ein Lächeln zustande brachte. „Hey, Halloween hast du doch Geburtstag. Eines der Mädchen schmeißt eine Party. Komm doch mit. Natürlich brauchst du passende Kleidung, beim Schminken können wir dir helfen.“
Ja klar, am Ende werde ich mit echten Kratzern geschmückt, würde Anita ihnen gerne entgegnen. Ihre Zähne umklammerten fest die Unterlippe. Erst nachdem sie den Kopf ihrer Tasche zusenkte, kam eine Antwort.
„Sorry, aber wie du schon so schön gesagt hast, ist an diesem Tag mein Geburtstag.“
Sie verstaute ihre Bücher in ihrer Tasche.
„Na ist doch super. Die Party, gibt es was Besseres?“ Mara sah die andere direkt an, ohne ein Widerwort gelten zu lassen. Das kurze verziehen der dünnen Lippen blieb dabei unbemerkt. „Ein Kostüm wäre Pflicht.“
In einer kurzen Geste des Nachdenkens, hob Mara ihren Finger an die Lippen.
Sie ließ Anita noch nicht einmal eine Chance sich zu erklären, sondern plapperte sofort drauf los.
„Eine Hexe wäre doch toll. Eine Sexy Hexi, was meinst du?“
Lehn ab! Verdammt noch mal, sei schlauer als die und lehn ab! Genau das schrie jede Faser ihres seins. Dabei brauchte Anita noch nicht einmal auf die Mädchen hinter der Anführerin zu achten, die sich ein Lachen verkniffen.
Genauso wusste Anita, was sie bei einer Ablehnung erwartete. Die Haare um einige Zentimeter zu verlieren, war da noch eine schmale Konsequenz dagegen.
Also erklärte sie sich einverstanden, auch wenn dies nur schwer über ihre Lippen ging.
In ihrem Inneren versuchte sie sich auszumalen, was diese Mädchen jetzt schon wieder mit ihr anstellen wollten. Ein Friedensangebot, so dumm war sie nicht mehr, das zu glauben.
Mit Begeisterung wurde sie nicht umfangen, als Anita von ihren Geburtstagsplänen berichtete.
„Sofie ist doch die aus deiner Klasse?“, erkundigte sich die Frau bei ihr. „Julia, Mara, Michelle. Wieso kommen mir die Namen so bekannt vor.“
In einer verräterischen Geste zupfte das Mädchen an ihrem kurzen, braunen Haar.
Ihrer Meinung nach, hatte die Friseurin zu viel herausgenommen. War der Schaden wirklich so groß, dass nicht wenigstens ein paar Zentimeter mehr erlaubt waren?
Die Frau vor ihr, genau wie der Mann zu ihrer Seite, der das Mädchen in seine Arme nahm, waren nicht ihre Eltern. Und egal wie lange Anita schon bei ihnen lebte, wurden sie es auch nicht mehr.
Die Hoffnung auf ein eigenes Kind wurde dem Paar früh genommen, auch wenn sie es nicht einsehen wollten. Deswegen sträubten sie sich lange Zeit gegen eine Adoption. Selbst nachdem Anita das erste Mal in ihr Leben trat.
Das süße Kind der besten Freunde.
Niemand von ihnen hätte die tragische Wendung im Schicksal vorher sehen können, geschweige denn wollen. Den Unfall, der ihr die Eltern raubte und nach dem sie von diesen beiden lieben Menschen aufgenommen wurde.
„Sagst du nicht selbst, sie hassen dich?“, wollte Suse mit einem strengen Blick an ihre Adoptivtochter wissen. Auch wenn Anita sie nicht als wirkliche Mutter sah, so benahm sich diese wie eine und hätte das Kind am liebsten in Watte gepackt.
Martin war da ganz anders.
„Sie sind alle noch Kinder, lass sie doch. Ich bin sicher, ihr wird der Tag gefallen. Immerhin ist es ein besonderer Geburtstag.“
„Kinder, sollten aber nicht so mit Feuer spielen, dass sie andere dabei schwer verletzen könnten. Am liebsten würde ich…“ Sie verkniff sich jeden weiteren Fluch gegen die vier Mädchen.
„Es ist meine Entscheidung, Suse“, sagte Anita streng.
„Ihren 15. Geburtstag erlebt sie nur einmal“, stellte sich Martin auf ihre Seite. „Vielleicht haben die Mädchen gelernt, dass man zu anderen nicht so garstig ist und es soll eine Entschuldigung sein. Lass sie einfach ihre Arbeit machen. Ihnen die Augen auskratzen kannst du auch noch, wenn sie wieder etwas anstellen.“
Wie zur Bestätigung schwang Suse einen Pfannenwender in der Hand. Kurz darauf wandte sie sich der Pfanne zu, um die Eierkuchen zu wenden.
Sie diskutierten noch eine Weile. Martin und Anita, die zusammen den Tisch eindeckten, auch was sie zu der Party anziehen wollte.
Suse lauschte dem, ohne dass ihre Sorge gewichen war. Sie hielt sich an die Meinung ihres Mannes. Diesen Tag erlebte das Kind nur ein einziges Mal im Leben, da musste sie ihren eigenen Weg gehen, an den beide sie nicht hindern konnten.
Sonst würde sie womöglich die trotzige Jugendliche rauskehren und den beiden es das nächste Jahr deutlich spüren lassen.
Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht der besorgten Frau, als sie an die Zeit dachte, in der sie jetzt schon Eltern für das Kind waren.
Der Tag von Halloween kam ungewöhnlich früh für sie. Anita zeigte sich überrascht von Suse an diesem einen Tag mit einem kleinen Kuchen geweckt zu werden.
„Herzlichen Glückwunsch“, wünschte sie ihr und hauchte dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn, wie damals mit acht Jahren. Das erste Mal, dass sie ihren Geburtstag ohne ihre Eltern im Haus der neuen Familie feierte.
Die Frau verscheuchte noch nicht einmal ihre Sorgen wegen des abendlichen Treffens aus den Gedanken.
Dabei benahmen sich die vier Mädchen sogar ganz nett ihr Gegenüber. Ungewöhnlich für die Clique. Aber es reichte, um Anitas eigenes Misstrauen so weit zu schwächen, dass sie zu hoffen begann, die Freundinnen mögen es ernst meinen.
Vielleicht ging sie zu naiv daran. Daran dachte Anita, während sie mit ihren Adoptiveltern die Verkleidung durchging.
„Als Hexe also.“
„Ja, Mara hat mein Buch entdeckt und meinte, es sei eine gute Idee.“
„Wenn sie dir etwas antun“, rief Suse im warnenden Ton. „Dann kann Martin darauf wetten, dass ich ihnen nicht nur die Augen auskratze, ich verwandle sie in Kröten und brat sie mir.“
Dabei wedelte sie beschwörerisch mit dem Zauberstab und stieß ein helles Lachen aus. Passend zur Rolle, die von den meisten Hexen eingenommen wurde.
Der Stab war eines der wenigen Details, auf die Anita geachtet hatte. Dunkle Kleidung und ein Spitzhut kamen ihr weniger in den Sinn. Ihr Kostüm wirkte farbenfroh, fast schon zu schrill.
Bei dem Make-up setzte Suse ihre eigenen Zauberkräfte ein, die eher aus Kombination mehrerer Farben bestand. Eine weiße Grundierung mit schillernden Farben um die Augen und einem intensiven Rot auf den Lippen. Die gleiche Farbe, wie sie Suse trug, obwohl diese ein erwachseneres und dunkleres Modell einer Hexe abgab.
Ein extrem kurzer Mini, den sie immer noch gut tragen konnte. Dazu das blasse Gesicht und dunkle Schatten um die Augen, die ihrem Blick etwas kühles, unnahbares verliehen.
Martin an ihrer Seite, dieses dunkle Ebenbild, machte das Paar perfekt.
Wie ihre Adoptivtochter, hielt sie einen Stab in ihren Händen, der die Frau fast überragte. Anita hoffte inständig, sie hatte nicht vor ihn gegen die Mädchen zu schwingen, sobald diese vor der Tür standen.
Dabei gab Suse das wirkliche Bild einer sexy Hexe ab, wie sogar die Mädchen gestehen mussten, als sie vor der Tür standen. Martin an ihrer Seite, hatte sich ein künstliches Vampirgebiss über die Zähne gestülpt um vor ihnen mir aufgezogenem Dialekt den Grafen Dracula zu mimen.
Anita verdrehte die Augen und kaum waren die vier neugierig über die Schwelle getreten, um ihre Halloweendekoration zu betrachten – neben ihrem Geburtstag liebten die beiden den Tag besonders deswegen – da drängte Anita auch schon zum gehen.
Hinter der geschlossenen Tür nahm Martin das Gebiss aus dem Mund.
„Bin ich in den letzten Jahren wirklich so uncool geworden?“, wollte er von seiner hübschen Hexe wissen.
„Ach nein, Schatz!“, sagte Suse und schenkte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. „Es sind die Kids, die falsch liegen.“
„Ich bin Hoffnungslos“, schloss Martin.
Suse trat durch die Wohnung zum Fenster, um noch einen letzten Blick auf Anita zu werfen. Sie lächelte, kurz bevor die Mädchen hinter einem der Häuser verschwanden.
Hinter sich spürte sie Martin, dessen Körper sich nahe an den seiner Frau drückte, sie in eine Umarmung einschloss.
„Du hast Recht, diesen Abend wird Anita nicht mehr vergessen.“
Mara warf so manchen Blick auf das Mädchen neben sich. Dabei oft ein Lächeln auf den Lippen, das Anita dort nicht erwartete. Nicht nach allem, was sie besonders durch sie erleiden musste.
Konnte sie sich wirklich so geändert haben, um Anita in ihrer Gruppe zu dulden? Sie wollte daran glauben, flehte darum, alles möge nicht irgendein Trick sein.
„Wieso bittest du deine Mutter nicht öfters, dir beim schminken zu helfen?“, erkundigte sich Mara. „Das sieht echt klasse aus.“
„Suse ist nicht meine Mutter“, rief Anita verlegen. Egal wie sie sich aufopferte. Es gab nur eine Frau, die Anita je Mutter genannt hatte. Vielleicht auch aus Angst um einen weiteren schmerzhaften Verlust, hatte sie es nicht erlaubt sie als ihre Mutter zu betiteln.
Suse und Martin akzeptierten es beide, oder hofften eher, sie würde irgendwann doch in diesem Haus ein richtiges Heim finden.
„Wie auch immer, es sieht toll aus. Das wird der Hit.“
Anitas Wangen röteten sich. Für einem Moment wurde sie vom einem warmen Gefühl umspült. Wie die Wellen eines karibischen Meeres bei seichter Brandung.
Darüber hinaus bemerkte sie nicht, wie sich das Mädchen an ihrer Seite zurück fallen ließ. Ein kurzes Raunen ging durch die Gruppe, ehe Mara wieder zu Anita aufschloss.
Von außen wurde das Haus festlich geschmückt. Passend zu Halloween mit einigen Kürbissen auf den Sockeln des stählernen Gartentors.
Normalerweise sollte es unbefugte abhalten. Jetzt stand es für alle offen. Nicht nur das, einer der Jungs erleichterte sich gerade am Gitter, was so früh am Abend schon auf sehr viel schießen ließ.
Anita hob ihre linke Hand vor dem Blick zur Seite, um das nicht mit ansehen zu müssen, genau wie Mara. Die anderen drei Mädchen stießen einige beleidigende Worte aus. Eine zückte sogar ihr Handy. Morgen würde dieser Eindruck von der Party in ihrem Blog stehen.
Auch das Haus, besonders die Fenster erstrahlten in einem Halloweencharme, der weniger Grusel versprach. Wie das Tor, stand die Eingangstür in einer lauten Einladung offen.
Von drinnen drangen wummernde Bässe und eine laute Partystimmung, die sicher bald ein Polizeiauto vor die Tür rufen würde.
Sie war heute hier, um sich zu amüsieren, rief Anita sich in Erinnerung. Also Augen zu und rein, in das drängende Treiben, das für die Organisatorin womöglich morgen zu einem großen Problem werden würde.
Wie außen, ging die Dekoration im inneren weiter. Dazu wurde sie hier fast in eine andere Welt gerissen, bei der sich Anitas Augen weiteten.
Die Kostüme waren bunt gemischt. Ein Werwolf stand neben einem Skelett und die Organisatorin der Party ging als Baumelfe. Aufwendig hergestellt, mit zum Teil durchsichtigen Stoff in Grüntönen.
Neben alt bekannten Monstern, fand man hier Wesen der neueren Literatur oder Medien.
Ein Witzbold hatte sich als ein bekanntes Computerlogo verkleidet. Eine Vampirin demonstrierte gerade, dass man das Kostüm nicht einfach weg legte, sondern verspeisen konnte.
Verlegen wandte sich Anita von dem Pärchen ab und verschwendete nur ein paar Gedanken auf die Frage, aus was diese Schöpfung hergestellt wurde. Kurz darauf wanderte ihr Blick weiter neugierig im Zimmer umher.
Und tatsächlich, befand sich, wie die Mädchen sagten, sogar ihr Klassenkamerad Andrew auf der Party.
„Sprich ihn doch an“, meinte zuerst Sofie, die ihren Kopf fast auf Anitas Schulter legte.
Und zwischen all den Leuen befand sich sogar ein Junge, bei dem sich Maras Blick sofort verzückt zeigte.
Sie mochte mit ihrer Clique echt viel Respekt genießen und nicht nur Anitas Beine ins Zittern bringen, sie war eben auch noch ein Mädchen und traute sich nicht näher, als ihn aus der Ferne zu bewundern. Diesen Jungen, der hier echt heraus stach.
Nicht wegen einer eindrucksvollen Kostümierung. Eher Schlichtheit bestimmte es. Sein wild gestyltes Haar, mit dem er früher auf dem Schulhof so manchen Blick auf sich zu ziehen wusste.
Seine Kleidung war dunkel gehalten und glich eher normaler Straßenkleidung als ein Kostüm.
Noch ungewöhnlicher war eben Maras Schmachten. Dass ausgerechnet sie einen Funken von Menschlichkeit zeigte, die sonst eher kühl auf einen herunter blickte.
Hier waren sie wohl alle nur Mädchen.
Als Anita die Aufmerksamkeit wieder dem Jungen zuwandte, führten ihn seine Schritte auf sie zu.
„Oh Gott“, rief Mara, ihren drei Freundinnen zugewandte. „Er ist einfach ein Traum.“
„Nur schade, dass er nicht mehr auf der Schule ist“, sagte Julia. „Mein Bruder meint, er habe den ganz großen Fisch an Land gezogen und eine Ausbildung bei irgend so einer großen Firma gefunden. Aber mehr konnte er nicht sagen.“
Das Mädchen mussten sie ein hysterisches Kreischen unterdrücken. Die Schritte des Jungen, er mochte 17 sein, vielleicht sogar 18, führten ihn ausgerechnet zu ihrer Gruppe, aus fünf Mädchen.
„Hallo die Damen“, rief er mit einer Kühle, passend zur kommenden Novembernacht.
„Hi“, rief Mara übertrieben lang gezogen und drängte sich an Anita vorbei, damit sie direkt vor ihm stehen konnte.
Nicht nur das. Freundschaft war wirklich kein Punkt auf der Karte, die beide verband. Mara stieß sie ja regelrecht fort, aus der Bahn, weg von dem hübschen Jungen.
„Du heißt Jamie? Ich habe dich oft bei Spielen beobachtet. Es heißt, du hättest aufgehört.“
„Ich spiel schon noch“, gab er zu. „Manchmal mit meinem ehemaligen Team aber ich bin nicht mehr beim richtigen Training dabei. Ich finde einfach keine Zeit mehr dafür.“
„Und was soll dein Kostüm darstellen?“, tastete sich Anita vorsichtig an ihn heran. Vielleicht war sie auch zu forsch.
Für einen Moment duckte sie sich unter dem giftigen Blick von Mara, der nun ganz die Freundlichkeit von zuvor verloren hatte. Sogar mit Hass anschwoll, nachdem sich der Junge Anita einen Schritt näherte.
„Ein Hexer, jedenfalls meine Version davon“, rief er mit tiefer Stimme. „Oder denkst du, die laufen mit langem Kleid und weißem Vollbart herum?“
Anita konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, das ihm sichtlich gefiel.
„Hey, da unsere Kostüme so gut zueinander passen, wie wäre es mit einem Tanz?“
„Ich?“
Der Junge ließ ihr noch nicht einmal eine Möglichkeit selbst zu wählen, sondern zog sie einfach von der Gruppe aus vier Mädchen fort. Und das, wo sie die neu gewonnene Freundschaft zu Mara nicht gefährden wollte.
Sie bereute nur kurz.
Jamie mochte älter als sie sein, sein Charakter funkelte aber von einem angenehmen Schein, in dem sie sich wärmte. Im Tanz und späterem Reden vergaß sie alles um sich herum.
Das Mädchen beobachtete die beiden ganz genau. Den hübschen Jungen, im so dunklen Auftreten, umhüllt von einem Hauch Geheimnis, wie es ihr schon auf dem Schulhof auffiel. Dann das junge Mädchen daneben, das in dieser Position eher falsch wirkte.
Dieser Trampel, der nur heute ein wenig Glamour ausstrahlte, sonst aber eher ihren tristen Charme mit farbloser, unscheinbarer Kleidung betonte.
Heute mochte sie einen funkelnden Schein haben, aber den würde sie früh genug zertreten.
In das Bild des Pärchens trat ein groß gewachsener Junge, der seit diesem Jahr nicht mehr zu ihrer Schule gehörte, wie auch Jamie.
In einer Hand hielt er eine Tüte Süßigkeiten. Beute der letzten Nacht. Weniger beim von Haus zu Haus gehen, eher hatte er sie einem der Kids abgenommen. In seiner anderen Hand lag eine Bierflasche.
Die Maske seines Kostüms war in seinen Nacken gerichtet. Der dunkle Mantel und die skelettierten Hände zeugten noch davon, dass Julia mit ihrer Erzählung vom Tod auf der Türschwelle gar nicht mal übertrieben hatte.
„Hey!“, sprach sie den Jungen an. „Wir planen für später etwas, hättest du Interesse.“
Der ältere Junge, den nur knapp ein Jahr von seiner Schwester trennte, stand zwar eher im Sinn eines der jungen Dinger abzufüllen, um sie später irgendwo hin zu locken, wo sie ungestört waren. Als Mara ihm ihren Plan offenbarte zuckte er nur mit den Schultern.
„Wieso nicht?“, meinte er und nippte an der Flasche. Kurz darauf platzierte er diese, sowie seine Last unter einem der Tische. Erst nachdem er den Inhalt seiner Taschen kurz überprüft hatte, folgte er der Anweisung des Mädchens.
Mit Jamie zu reden war einfach wundervoll. Er war ein netter Junge, kein Wunder, dass Mara von ihm schwärmte.
„Du gingst früher auf unsere Schule?“ Sicher in der gleichen Klasse wie Julias Bruder. Daher verwunderte es Anita nicht, dass er dem jüngeren Mädchen auffiel.
Klar begegnete man sich in der Schule. Jamie fiel auf. Ihn zu beachten, gar anzusprechen, kam ihr bisher nie in den Sinn.
Er nickte.
„Ich habe noch während meiner Schulzeit einen gute Ausbildungsplatz gefunden. Es ist angenehm dort, auch wenn ich mich manchmal, wie der persönliche Diener meiner Vorgesetzten fühle. Dabei meinte ich früher, Büroarbeit wäre nicht mein Fall. Ich wollte eher versuchen mit dem Fußballspielen einen guten Platz zu finden.“
Anita konnte nicht anders. Sie lachte laut auf.
Jamie war nun wirklich kein Typ, den man sich gut in einem Büro vorstellen konnte. Zugeknöpft mit Hemd und Krawatte. Da passte ihm diese dunkle, wilde Kleidung viel eher.
„Und deine Chefin? Ist sie sehr streng?“
Der Junge wollte ihr gerade antworten, da platzte Mara mitten ins Gespräch.
Zuerst wanderte ihr Blick auf Jamie, als er zu Anita schwang, konnte man für einen Moment nur das eisige Blau ihrer Augen erkennen. Ein kühler Dolch, der in dem Herz der Anderen steckte.
Doch sofort trug sie wieder ein Lächeln auf ihren Lippen.
„Ich muss kurz mit dir reden“, sagte Mara und zog Anita mit sich.
Noch immer fühlte es sich an, als würde ein Dolch aus Eis in ihrem Herz stecken, der plötzlich zersprang,
„Sehen wir uns später noch einmal?“, rief Jamie über die Kids hinweg, die sie jetzt trennten. „Ich würde dich gerne nach Hause begleiten.“
Maras Griff schloss sich schmerzhaft fest um ihren Arm.
„Hey“, beschwert sich Anita in sanftem, fast schon unschuldigen Ton.
Sie konnte nicht verstehen, was in Mara vorging. Mara schwärmte für Jamie, was mehr als deutlich wurde. Er war sogar frei. Eine Freundin zu finden, daran dachte der Junge jedoch nicht. Im Moment gab es für ihn nur diese Chefin, die ihn manches Wochenende kostete.
„Ich wusste, dass du nicht den Mut aufbekommst Andrew anzusprechen, deswegen habe ich es getan“, sagte Mara in einem vertrauten Ton.
Genau jetzt wäre Anita am liebsten geflohen.
Es stimmte, dass sie von ihrem Platz aus, öfters zu Andrew sah. Und ja, er war recht süß.
Aber verdammt der Typ streckte seinen Kopf immer so hoch, dass sie nicht umher kam, ihn anzustarren, oder eher an ihm vorbei, um etwas auf der Tafel erkennen zu können. Das hatte rein gar nichts damit zu tun, dass sie in ihn verliebt war.
Wie kam Sofie überhaupt auf solch eine Idee?
Da gab es tatsächlich kleine Gesten, die sie verräterisch aufgenommen haben könnte.
Kleine Briefchen, die sie dem Jungen heimlich zusteckte. Kurze flüsternde Worte.
Für alles war sie die Vermittlerin.
Was tat sie nicht alles für andere? Sollte ihr das jetzt zum Verhängnis werden?
„Kann ich nicht einfach zurückgehen?“, wollte Anita wissen.
„Ja klar, zu Jamie“, rutschte es der anderen heraus. Ein Ton, der bei Anita durch jeden Knochen fuhr.
Mara glich einer Bestie, für die ein einziges falsches Wort oder eine einzige Geste fehlte, damit sie auf ihr Opfer sprang. Und das ausgerechnet, wo es in der letzten Zeit so gut zwischen ihnen lief.
Deswegen folgte sie ab jetzt nur stumm.
Zuerst zu der Gruppe aus drei Mädchen, dann hinaus aus dem Haus.
Die Mädchen führten Anita etwas außerhalb der Stadt, in einen kleinen Hain.
Sie erinnerte sich noch, dass sie hier als Kind mit ihren Eltern spazieren ging. Ein kleiner Funken Glück durchflutete sie bei den Erinnerungen daran, der ihr einst abhanden gekommen schien.
Damals in ihrer Kindheit meinte sie, kurz nach dem Tod ihrer Eltern, sie würde nie wieder glücklich sein. Ein Irrtum, wie ihr kurz darauf Suse und Martin zeigten.
„Was wollt ihr nun?“, wollte Anita wissen und blieb stehen, genau wie die Mädchen vor ihr.
Freundinnen, wie sie meinte.
Eine Grimasse, der Vorfreude offenbarte sich auf den Gesichtern aller vier.
Die dunkelhaarige Mara, jung aber die Anführerin. Julia. Mann konnte sie für einen Engel halten, wenn sie nicht die Grimasse eines Dämons offenbarte. Michelle, hübsch und meist in schrillen Farben gehüllt. Zuletzt die Jüngste der Clique. Sofie.
Alle drei näherten sich mit ihren Schritten Anita, die jetzt ängstlich zurück wich.
Für einen Moment hatte Mara das Mädchen wirklich gemocht. So sehr, dass sie an ihrem Vorhaben zweifelte.
Aber nicht nach diesem Abend.
Nachdem sich dieses Flittchen schamlos an Jamie heran gemacht hatte. Das würde ihr noch teuer zu stehen kommen.
Ein einziges Zeichen in die Nacht, schon traten die beiden Jungs hervor. Und noch ehe Anita sich dem entziehen konnte, fand sie in ihrem festen Griff gefangen.
Wie die Jungs, so stülpten sich auch die Mädchen eine Maske über das hübsche Gesicht.
Ihr Spiel konnte beginnen.
Sie wusste nicht, wer die beiden Jungs waren, die plötzlich von Links und Rechts kamen, um ihre Arme zu packen.
Ihr Griff war so fest. Anita versuchte sie abzuschütteln, aber ohne Erfolg.
„Was soll das?“, verlangte sie von dem Mädchen zu erfahrne, dessen Gesicht unter der schaurigen Maske einer entstellten Hexe lag.
Mara lachte, genau wie ihre drei Freundinnen.
„Dachtest du etwa, wir seien Freunde?“, höhnte sie. „Wir kommst du überhaupt auf die Idee? Nur weil wir die letzten Tage nett zu dir waren?“
„Genau!“, kreischte Sofie auf. „Wie kommt die überhaupt darauf? Sehen wir so aus, als würden wir einen Trampel wie dir überhaupt eine Chance geben.“
Anitas Blick senkte sich.
Da hatte Suse mit ihrer Besorgnis wohl Recht, musste sie sich eingestehen.
Sie wäre es nicht, der Suse das auf die Nase binden würde. Eher ihrem viel zu gutgläubigen Ehemann.
„Was tun wir jetzt mit ihr?“, wollte Michelle wissen, deren Augen gefährlich aufblitzten. Wie ein Raubtier, kurz vor dem Sprung auf seine Beute.
Sie trat vor Anita. Ihre Finger tätschelten das Kinn des anderen Mädchens und fuhren von dort aus zum kurzen Haar.
„Der neue Schnitt sieht genauso scheußlich aus, wie der alte. Also wer hat das versaut?“
Am liebsten…
Anita sprang nach vorne, wurde aber weiter von den älteren Jungs gehalten.
Julia zückte ihr Handy. Erst für ein paar Fotos des gefangenen Mädchen, später stellte sie auf Kamerafunktion um, ganz wie ihre Anführerin befahl.
Sie sollte es nicht tun. Verdammt, immerhin hatte Mara einiges drauf, wovon deutlich Anitas Haare zeugten. Aber… Ach verdammt… Das hatte sie wirklich verdient.
Außerdem, was hatte sie schon groß zu verlieren?
Anita musste mit einem der Mädchen die ganze Zeit in einer Klasse verbringen, ob sie wollte oder nicht. Was änderte es schon daran, das sie sich hier brav in der Gefangenschaft hängen ließ, still wie ein Kaninchen auf der Schlachtbank, stumm wartend, bis der Metzger das Beil schwang.
„Hey Mara!“, rief Anita und konnte ihre Stimme selbst nicht wieder erkennen. Voller Stärke und ohne einen Funken Angst. Auch wenn sich in ihrem Magen ein warmer Klumpen verfestigte und sie bald übernehmen würde.
Dem Mädchen vor ihr sah Anita mit einem Funken Neugier an.
Anita hob ihren Kopf. Kurz drauf verfestigte sich ein Lächeln.
„Ich habe doch mit Jamie geredet. Er sagte, dass er nicht auf solche Zicken wie dich steht. Kleine Mädchen, die ihn anhimmeln sind ihm viel zu lästig, also vergiss ihn einfach.“
Ihre Stimme erzitterte unter dem letzten Wort, auf dem auch ein Schlag von Mara folgte.
Ihre flache Hand schlug in einem im Hain verhallenden Schlag auf die Wange des anderen Mädchens auf.
Da hatte Anita einen deutlichen Nerv getroffen.
Und noch ehe ein anderer etwas tun konnte griff das Mädchen nach rechts, in die Tasche des einen Jungen. Daraus hervor holte sie ein Messer.
Die Klinge blitzte im Mondlicht silbern auf. Klebrige Reste zeugten davon, dass er zuvor einen Apfel geschnitten hatte. Wohl beim Warten auf die Mädchen.
Er war der einzige, dessen Augen nicht vor Schockierung aufblitzten, eher amüsiert von dem Geschehen, genau wie sein Lächeln.
Anitas Kopf sank auf die Brust. Schlaff hing sie im Griff der beiden Jungs. Rechts steckte ihr Arm in einer fast unauslöschlichen Fesselung, links erschlaffte der Griff.
„Was hast du vor?“, wollte Sofie wissen, die ängstlich ein Schritt zurück trat.
Mara wollte ihr nicht wehtun. Noch nicht jetzt.
Die Hände des Mädchens griffen in Anitas kurzes braunes Haar.
Oh verdammt, es war so schon viel zur kurz, jetzt wurden die Spitzen um einen weiteren entscheidenden Zentimeter gekürzt. Dabei hatte Anita nie vor jemals mit solch einer Kürze das Haus zu verlassen. Ob ein Hairstylist ihre Frisur retten würde können, selbst nachdem Mara zwei weitere Male das Messer an ihrem Haar ansetzte?
Ihre Bestrafung fand noch kein Ende.
Die Klinge legte sich an Anitas Kinn. Mit etwas Druck zwang Mara die andere, sie anzusehen. Auf in das unter der Hexenmaske versteckt liegende Gesicht. Anita konnte an den Augen erkennen, dass die andere ein breites Grinsen offenbarte.
„Ob er sich noch für dich interessiert, wenn ich mit dir fertig bin?“, fragte Mara, in einer heißen Verkündung, auf die Anita einen Schritt zurück getreten wäre, wenn die Jungs ihre Fesslung abgenommen hätten.
So spürte sie nur den Griff, der sich noch schmerzlicher um sie legte, je mehr sie sich bewegte.
Die Klinge wanderte über die Wange des Mädchens. Zuerst in einer zarten Berührung, die keine Spur hinterließ.
„Nein!“, kreischte sogar Julia jetzt auf. „Wir wollten ihr etwas Angst einjagen. Jetzt komm, lass uns aufhören.“
Mara hörte nicht auf die Freundin.
Anitas Schrei erfüllte den Wald aber niemand anderes, als die vier Mädchen und die beiden Jungs würden ihn hören. Sie waren alleine und keiner von ihnen würde sich gegen das Mädchen stellen. Egal, was sie tat.
Eine rote Spur zeichnete sich über Anitas Wange. Heiß und klaffend.
Die Fesselung um ihren linken Arm löste sich.
„Nein!“, kreischte der Junge. „Ich mach da nicht mit, ihr seid durchgedreht! Psychos! Ihr habt sie nicht mehr alle.“
Er trat einen Schritt wankend nach hinten.
Kurz drauf löste sich auch die rechte Fesslung. Anita sank auf ihre Knie nieder. Heiße tränen brannten in der Wunde und benässten den Waldboten unter ihr.
„Jetzt reiß dich zusammen!“, ging der eine Jungen seinen Kumpel an. „Egal was hier passiert, wir sind alle dran und ich schwör dir, ich bring dich um, wenn du dich jetzt nicht zusammenreißt!“
Dieselbe Drohung richtete sich auch an die anderen drei Mädchen, die sich vorsichtig entfernten.
Anita schloss ihre Arme um sich. Sie wollte nicht vor der Feindin in Zittern losbrechen, ihr nicht diese Befriedigung geben. Nicht, nachdem ihr Plan so gut aufging.
„Verdammt!“, schrie Anita auf. „Mich interessiert keiner von beiden. Weder Andrew noch Jamie. Wir haben nur geredet, mehr nicht. Keine Ahnung, wieso er ausgerechnet mich ausgewählt hat.“
Die falschen Worte.
Wieder flog Maras Hand ihr entgegen. Mit einer solchen Wucht, die Anita nach hinten umstieß.
Kurz drauf flog die Maske vom Gesicht. Mara lag auf ihr. Mit einem so vor Wut entstellten Grinsen, das den Wahnsinn in Person enthüllte.
Jetzt begann Anita wirklich zu zittern. Das Messer erhob sich.
Sie waren alle zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren, wusste selbst die etwas beschränkte Sofie. Diese Nacht würde für alle kein Happy End haben. Nicht wenn sie zu sechst den Hain verließen und schon gar nicht, wenn Anita nach Hause kam.
Wärme breitete sich in dem Mädchen aus, dessen Körper unaufhörlich zitterte.
„Happy Birthday!“, rief Mara. Die Klinge näherte sich schnell dem finalen Schlag.
„Falsch!“, rief Anita mit ungewöhnlich fester Stimme.
Die Klinge stoppte kurz über ihrem Herzen und auch das Zittern verebbte.
Anita lag da, regungslos. Ihre Brust hob und senkte sich unter ihren schnellen Atemzügen.
In der Ferne vernahm man den Glockenschlag der Kirchenuhr.
Es war Suses Idee. Schon am ersten Jahrestag des Todes ihrer Eltern dachte sie sich, diesen Tag als einen Tag der Feier zu begehen. Damit sich das Kind nicht in Trauer verlor und ihren Geburtstag zu hassen begann.
Ihre Eltern wollten an diesem Tag zurück sein. Ihr Vater fuhr einen Tick zu schnell. Auf der regennassen Fahrbahn kam der Wagen von der Straße ab und zerschellte an einem Baum.
Anita bekam die Nachricht erst am nachfolgenden Tag. Ein Tag, an dem sie schon zurück sein wollten, um ihre Tochter, mit einem Happy Birthday zu begrüßen.
Und es klappte. Anita vergaß den traurigen Umstand nie aber sie lernte auch den Tag zu feinern, egal was für eine Tragödie sich wieder einmal jährt. Ihre Mitschüler bemerkten es und benannten ihren Geburtstag immer falsch.
Einen letzten Schlag tat die Uhr.
Anitas Körper wurde ganz ruhig.
„Mein Geburtstag ist erst heute“, sagte sie. Nicht am 31., sondern am ersten Tag des nächst folgenden Monats.
Ein einzelner Tropfen Regen beträufelte die Wange des Mädchens. Kurz drauf trommelte ein plötzlicher Regenschauer auf sie ein.
„Und was soll mich das interessieren?“, fragte das Mädchen, in dessen Hand das Messer immer noch über dem Herz der anderen schwebte. „Tja, schade für dich.“
Ihre Stimme war gehässig.
„Mara, hör bitte auf“, flehte Julia. „Es ist genug.“
„Nein!“, rief das Mädchen streng. „Ich lass nicht zu, dass dieses Flittchen mein Leben ruiniert. Oder meint ihr, sie rennt nicht sofort zur Polizei? Dann sind wir alle dran!“
Wieder erhob sich das Messer.
„Nein“, rief sie erneut. Diesmal mit einem Gesicht voll blanker Freude. „Sie wird schweigen. Für immer. Dafür sorge ich schon!“
Anita schloss ihre Augen.
Das bis eben sich nähernde Messer zögert unter dem Aufkeuchen eines Mädchens.
Es war nicht Anita, die ihre Hand von der Wunde wegzog und diese im Mondlicht betrachtete. Wie das Wasser das Blut wegspülte. Sondern Mara. Sie sank blutend neben der anderen zu Boden.
„Was?“, keuchte sie unfassend auf.
Anita erhob ihre Hand. Ein Pfeil aus purem Wasser, lag in ihren Fingern. Nur eine einzelne Bewegung, schon schoss das Geschoss auf die am Boden liegende Feindin zu. Unerbittlich bohrte es sich in voller Härte durch ihre Brust.
Ein letztes Keuchen verließ die Lippen des Mädchens, ehe Mara reglos am Boden liegen blieb. Die Augen starrten Anita weiter an. Mit all dem Hass, den sie ihr auch schon vorher zuwarfen.
Nur dass sie ihr jetzt nichts mehr antun konnte.
Ängstlich sahen die anderen drei Mädchen auf Anita.
Ihre Hexenmasken sanken zu Boden, schockierte Blicke wurden darunter offenbart und auch die beiden Jungs legten ihre Masken ab.
Einen davon erkannte Anita jetzt. Julias Bruder. Der andere war ihr unbekannt und mehr ein Anhängsel des Unruhestifters.
„Du verdammtes Miststück“, schrie der große Junge auf. „Was hast du getan? Ich werde dafür sorgen, dass du dein Maul hältst!“
Ehe Anita sich umgedreht hatte, lag die feste Hand des Jungen um ihren Hals.
Unerbittlich drückte seine große Hand die Kehle des 14-jährigen – seit dieser Nacht eigentlich 15-jährigen Mädchens zusammen.
Angst brandete in Anita auf, drohte sie fort zu reisen. Hinaus aus der Welt, ganz in die Hand der Wärme, die sich in ihr ausbreitete, fast wie eine andere Person, die sich ihr bemachtet. Mit der Angst kam auch die Wut.
Sie wollte nicht sterben und würde alles tun um am Leben zu bleiben.
Anitas Körper verkrampfte sich im Flehen um Luft, das von jedem unerhört blieb.
Der andere Junge floh. Sofie stand zitternd in Tränen da. Michelle schrie, er solle es lassen und Julia kreischte auf.
Hinter dem Jungen hob sich eine Gestalt im Regen ab. Eine zweite Anita. Ein Spiegel ihrer, der nicht zitterte, sondern grinste, während sie ein Messer geformt aus Wasser dem Jungen in den Rücken rammte.
Der Spiegel fiel zusammen, kaum das der Junge keuchend zurück trat. Ein weiterer Stich brach aus der Dunkelheit hervor.
Die echte Anita sog die kühle Luft dieser ersten Novembernacht ein.
Sie hatten es verdient, stand für sie fest.
„Nein!“, rief Julia.
Sie rannte zu ihrem Bruder, der sterbend zu Boden gesunken war.
„Was hast du getan?“, verlangte das Mädchen zu erfahren, die den Kopf ihres Bruders an ihre Brust drückte. „Du Hexe! Du Monster! Du solltest sterben, nicht er!“
Eine Hexe, das war wohl wahr. Die dünnen Lippen des Mädchens verzogen sich zu einem vergnügten Lächeln.
Die Wärme nahm nun ganz Besitz von ihr an. Diese süße Kraft, die ihr so viel Macht verlieh.
Egal was es war, oder wozu sie ihr an diesem Tag verliehen wurde, jetzt wollte sie nur noch eines. Rache.
Für alles, was ihr diese Mädchen antaten.
Anita hockte sich zu Boden. Wie ein Kind im Spiel mit einem Käfer, wollte sie Julia ganz genau beobachten. Jede ihrer Gesten, während sich die Hand des wässrigen Spiegelbilds um den schlanken Hals des hübschen Mädchens legte. Dabei konnte noch nicht einmal das von Regen und Tränen verwaschene Make-up etwas von den hübschen Zügen nehmen.
Sofie sank weinend zu Boden.
Sie flehte immer wieder, dieses Grauen möge ein Ende haben. Für sie erschien es in einem Alptraum. Und keiner von den verbliebenen Mädchen wusste etwas zu tun.
Julias Fingernägel rissen die Haut an ihrem Hals auf, ohne dass sie etwas zu fassen bekam. Nur das Wasser strömte über ihre Finger, wusch das Blut aus ihren Wunden, bis ihr Körper erschlaffte.
Nicht einmal da ließ Anitas Spiegelbild von dem Mädchen ab, deren Augen sich kraftlos schlossen.
Sie alle sollten Leiden.
Mara, Julia, Michelle und Sofie. Für all das, was sie in ihrem Leben taten.
Ein scharfer Wind zog an ihr vorbei. Sie sah nicht, was es war, das dieses wässrige Spiegelbild mit einer einzigen Bewegung zerschlug.
Anitas Augen weiteten sich.
Gab es etwas oder jemand, der sich gegen diese neu gewonnene Kraft behaupten konnte? Nein, das war nicht möglich!
Sie sah nach Rechts, wo im Schatten der Bäume ein Junge stand. Dunkle Kleidung, zu einem selbst gestalteten Kostüm gebracht, wie er ihr selbst berichtete.
Jamie.
Sein Haar klebte Nass auf der Stirn. Die Züge in seinem hübschen Gesicht wirkten ungerührt, so dass Anita nicht sagen konnte, ob ihn dieses Schauspiel abstieß oder was er womöglich darüber dachte.
Und auch wenn Anita ihn mochte, so war er hier doch fehl am Plazt.
Ein Pfeil aus Wasser sauste auf den Jungen zu, der gekonnt hinter dem Baum entkam.
Als er wieder vortrat, lag etwas in seiner Hand. Ein Fußball, auf dem ersten Blick. Aber nein, es war etwas anderes. Eine Kugel aus Wind, auf die Größe eines Fußballs gebracht, drehte sich auf seinem Finger.
Anita zog eine schützende Wand vor sich auf. Aus der erhob sich ein weiterer Pfeil für den Besucher. Und auch die Mädchen sollten einen von ihnen geschenkt bekommen. Ein allerletztes Geschenk.
Der Ball stürzte von seinem Finger hinab, kurz darauf gab ihm ein schneller Kick Schwung.
Wie zuvor zerschlug dieser die Gestalt des Wassers. Zuerst den Pfeil, der auf ihn selbst zuraste. Nicht aber die Wand. Kurz davor kam er zum Stehen und sauste dann links an ihr vorbei in einem großen Schwung, um die anderen beiden Geschosse zu zerschlagen.
Sein Flug endete erst am Hinderkopf des Mädchens, deren Wasserwand in sich zusammenfiel.
Kein heftiger Schlag, wie wohl anzunehmen wäre, nur eine schwache Berührung, einer Rüge gleich.
„Man, hier ist ja was los!“, rief der Junge. Erst jetzt trat er auf die Lichtung.
Aufgeputscht vom Kampf schrie das Mädchen auf, bereit zum Angriff.
„Verschwindet!“, wies Jamie den anderen beiden Mädchen streng an. „Und vergesst am Besten, was hier passiert ist.“
„Nein!“, schrie Anita auf, drohend sich selbst an dieser unbändige Wut zu verlieren.
Dabei war sie nicht so. Ein kühles Wesen vom Durst nach Rache schreiend. Doch in dieser Nacht war alles anders.
In ihr brannte diese Hitze. Die lockende Macht ihres wässrigen Spiegelbilds, das sich vor Jamie aufbaute.
„Lass dich nicht von dieser Macht kontrollieren“, rief ihr der Junge zu, ehe er getragen von Schwingen aus Wind, zu einem weiten Sprung, aus der Reichweite des Spiegelbilds floh. „Du bist stärker als diese Gabe.“
Anita achtete nicht auf ihn, wandte den Blick nur ab, hin zu den fliehenden Mädchen.
Ein weiteres ihrer Spiegel-Ichs hob sich aus dem Regen ab, versperrte ihnen den Weg. Drohte mit ihren Händen nach Sofie zu greifen.
Dem kleinen Dummerchen, das auf Maras Befehl hin so vieles getan hatte, um Anita zu schaden. Genau das sah sie vor sich. Die vielen Male voller Qual, in der Schule oder außerhalb. Ihre Späße, die oft viel zu weit gingen. Bis hin zum Verlust ihres langen Haars.
Tränen flossen über ihre Wangen.
„Sie sollen Leiden“, drang es in einem wilden Fauchen aus ihrer Kehle. „Sie sollen mich anflehen! Ihr Blut soll die Erde tränken“
Dieser Zorn verdrängte alles.
Anitas eigentlich sanften, gütigen Charakter. Ihre Besonnenheit. Einfach alles, was sie ausmachte, bis nur noch das Feuer übrig blieb, von dem sie drohte verschlungen zu werden.
Ein Bumerang aus Wind sauste vorbei, bis es das Spiegelbild in der Nähe beider Mädchen zerschlagen hatte.
Wütende Hände griffen aus dem Regen nach dem Jungen.
Wind und Wasser, im unbarmherzigen Kampf.
Die Schwingen aus Wind zerschlugen Anitas Spiegelbild. Ehe sich ein weiteres erhoben hatte, trugen sie ihn im schnellen Sturzflug zu dem Mädchen.
Sie spürte seinen festen Griff um ihre schmalen Schultern. Wie er auf ihr landete und sie in dem Sturz mit sich riss. Der feste Boden scheuerte ihre Haut auf und zerriss das Kleid, ehe sie zum Stehen kamen.
„Wach auf!“, befahl er ihr mit aller Strenge, die er aufbieten konnte. „Verdammt Anita, komm zu dir!“
Die Flügel aus Wind erloschen, unter dem Schlag zweier weiterer Spiegelbilder links und rechts von ihnen.
Jamie hob ihren Körper an, nur um ihn dann hart zur Erde zu Schlagen.
„Mädchen, das bist nicht du!“, rief er.
Anita blinzelte. Regen benässte ihre Wangen. Dann kippte ein Schwall Wasser von den zerfallenden Spiegelbildern über sie.
„Jamie!“, rief sie mit zitternder Stimme. Die Wärme in ihr kühlte ab, ohne zu verschwinden. „Was passiert mit mir?“
„Habe ich nicht gesagt, mein Kostüm würde das eines Hexers darstellen?“, fragte er, als können alleine diese Worte alles erklären. Dabei warfen sie noch mehr Fragen auf.
Bekümmert hob Anita den Kopf, noch ehe der große Junge von ihr stieg.
All die toten Leiber. Ihre Schuld, klagte sie sich an.
„Kümmere dich nicht darum“, meinte der Junge, mit einem aufmunternden Lächeln. „Jeder von uns macht diese Zeit unterschiedlich durch. Ich hatte damals niemand, bis meine jetzige Cheffin mich bei einem Fußballspiel entdeckte.“
Er stellte sich vor ihr auf.
In seiner Hand erhob sich wieder ein Ball aus Luft. Ganz nach seinem Wunsch konnte der die Kugel aus Wind leiten.
„Die Jungs im Team hatten mir einen passenden Spitznamen gegeben. Magical Talent. Sie ahnten nicht, wie wahr doch alles war. Ich besaß Talent, erleichterte mir aber viel durch diese Gabe.“
Er reichte ihr seine Hand.
„Sie ist nett, kann aber auch sehr streng sein. Zeigte mir aber einen neuen Weg auf. Ich konnte gar nicht erwähnen wer meine Vorgesetzte ist.“
„Suse.“ Es war rein aus Instinkt heraus. Dabei dachte sie noch nicht einmal daran, richtig zu liegen.
Ihre Hand näherte sich vorsichtig seiner, schwang aber bei seinem Nicken sofort zurück, als hätte sie sich an seiner Haut verbrannt.
Das konnte nicht sein!
„Deine Mutter sorgt sich sehr um dich.“
Wieder wollte Anita ansetzen, dass Suse nicht ihre Mutter war. Diesmal schwieg sie und griff nach dem Jungen, der ihr mit festem Griff half aufzustehen.
Kein Blut verband sie mit den beiden Menschen und doch mochte sie beide wirklich. Sie wollte beide nicht missen oder so verlieren wie ihre Eltern, auch wenn diese nie deren Platz einnehmen konnten.
„In jedem von uns erwachen diese Kräfte mit Beginn des 15. Lebensjahres.“
„Jeder von uns?“, plapperte Anita mechanisch nach.
„Hexen, Magier, Zauberer, wie man es nennen will.“ Er zuckte mit den Schultern. „Zuhause erfährst du mehr, von deiner wahren Familie.“
Der Regen versiegte langsam. Was er zurückließ, war ein durchnässtes Mädchen, das sich zitternd im kalten Wind, die Arme rieb. Eine stumme Geste, auf die Jamie seine Jacke auszog, um sie ihr über die Schultern zu legen.
Noch einmal wollte Anita einen Blick zurück werfen. Auf das Bild, was sie angerichtet hatte. Jamie wusste es zu verhindern.
„Kümmere dich nicht darum“, wies er an. „Dafür haben wir unsere Familie.“
Ihre Familie. Menschen mit besonderem Talent wie sie, die das Wasser rufen konnte, oder Jamie, dem die Macht über den Wind innewohnte.
Nach ihrem Heimkommen sah Suse sie kurz an, mit ihrem typisch besorgten Blick. Sie sagte nichts, schloss ihre Adoptivtochter nur in ihre Arme. Martin verschwand kurz darauf, um dem Mädchen ein Bad einzulassen. Jamie durfte nicht bleiben, was Anita etwas später sogar recht war.
Mit einem Bademantel bekleidet trat sie eine halbe Stunde später nach unten zu Suse und Martin.
Beide saßen bei einer Tasse heißer Schokolade auf der Couch, einen Platz zwischen sich für Anita frei haltend.
Sie mussten reden. Über das, was in der Nacht passiert. Über diese Fähigkeit, die nicht nur ihr innewohnte, auch ihre Mutter konnte über das Wasser herrschen. Ihr Vater besaß eine eigene Gabe. So erfuhr sie auch, dass das Feuer, was ihr Haus fast zur Gänze zerstörte einem hitzigen Gespräch ihrer Eltern, oder eher dem Zorn ihre Vaters entsprang.
Niemand von dieser Familie verurteilte Anita wegen dem Geschehenen. Ob sie nun richtig dazu gehörten wie Suse und Martin oder einfach dem kleinen Kreis aus Menschen bildeten, die sie genauso aufnahmen wie ihre Adoptiveltern. Ein paar der Jugendlichen kannte sie.
Schüler aus den oberen Klassen. Eine von den Mädchen sprach beruhigend auf Anita ein. In ihr erwachten die Kräfte erst vor wenigen Monaten. Sie wusste noch ganz genau, welche Ängste sie quälten. Wie verstörend die Macht auf sie wirkte.
Und auch in der Schule waren nun sie an ihrer Seite. Jamie bot sich sogar an, ihr die Kontrolle darüber zu lehren. Auch wenn Suse ungern mit ansah, wie nah sich beide kamen. Bei Besuchen im Kino oder Treffen in der Stadt.
Anita mochte den Jungen.
Beim ersten Schultag nach all dem Geschehenen wechselte Anita sofort den Platz. Andrew war nett aber verdammt, sollten er und seine heimliche Verehrerin sich ruhig selbst Zettelchen zustecken. Sie würde ganz sicher nicht mehr die Vermittlerin spielen.
Was Sofie und Michelle betraf, sowie den Jungen, die heil aus der Sache heraus kamen.
Auch wenn Anita dank einem Mitglied ihrer neuen, großen Familie nicht mehr die deutliche Zeichnung dieser Nacht im Gesicht trug, so erinnerten sich beide Mädchen noch deutlich daran. Kurz nachdem sie wieder in der Schule waren, trat Anita zu ihnen, sowie ein paar der anderen aus der Familie. Die deutlichen Worte, wie fantastisch es doch klang, wenn sie etwas von dem Passierten erzählten, schworen sie in Angst den Mund zu halten.
Mara, Julia und der Junge blieben verschwunden. Anita wollte auch nicht wissen, was mit ihnen passierte. Die Mitglieder der Familie besaßen einige Möglichkeiten der Vertuschung.
Eigentlich gewann nur Anita. Eingehüllt in das feste Band dieser außergewöhnlichen Familie. Tief verbunden in der neu gewonnenen Freundschaft. Erfüllt von einer ungewöhnlichen Gabe und in Liebe zu einem wundervollen Jungen entbrannt.
Noch wenige Tage zuvor konnte sie sich nicht vorstellen, wie ein einziger Geburtstag ihr Leben verändern konnte. Und dieses neue Leben aufgeben, hatte sie auch nicht vor.