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Happi Blues
Prof. Dr. Kathy Mitchin, im Mai 2019
»Da sieht man, wie man sich irren kann.«
S. Exzell. Usso von Herrfritz II.
»U-uuuuuuu!«, heulte Karuso Vonfraumeiermitii, aber die Pudeldame mit dem rosa Retro-Schleifchen stakste achtlos an ihm vorbei. Karuso mahnte sich selbst zur Eile, denn König Usso IX. ließ man nicht warten. Der Chowchow trabte die Seitenstraße hinunter, erlaubte sich einen prüfenden Blick auf den umgekippten und ausgebrannten Recycling-Container an der Ecke – gut, die Werbung für seine Prothesen-Praxis klebte immer noch da: »Unächte Hinterbainchen aus Staal oder Plastick ab zwei Golltzähne, drittes Mazda-Wrak rechts, WAU!«
Er markierte eilig eine Laterne und grüßte am Eingang zum Park flüchtig einen Beagle, dem er vor vier Wochen ein Stück Heckspoiler als Ersatz für sein rechtes Hinterbein verkauft hatte.
Karuso hoffte auf einen einträglichen Auftrag des Königs. Es mangelte ihm derzeit an Kundschaft, denn seit zwei Tagen waren in der ganzen Stadt keine Blindgänger mehr hochgegangen.
Endlich bog Karuso in die Königsallee ein, an deren Ende das frühere Zentralbad lag. Heutzutage kündeten die neu zusammengestellten Leuchtbuchstaben von der großen Bedeutung des Komplexes: balazt. Die Bomben hatten das Gebäude verschont, während in der näheren Umgebung nur noch Grundmauern standen.
Ein Trupp Soldatenhunde bewachte den Eingang zu den Umkleidekabinen. »Wuffhin?«, bellte der Anführer.
Wortlos reichte Karuso ihm seine Einladung und leckte sich über die Nase. Der Wachhabende schien ihn aufgrund seines angeborenen Triebs am liebsten totbeißen zu wollen. Als er feststellte, dass mit der Einladung alles in Ordnung war, grollte er enttäuscht: »Wuffden Gang mit bellblauen Kabinentüren. Wuff Bespringen von königlichen Amüsierdamen blaff räudiges Ersäufen.«
»Dankebell«, entgegnete Karuso und beeilte sich, den Wachtrupp hinter sich zu lassen.
Im Kabinenbereich erwartete ihn ein überwältigendes Spektrum weiblicher Wohlgerüche. Karuso versuchte angestrengt, an unangenehme Flohbisse zu denken. Ja, die Flohkrise ... immerzu zwicken diese Plagemeister in den ... Hintern. Der Chowchow erschrak, weil er sich einem besonders wohlriechenden Damenhintern in einer offenen Kabine näherte. Fast hätte er sein Leben verwirkt. Er jaulte und zwang sich, geradeaus zu laufen. Sein Herz klopfte wild.
Am Durchgang zum Thronsaal musste Karuso erneut seine Einladung vorzeigen. Dann durfte er endlich das ehemalige Nichtschwimmerbecken betreten, an dessen tiefem Ende König Usso IX. auf diversen Kissen saß, die intensiv nach Flohspray rochen. Um den König herum hockten einige stark riechende Amüsierdamen und ein paar kritisch blickende Berater. Ein großes Tuch verdeckte einen länglichen Gegenstand.
»Wau König«, grüßte Karuso und wedelte mit tief gehaltener Rute, »Ihr habt wuff mir geschickt.«
»Karuso von Fraumeiermitii«, begann der König, »wir haben nach dir geschickt, weil uns zu Ohren gekommen ist, dass du der beste deiner Zunft bist.« Er sprach akzentfrei dank reinem Gendesign-Stammbaum, frei von Straßenköter-Beimischungen. Man erzählte sich, er könne sogar die geheimnisvollen Menschenfarben Rot und Grün erkennen.
Karuso wedelte mit der Rute. Er richtete die Ohren auf, als sich etwas unter dem großen Tuch bewegte.
»Ich muss dir nicht erzählen«, fuhr der König fort, »dass wir ein massives Versorgungsproblem haben. Es betrifft hauptsächlich Happi und Flohspray, welches in restaurierten Fabriken hergestellt wird, die nur von Menschen bedient werden können.«
»Sicher seid ihr ... einer Lösung dieses Problems ... nahe«, stotterte Karuso bemüht tierlautfrei und versuchte, etwas anderes zu riechen als die süße Pudeldame, die ihm am nächsten saß.
»In der Tat«, sagte Usso Vonherrfritz IX. »Die totale Vernichtung der Menschheit hat sich als etwas ... ungünstig erwiesen. Glücklicherweise aber konnten inzwischen genug Restexemplare aufgetrieben werden, um daraus eine geringe Anzahl arbeitswilliger Herrchen zu züchten.« Der König winkte einem seiner Berater, der daraufhin das Tuch lüftete. Zum Vorschein kam ein verwirrt blickendes Menschenmännchen. Es setzte sich auf und lallte: »Ar-bei-ten?«
Karuso sah sofort, dass dem Herrchen der linke Arm fehlte.
»Dieses Exemplar«, erklärte der König, »hatte in der Flohspray-Fabrik leider einen fatalen Unfall. Wir hoffen, dass du es wiederherstellen kannst.«
Angestrengt überlegte Karuso, wie er dem König für diesen Auftrag eine möglichst hohe Entlohnung in Rechnung stellen konnte, ohne unverschämt zu wirken oder gleich ersäuft zu werden.
Usso erriet seine Gedanken. »Falls du diese Aufgabe lösen kannst, werde ich dich zum Obersten Königlichen Prothesenmacher ernennen, denn aufgrund der Ungeschicklichkeit der aktuellen Züchtungs-Generation kommt es recht häufig zu Unfällen in den Fabriken.«
Karuso hechelte fröhlich.
»Natürlich sollst du nicht umsonst arbeiten«, ergänzte der König.
»D'accord«, säuselte die süße Pudeldame.
Kreuz und quer übereinander lagen die zerbombten Züge im Hauptbahnhof, verknotet mit abgerissenen Fahrleitungsdrähten. In dem unübersichtlichen Trümmerfeld gab es noch viele unangetastete Schätze. Aber auch dumme Köter, die jeden zerrissen, der bis drei zählen konnte und danach noch nicht weit genug weg war. Genau der richtige Ort, um voll konzentriert nach Objekten zu suchen, die sich als Prothesen für gezüchtete Arbeiterherrchen eigneten.
»Jaqueline Demadamleschatt«, flüsterte Karuso immer wieder vor sich hin und dachte an die wohlriechendste Pudeldame aller Zeiten. Ah, diese feine Note Herbscharf, dieser Hauch alten Wassers im Fell!
»Boss?«
Karuso grollte. Der Trupp, den ihm der König zur Unterstützung mitgegeben hatte, ging ihm gehörig auf die Nerven. »Waff ist?«
»Sicher, dass wau hier wuff finden?«
»Bell ist hier der Fachhund, du oder wuff?«
»Boss.« Fass, der Truppführer, ein dunkler Labrador, hatte offenbar zuviele Köter im Stammbaum. Seine Intelligenz reichte vermutlich gerade aus, um Freund und Feind zu unterscheiden.
»Wuff gehen hier herein«, befahl Karuso und kroch durch das zerbrochene Fenster eines auf der Seite liegenden Wagens ins Innere. Dort roch es scharf nach dummen Kötern. Muffiges Material, herausgerissen auf Sitzpolstern, bedeckte den Boden, dazwischen lagen menschliche Knochen. Kein angenehmer Aufenthaltsort. Karuso beobachtete, wie der Rest des Trupps nach und nach herein kam. Zwei der Hunde markierten die Stelle mit ihrem Urin.
Fass stupste Karuso mit der Schnauze an, leckte sich die Nase. »Boss. Soldaten kämpfen lieber wuff freie Ebene. Hier Hinterhaaaa ...« Plötzlich ohrenbetäubender Lärm.
Von oben stürzte ein Rudel heiser bellender Köter auf die Gruppe herab. Sie stanken nach Dummheit, wüteten wie Tiere. Karuso sprang unter einen zertrümmerten Sessel und überließ dem Soldaten-Trupp den Rest.
»Bellfeuer«, donnerte die Stimme von Fass.
Eine Reihe Köter stürzte, getroffen von Mikroprojektilen mit betäubendem Nervengift. Zwei Soldaten winselten, Köter hatten sich in ihren Kehlen festgebissen. Eine zweite Salve legte auch diese Angreifer schlafen. Fass rief Befehle, zwei Leute des Trupps verschwanden eilig mit den Verletzten.
Karuso kam aus seinem Versteck.
»Wau sind bestimmt wuff mehr«, schnauzte der Truppführer ihn an.
»Wuff sind gleich da«, gab Karuso ungeduldig zurück und setzte den Weg fort. Unangefochten traf er mit seinem nervösen Soldaten-Trupp im Schlepptau an der Stirnwand des Wagens ein. Dort befand sich eine Klappe in der Wand, die der Prothesenbauer mit aller Kraft öffnete.
»Wuff«, entfuhr es Fass.
»Wuff nehmen nur, was wir brauchen«, mahnte Karuso. »Das hier, und das wuff.«
Fass befahl seinen Leuten, die Gegenstände abzutransportieren. Karuso schloss die Klappe. »Wuff jetzt raus hier«, sagte er und erntete zustimmendes Kläffen.
Ein paar von Fass Leuten konnten es sich nicht verkneifen, Menschenknochen als Andenken mitzunehmen.
»Ar ... bei ... ten?« Das Zuchtherrchen befingerte unschlüssig die rote Kombizange, die Karuso an seinem linken Schultergelenk befestigt hatte.
König Usso wedelte mit der Rute. »Bist du sicher, dass wir ihn so wieder in die Fabrik schicken können?«
»Natürlich«, gab Karuso zurück. »Er wird bestimmt schnell lernen, seinen neuen Arm zu benutzen.«
Der Arbeiter klapperte mit seiner Zange und stieß ein fröhliches Gibbeln aus.
Zufrieden gab der König ein Zeichen. »Bringt ihn in seine Fabrik!«
Mehrere Hunde führten den unablässig »Ar ... beit ... Ar .. beit« hechelnden Zuchtmenschen an seinem Halsband hinaus.
»Zeit für ein Festmahl«, erklärte Usso IX. Als hätten sie nur darauf gewartet, kamen Diensthunde mit großen Tabletts hereingelaufen. Sie tischten frisch geöffnete Happi-Dosen, Schleckerli-Vorteilspackungen und sogar Schnappi Spezial auf. Karuso lief massiv der Speichel aus dem Maul.
Er durfte neben der süßen Jaqueline Demadamleschatt Platz nehmen und versuchte konzentriert, seine mageren Französisch-Kenntnisse zusammenzukratzen, während er es sich ausgiebig schmecken ließ. Zwischendurch durfte er sogar einmal an Jaquelines Hintern schnuppern. Er stellte die Ohren auf und freute sich auf ein gemeinsames Gassigehen nach dem Mahl.
»Das königliche Konzept der Arbeitermenschen wird Usso einen Platz in den Geschichtsbüchern einbringen«, erklärte Jaqueline klug.
»Er ist ein würdiger Nachfahre von Usso I., dem Friedensbringer«, seufzte der Königliche Prothesenbauer und warf seinem Herrscher einen respektvollen Blick zu.
»Dessen Weisheit ist unerreicht«, säuselte Jaqueline.
»Manchmal denke ich«, entgegnete Karuso kauend, »Usso I. hätte die Menschen vielleicht doch nicht so gründlich vernichten sollen. Sie sind gelegentlich durchaus nützlich, und sie haben uns immerhin das Denken geschenkt.«
»Damit wir für sie ihre Kriege führen«, erinnerte Jaqueline. »Aber lassen wir die Toten ruhen. Jetzt ist Zeit zum Gassi gehen.«
»Wau«, bellte Karuso und wedelte begeistert mit der Rute.
Jaqueline erhob sich und sah an Karuso vorbei. Der drehte sich irritiert zur Seite. Da lief plötzlich Fass vorbei und bleckte die Zähne.
»Au revoir«, rief die Pudeldame noch, dann waren sie und ihr Männchen auch schon verschwunden.
»U-uuuuuuu!«, heulte Karuso Vonfraumeiermitii. Einen Moment lang blieb sein Blick ausdruckslos. Dann griff er seufzend nach einer weiteren Dose Happi.
Thema des Monats März 2006: Endzeit