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Hans im Glück
Dies ist die Geschichte von Hans Kemper, der sein Leben 33-jährig zu Tode brachte, obwohl er eigentlich immer hätte glücklich sein müssen.
Hans hatte alles. Er erlebte das pure Glück jeden Tag. Stellen Sie sich etwas vor, dass Sie sich schon immer wünschen; Hans hatte es.
Bereits mit 25 hatten sich Hans' Tränenkanäle zurückgebildet, da er sie nicht benutzte. Er kannte Weinen nur aus dem Fernsehen.
Bis 25 konnte Hans sich noch über seinen außergewöhnlichen Status freuen, ja, es gab Momente, da war er glücklich, doch seit geraumer Zeit war Hans unfähig, überhaupt irgendwas zu empfinden. Er war des Glückes überdrüssig geworden. Zusammen mit dem Glück waren auch alle anderen Gefühle verschwunden. Hass hatte er noch nie gekannt, denn um hassen zu können, musste man irgendwann einmal schlecht behandelt worden sein. Neid konnte er nicht empfinden, da es niemanden gab, den er hätte beneiden können. Von der Trauer wusste er nur, wie man sie schreibt. Kurzum: Hans wurde völlig emotionslos.
Diese Erkenntnis kam ihm sehr spät, denn für einen völlig emotionslosen Menschen ist es schier unmöglich festzustellen, dass er nichts empfinden kann. Hans fühlte sich nie gut oder schlecht, er hatte keinen Grund, sein Verhalten oder seine Stimmung zu reflektieren, dies zu tun, wäre nur verschwendete Zeit gewesen. Hans lebte lieber. Erst als er mit Freunden in einer Kneipe war und die Runde zunehmend betrunkener und damit auch lustiger wurde - Hans aber dennoch keine Miene verzog - merkten sein Freunde, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
"Hans, was ist denn los mit dir? Du lachst über keinen einzigen Witz, du bist aber auch nicht schlecht gelaunt. Du sitzt einfach nur da ..."
"Ja", sagte Hans und saß da.
Erst am nächsten Tag, dachte er über das Gespräch in der Kneipe nach. Man könnte leicht meinen, diese Einsicht hätte Hans wie ein Schlag getroffen, doch weit gefehlt. Er nahm sie zur Kenntnis.
Dennoch setzte er alles daran, Gefühle zu empfinden. Er wollte wieder glücklich sein. Er hatte doch allen Grund dazu. Hans wollte Freude empfinden; ach was, eigentlich wollte er nur überhaupt irgendwas empfinden.
Anfangs spielte er vor, glücklich oder traurig zu sein, er befeuchtete manchmal seine Augen oder zog seine Mundwinkel nach oben, als würde er lachen. Er war ziemlich gut darin und ihm gelang es, alle zu täuschen; nur nicht sich selbst.
Deshalb ging er einen Schritt weiter. Er legte seine Hand auf die glühende Herdplatte. Sie schmorte und er hatte höllische Schmerzen, jedoch nur körperliche. Danach wieder dieselbe Leere. Er bemitleidete sich nicht, er war nicht wütend, und dabei hatte er es sich so sehr gewünscht. Hans schlief mit sämtlichen Nutten der Stadt - keine Reue. Er schlief mit der Schwester seiner Frau - kein Ekel. Er aß seinen Hund. Kein Glück und erst recht kein Genuss.
Wenn all seine Bemühungen scheitern würden, müsste er wenigstens verzweifeln, vielleicht könne er sogar weinen. So dachte er zumindest.
Er verschenkte sein ganzes Geld, verbrannte die Häuser und grub seine Golfplätze um. Nichts. Er fühlte absolut nichts. Hans begann, Drogen zu nehmen, erst leichte, schließlich Heroin. Nichts. Hans hätte schreien können, doch er hatte keinen Grund. Er hätte sich umbringen mögen, doch er wusste nicht warum.
Hans hatte schon alles versucht, doch auch verzweifeln konnte er nicht. Seine Frau und die Kinder waren schon lange abgehauen, er besaß nichts mehr und war dennoch nicht traurig. Er infizierte sich mit allen unheilbaren Krankheiten, die er kannte. Jetzt wusste er sicher, dass er bald sterben würde, doch auch das war ihm egal. So begab es sich, dass Hans Kemper sein Leben 33-jährig zu Tode brachte, obwohl er eigentlich immer hätte glücklich sein müssen.