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Hans feiert Geburtstag
Hans lehnte mit verschränkten Armen in einer Ecke seines Wohnzimmers, in unmittelbarer Nachbarschaft einer Zimmerpalme.
Mit melancholischem Blick betrachtete er die etwa zwanzig Personen, die sich auf der Sitzgruppe zusammendrängten, um den Sofatisch versammelt hatten oder irgendwo herumstanden.
Einzelne Stimmen vereinigten sich zu kakophonischem Gemurmel, das gelegentlich von einsamem Auflachen, kollektivem Gewieher oder Gläserklirren begleitet wurde.
In dem Gang, der zu Bad und Schlafzimmer führte, standen die Leute, die im Wohnzimmer keinen Platz gefunden hatten, was ihre Stimmung aber nicht schmälerte.
Durch eine rechteckige Öffnung in der Wand konnte Hans, soweit es ihm seine Gäste ermöglichten, direkt in die Küche sehen, in der ein hagerer Jugendlicher und ein beleibter Alter mit rotem Gesicht seinen Kühlschrank plünderten, während ein Mann mit Hornbrille und Holzfällerhemd in den Hängeschränken nach Gläsern suchte.
Gelegentlich klopfte jemand Hans auf den Oberarm oder gab ihm die Hand und sagte: „Gratuliere!“ oder, „Herzlichen Glückwunsch!“, oder Ähnliches.
Hans nickte daraufhin immer und zwang sich zu einem halbherzigen Lächeln, woraufhin sich der Gratulant wieder zu den anderen gesellte.
Mit einigen seiner Gäste war er mehr oder weniger gut befreundet, die meisten anderen waren Arbeitskollegen, manche Nachbarn.
Er konnte sich gar nicht daran erinnern, jemanden eingeladen zu haben, eine Geburtstagsfeier veranstalten zu wollen.
Eigentlich hatte er den Abend allein verbringen wollen, aber irgendwie schien sich die Wohnung von selbst gefüllt, Essen und Getränke selbst mitgebracht zu haben.
Sechzig wurde er in diesen Stunden, ein Alter, das er seit Jahren gefürchtet hatte.
Als er am Morgen vor dem Spiegel gestanden hatte, hatte er einen jugendlich gealterten Fünfziger, mit dichtem, kräftigem Haar, glattem Gesicht und sehnigem Körper gesehen.
„Alles in Ordnung, Hans?“ Jemand hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt.
Hans brauchte einen Moment bis er in seinem Gegenüber seinen Freund Kurt erkannte, dann nickte er.
„Mach’ dir nicht so viele Gedanken. Jeder von uns wird mal pensioniert“, versuchte ihn dieser aufzumuntern.
„Ja, ich weiß, aber ich bin noch nicht so weit. Ich kann noch arbeiten“, erwiderte er traurig, dann packte er plötzlich Kurts Hand und drückte sie kräftig.
„Lass’ das.“ Kurt schüttelte die Hand seines Freundes ab und massierte daraufhin seine schmerzende.
„Entschuldige“, murmelte Hans mit gesenktem Blick.
Kurt tätschelte ihm mit seiner gesunden Hand tröstend die Schulter.
„Schon in Ordnung.“
Plötzlich: „Happy Birthday to you, happy birthday to you, ...”
Seine Gäste grölten das Lied zu Ende, erhoben dann johlend ihre Gläser, gratulierten ihm in einem unkoordinierten Kanon und wandten sich dann wieder von ihm ab und einander zu.
Einige Stunden später kroch der letzte unerwünschte Besucher aus Hans’ Wohnung.
„Alles Gute, Ernst“, brabbelte er.
In der Mitte des Gangs übergab er sich, dann schlief er in seinem Erbrochenen ein.
Hans versperrte die Tür und begann die Wohnung aufzuräumen, gab es aber bald wieder auf.
Ein Bilderrahmen lag mit gebrochenem Glas am Boden.
Als Hans ihn aufhob, blickte er in das fröhlich lachende Gesicht seiner Frau Anna. Ihre grünen, durchscheinenden Augen blitzten voller Lebensfreude, das silbergraue Haar glänzte im Mondschein.
Er erinnerte sich.
Er hatte das Photo bei ihrem letzten gemeinsamen Urlaub in einer südfranzösischen Provinz gemacht.
Die Nacht war schwarz gewesen, nur der Mond hatte trüb am wolkenfreien Himmel geleuchtet.
Eine Träne platschte auf das Bild und verlor sich zwischen dem gesprungenen Glas.
Anna war vier Jahre älter gewesen als Hans.
Er befreite das Bild aus dem Rahmen, schlich damit ins Schlafzimmer, zog die Schuhe aus und legte sich angezogen ins Bett, wo er das Photo streichelte bis er einschlief.
Am nächsten Morgen weckte ihn das konsequente Läuten der Türglocke.
Hans stand auf, die Kleidung in Falten, das Haar wirr, die Augen verquollen, das Bild seiner lachenden Frau voll trockener Tränen und feuchten Speichels.
Schlaftrunken taumelte er zur Eingangstür, wobei er sich gelegentlich an der Wand abstützen musste, um nicht zu stürzen.
Als er die Tür öffnete, sah er einen jungen Mann mit gepflegtem Haarschnitt, optimistischer Vertretermiene und Anzug von der Stange.
„Guten Morgen, Herr Semmlitsch!“, rief er begeistert aus.
„Morg’n“, brummte Hans.
„Hab’ ich Sie geweckt? Entschuldigen Sie, das wollte ich nicht. Darf ich eintreten?“
Schon drängte er sich an Hans vorbei.
„Oh, . . . entschuldigen Sie . . . Ich bin Thomas Eichmann von der staatlichen Pensionierungsanstalt.“
Er ergriff Hans’ Hand und schüttelte sie hastig.
„Können wir uns irgendwo hinsetzen?“
Eichmann schien es eilig zu haben. Sein Blick war unruhig, wanderte durch die Wohnung.
Hans schlurfte kommentarlos mit gesenktem Kopf und rundem Rücken Richtung Wohnzimmer. Der sPA-Mann folgte ihm und überholte ihn schließlich.
Eichmann nahm ungefragt auf einem der Sessel Platz, Hans setzte sich auf das Sofa.
Die Augen des jungen Mannes musterten hastig das Wohnzimmer, sahen die leeren Gläser und Flaschen, die schmutzigen Teller, einen undefinierbaren Fleck am Teppich.
Er lächelte.
„Sie haben wohl ordentlich gefeiert gestern?“
Hans zuckte mit den Schultern.
Plötzlich stellte Eichmann eine kleinformatige Aktentasche auf den Tisch. Hans war sie bis jetzt nicht aufgefallen.
„Ich habe mir Ihre Unterlagen angesehen. Sie haben immer gearbeitet, sehr anständig.“ Er nickte respektvoll.
„Was wollen Sie?“, fuhr Hans ihn an.
„Das wissen Sie doch, Herr Semmlitsch. Sie sind sechzig, Sie werden pensioniert.“
„Nein.“
Eichmann war überrascht.
„Nein?“
„Nein. Sehen Sie mich an. Sehe ich aus wie ein nutzloser, alter Mann?“
Der sPA-Mann zögerte.
„Nein . . . nein, eigentlich nicht, aber . . .“
Plötzlich packte Hans seine Hand wie am Abend davor die seines Freundes Kurt.
Eichmann schrie auf.
„Was soll das! Lassen Sie meine Hand los!“
Hans verstärkte seinen Griff bis der junge Mann vom Sessel rutschte und mit schmerzverzerrter Miene seine Hand zu befreien versuchte.
Dann ließ der alte Mann los.
Eichmann murmelte einige Verwünschungen, während er seine taube Hand massierte.
„Sehen Sie.“ Hans lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück.
Der sPA-Mann setzte sich wieder auf den Sessel.
„Das ändert nichts an Ihrer Pensionierung“, sagte er, besorgt auf seine Hand starrend.
„Sie können froh sein. Die übernächste Generation wird schon mit fünfundfünfzig in die Rente geschickt.“
Letztes Jahr hatte die Union die neue Pensionsreform beschlossen. Hans erinnerte sich.
Eichmann begann umständlich mit einer Hand die Aktentasche zu öffnen.
„Es ist nichts Persönliches, aber nur so kann der Sozialstaat erhalten bleiben. Die Jungen brauchen Arbeit. Und es gibt nicht genug für junge und alte.“
„Das ist doch nur die Meinung von irgendwelchen Politikern! Außerdem sehen Sie sich den Unionspräsidenten an! Der ist hunderteinundzwanzig!“
„Ja, er ist noch unglaublich vital, nicht?“ Eichmann blickt ihn mit beeindrucktem Gesicht an.
Hans wollte zu einer Erwiderung ansetzen, wurde aber unterbrochen.
„Regen Sie sich nicht unnötig auf“, sagte Eichmann gleichgültig.
Der Alte sprang von der Bank auf.
„Und wie ich mich aufrege! Custillo ist doppelt so alt wie ich!“
„Ja, das stimmt.“
Als Hans ansetzte, fuhr ihm der sPA-Mann erneut dazwischen.
„Setzen Sie sich. Sie haben Ihr ganzes Leben Zeit gehabt, etwas aus sich zu machen und haben die Chance nicht genützt. Sie sind selbst schuld.“
Eichmann zog eine Einliterflasche Wasser aus dem Aktenkoffer.
„Endlich.“
Er stellte die Flasche zwischen die schmutzigen Gläser, dann holte er ein sauberes aus seinem Koffer.
„Das ist Wasser aus den staatlichen Quellen. So ein sauberes, klares Wasser bekommen Sie im Handel nicht“, erklärte er, während er das Glas füllte.
„Hier.“ Er schob es Hans hin, dann holte er eine kleine Blechdose aus einem Seitenfach des Koffers und nahm eine weiße Tablette heraus.
„Spülen Sie das mit dem Wasser runter.“
„Nein.“
Eichmann atmete genervt aus.
„Warum denn nicht? Was haben Sie denn noch vom Leben? Hatten Sie gestern auf Ihrer Feier das Gefühl, dass irgendjemand Sie noch braucht? Ihre Frau ist auch schon tot. Wollen Sie allein in ihrer Wohnung verrotten?“
„Warum nicht?“, erwiderte Hans trotzig.
Der Junge schwieg.
„Was machen Sie, wenn ich die Tablette nicht schlucke?“
Die Eingangstür würde aufgerissen. Schwere Schritte näherten sich den beiden Männern.
„Wie lang dauert das noch. Wir haben nicht ewig Zeit.“
Zwei stämmige Männer in schmutziger, orangefarbener Kleidung standen breitbeinig im Wohnzimmer.
„Er will die Tablette nicht schlucken.“
„So einer bist du“, sagte einer der Männer in verächtlichem Tonfall zu Hans, der sie fragend anstarrte.
„Schluck’ die Tablette.“
„Nein.“
Der größere der beiden Männer machte zwei Schritte auf Eichmann zu.
„Gib’ her.“
Er entriss ihm die Blechdose, entnahm ihr eine Tablette und gab ihm das Behältnis zurück.
Dann gab er dem anderen Mann in Orange ein Zeichen woraufhin dieser auf Hans zuging und ihn packte.
Er selbst drückte ihm die Nase zu bis er nach Luft schnappen musste. Daraufhin drückte er ihm die Tablette so tief in den Rachen, dass ein automatischer Schluckreflex einsetzte, dann schüttete er das Wasser nach.
„So.“
Die beiden Männer ließen von Hans ab und beobachteten ihn.
Es dauerte eine Minute, dann begannen seine Muskeln unkontrolliert zu kontrahieren.
Hans’ Herzschlag und Atmung beschleunigten sich.
Die Muskeln kontrahierten immer schneller und kräftiger, das Herz hämmerte gegen die Rippen, die Atmung wurde hastig.
Erst platzten nur kleinere Äderchen, schließlich folgten einzelne große Hirn- und Körpervenen.
Als Hans’ Blick trüb und sein Schritt nass wurden, eilte einer der stämmigen Männer hinaus und kam mit einem Mistkübel zurück.
Gemeinsam ließen sie den trägen Leichnam hineingleiten, dann verließen alle drei die Wohnung.
Auf der Straße stand ein großer Müllwagen auf dessen liftähnlichem Aufsatz die Männer in Orange den Kübel stellten.
Der Größere drückte auf einen roten Knopf und die hydraulischen Arme hoben den Behälter in die Höhe.
Als Hans Semmlitsch dumpf im Inneren aufschlug, drückte der Müllmann einen gelben Knopf, der die Arme wieder hinabgleiten ließ.
Während der andere den Mistkübel zur Wohnung zurückbrachte, drückte er auf einen grünen Kopf.
Im Inneren des Aufsatzes begann es zu arbeiten.
„Das hat ganz schön lange gedauert“, sagte der Fahrer zu Eichmann.
„Ja. Das war wieder so ein Egoist.“
Der Fahrer startete den Wagen, nachdem er im Außenspiegel ein Signal wahrgenommen hatte.
„Wohin?“
„Gleich um die Ecke. Nummer 62.“