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Hannes
Schon wieder abgestürzt. Irgendetwas mit dieser Festplatte stimmt nicht. Hannes bearbeitet den PC mit seinen Fäusten, fährt sich ungeduldig mit den Händen durch sein mittlerweile nur noch spärlich wachsendes Haar. Gerade jetzt hat er mit einer so netten Dame gechattet. Hoffentlich wird sie ihm noch einmal schreiben. Ingrid heißt sie. Ist 32 Jahre alt, genau wie er, blondes Haar. Gerne hätte er sich noch weiter mit ihr geschrieben, aber das Schicksal scheint ihm jedes Mal einen Strich durch die Rechnung zu machen. Seine Mutter ruft ihn. „Hannes, der Tisch ist gedeckt!“ „Jaja, komm gleich. Muss nur kurz was an meinem Computer machen.“ „Dass du nicht nur auf deiner Arbeit die ganze Zeit vor diesem Ding rumhängst, sondern auch in deiner Freizeit. Geh doch mal unter Leute! Mach etwas aus deinem Leben.“ Hannes antwortet nicht. Er hat das schon tausendmal gehört. Viel zu oft. Er hat es auch schon mehr als einmal versucht, doch mittlerweile ist er zu dem Schluss gekommen, dass er da draußen unter den Menschen fehl am Platz ist. Nicht mithalten kann. Am Computer ist alles viel einfacher, er gibt ihm Befehle und er tut was er von ihm verlangt. Das Chatten hat seiner Meinung nach den Vorteil, dass man mit anderen Personen reden kann, ohne ihnen direkt ins Gesicht sehen zu müssen, ohne gesehen zu werden. Denn das, was man sehen würde, wäre ein schwammiger, aufgedunsener Körper mit einem ausdruckslosen Gesicht und einer viel zu großen Brille auf der Nase. Er hat den Fehler gefunden und sein Computer läuft wieder. Er lehnt sich in seinem Bürosessel zurück und putzt seine Brille. Solche Dinge geben ihm immer das Gefühl, doch nicht so ein Versager zu sein wie andere von ihm denken, was er auch oft von sich selbst denkt. „Komm jetzt, Hannes. Der Tee wird kalt!“ Die Stimme seiner Mutter reißt ihn aus seinen Gedanken. Er erhebt sich schwerfällig und geht hinunter zum Esszimmer. Er liebt dieses Haus, sein Elternhaus. Alles ist immer ordentlich und sauber. Es ist zwar nur ein kleines Reihenhaus, aber alles steckt voller Erinnerungen. An seine Kindheit, seine Jugend. Die Räume sind mit altdeutschen Möbeln aus Eiche eingerichtet, genauso liebt Hannes es. Der Duft von Früchtetee steigt ihm in die Nase, als er das Esszimmer betritt. Der Tisch ist liebevoll gedeckt. Hannes seufzt auf vor Wohlgefühl. So eine Frau wie seine Mutter, das wäre schön. „Komm, setz dich. Reich mir doch bitte mal die Sahne. Wie war’s denn auf der Arbeit? Du hast dich heute noch gar nicht blicken lassen.“ Hannes nimmt sich ein großes, noch warmes Stück Apfelstrudel, das herrlich nach Zimt duftet. „Ach, nichts los heute. Es ist überhaupt nie etwas los da.“ „Möchtest du noch ein Stück Kuchen?“ Erst jetzt bemerkt Hannes, dass er schon ein ganzes Stück gegessen hat. Er weiß, dass er viel zu viel isst und etwas Sport ihm nicht schaden könnte. Aber er liebt Mutters Hausmannskost und für Sport hat er sich noch nie interessiert. Er erinnert sich genau an den Sportunterricht an der Schule. Beim Mannschaftssport wurde er immer als letzter gewählt. Nein, Sport ist wirklich nichts für ihn. Seine Mutter hat ihm schon ein großes, saftiges Stück Kuchen auf den Teller geladen und Hannes läuft das Wasser im Munde zusammen. Eine Diät kann ja noch warten. Er schlingt es in großen Stücken hinunter, zwängt sich aus seinem Stuhl und hilft seiner Mutter beim abräumen. Sie ist auch nicht mehr die Jüngste. Geht auf die 60 zu, hat vor einigen Wochen begonnen, sich ihr dünnes Haar braun zu färben. Unter ihrem Kittel zeichnen sich einige Speckrollen ab. „Komm Hannes, laß schon. Ich mach hier alles sauber. Du bist mir keine große Hilfe. Geh doch lieber ein Stückchen spazieren, du siehst nicht gut aus.“ Hannes nimmt keine Kenntnis von ihren Worten, räumt die Spülmaschine ein und geht die schmale, dunkle Treppe zu seinem Zimmer hoch. Schon nach der ersten Stufe beginnt er zu schnaufen und hält sich an dem wackeligen Geländer fest. Oben angekommen läßt er sich in seinen bequemen Bürosessel fallen, zündet sich eine Zigarette an und schaltet den Computer wieder ein. Die sympathische Frau aus der Partnerbörse hat ihm wieder geschrieben. „Hey, wo bist du? Warte auf eine Antwort. Würde gerne wissen, wie du aussiehst und wäre einem Treffen nicht abgeneigt. Hannes wird ganz warm vor Freude, die Dame interessiert sich für ihn. Sie will ihn treffen. Er ist ganz aufgeregt. Doch die Freude währt nicht lange, als ihm bewußt wird, daß er mit seinem Aussehen nicht gerade prahlen kann. 150 Kilo sind nicht jedermanns Geschmack. Fieberhaft überlegt er, wie er sich beschreiben soll. Schließlich antwortet er ihr kurz und knapp. „Ich bin circa 1,75 m gross, etwas stattlicher, braune kurze Harre und Brille. Würde dich auch gerne näher kennenlernen.“ Es ist ja auch nicht wirklich gelogen, denkt er und schickt die Mail ab. Er zieht genüßlich an seiner Zigarette, stellt sich vor wie sie sich treffen. Vielleicht mag sie ja auch dickere Männer. Aber wahrscheinlich eher nicht. Soll er sich wirklich auf ein Blind-Date einlassen? Es wäre mit Sicherheit nur eine weitere Erniedrigung für ihn. Nervös wartet er auf eine Antwort von Ingrid. „Klingt doch nicht schlecht. Wann und wo wollen wir uns sehen?“ Hannes kann es kaum fassen. Seit Jahren interessiert sich mal wieder eine Frau für ihn. Gleichzeitig schämt er sich. Dennoch macht er ein Treffen mit ihr aus, bestellt sie zum „Kreuzkrug“, die ehemalige Stammkneipe seines Vaters, der schon seit einigen Jahren tot ist. Als Erkennungszeichen machen sie, ganz klassisch, eine Rose aus. Morgen soll es schon sein. Zufrieden und beschämt zugleich beendet Hannes ihre Unterhaltung, schaltet den PC aus. Der Tee hat seine Wirkung getan, und er begibt sich in das Bad um seine Blase zu entleeren. Ihm gefallen die mit Blumen verzierten Fliesen. Während er sich die Hände wäscht betrachtet er sich im Spiegel, studiert sein Gesicht. Es wirkt aufgedunsen, seine Augen klein durch die dicken Brillengläser. Tiefe Ränder zeichnen sich unter den Augen ab. Er ist unzufrieden mit dem, was er sieht. Soll er sich wirklich auf dieses Treffen einlassen? Er trocknet seine Hände ab und kommt zu dem Schluss, dass innere Werte schließlich auch zählen. Ja, er wird hingehen. Sein Magen krampft sich bei diesem Gedanken zusammen. Morgen schon. Er eilt in sein kleines Zimmer. Er muß etwas vorteilhaftes anziehen. Schließlich entscheidet er sich für einen braunen Cordanzug, den seine Mutter ihm vor vielen Jahren geschenkt hat. Er scheint wohl etwas aus der Mode zu sein und spannt leicht am Bauch, aber Hannes findet ihn am Besten. Morgen ist Samstag, für 15 Uhr haben sie sich verabredet.
Nach dem Abendbrot schaut er sich mit seiner Mutter noch die „Glücksspirale“ an, wie jeden Freitagabend. Von seiner Verabredung hat er nichts erzählt. Hannes kann sich kaum auf die Show konzentrieren. Immer wieder schweifen seine Gedanken ab, zu dem Treffen mit Ingrid. Noch bevor die Sendung zu Ende ist, entschließt er sich schlafen zu gehen. Er gibt seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und wünscht ihr eine gute Nacht. Sie schaut ihm besorgt hinterher und schaltet um. Sie hat sich schon den ganzen Tag auf den Rosamunde- Pilcher- Film gefreut. Hannes liegt in seinem Bett, er liebt dieses Bett. Die Matratze hat eine tiefe Mulde, da wo sein Körper immer liegt. Schlafen kann er aber trotzdem nicht. Wirre Gedanken und Bilder vom morgigen Tag schwirren in seinem Kopf herum. Er nimmt eine Schlaftablette, dreht sich auf die Seite und denkt immer wieder an Ingrid. Schließlich schläft er ein. Er hat einen traumlosen, tiefen Schlaf und schnarcht ganz leise.
Der Wecker reißt ihn aus dem Schlaf. Er weiß, Mutter hat schon gefrühstückt und das beruhigt ihn. Mutters besorgten Blick kann er heute nicht ertragen. Er zündet sich eine Zigarette an und raucht sie genüßlich in seinem Bett. Seine Hände zittern leicht. Wir wird es heute wohl verlaufen? Schwerfällig steht er auf. Er duscht ausgiebig. Er will gut riechen, er weiß, daß er schnell nach Schweiß riecht. Er meidet den Blick in den Spiegel, bis er angezogen ist. Auch wenn der Anzug nicht perfekt sitzt, er ist ganz zufrieden mit sich. Ohne noch einen weiteren Blick in den Spiegel zu werfen, geht er ins Esszimmer. Das Frühstück steht bereit, er versucht so wenig wie möglich zu essen, das gibt ihm ein besseres Gefühl. Unruhig beginnt er im ganzen Haus herum zu irren, die Zeit scheint nicht zu vergehen. Irgendwann ist es dann doch so weit, seine Hände beginnen zu schwitzen, zittrig fischt er seine Autoschlüssel aus der Jackentasche und macht sich auf den Weg zum „ Kreuzkrug“. Er sieht das Lokal schon von weitem, es hat sich nichts verändert hier, und das ist auch gut so. Es ist noch nicht spät, Hannes hat genug Zeit, ein Bier an der Theke zu trinken. Das wird ihn schon lockerer machen. Nervös nippt er an den Weizenglas, zündet sich aus Versehen zwei Zigaretten gleichzeitig an. Langsam spürt er die beruhigende Wirkung des Getränks, kommt etwas zur Ruhe. Da hört er, wie eine Tür hinter ihm zuschlägt. Ein kalter Lufthauch streift seinen Nacken. Langsam dreht er sich um, den Blick auf den Boden gesenkt. Er wagt es nicht aufzuschauen, der Boden scheint unter seinen Füßen zu schwanken. Die Rose steckt noch unauffällig in seiner Jackentasche. Unsicher schaut er nach oben. Da sitzt eine Frau mit einem recht hübschen Gesicht, die Rose in der Hand, in einem Rollstuhl. Hannes schluckt, er schwitzt, seine Rose noch unberührt in der Jackentasche. Er hat sein Bier ausgetrunken und bezahlt. Die Frau schaut suchend um sich, einen kurzen Augenblick treffen sich ihre Blicke. Hannes sieht schnell weg, starrt angestrengt auf die blinkenden Lichter des Spielautomaten in der Ecke. Er steht auf, muß sich mit einer Hand an den Tresen festhalten während die andere nach der Rose in seiner Tasche tastet. Langsam verläßt er das Lokal, den Blick gerade auf die Tür gerichtet. Ein letztes Mal dreht er sich um, sieht den traurigen Ausdruck in ihrem Gesicht. Eine Frau im Rollstuhl, das wäre nichts für ihn. Er schließt die Tür hinter sich. Auf dem Weg nach Hause wirft er die Rose weg.
Ende