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Hannah
Dröhnend vibrierte der Bass durch meine Ohrmuscheln und schickte Wellen der Erregung und Freude durch mich. Die Wörter, die die Sängerin sang, schmiegten sich an meine Gehörgänge wie das Wasser an die Haut. Langsam schob ich meinen Daumen auf das Touchpad meines mp3-Players und erhöhte die Lautstärke auf das Maximale. Jetzt machten sich die Wellen in meinem ganzen Körper breit. Wie auf ihnen getragen fühlte ich mich von meinem Sitz gelöst und in der Luft weiterfühlend.
Währenddessen malte ich mir aus, dass ich die Sängerin des Liedes wäre und singend durch die Kulissen des Videodrehortes huschte. Neben mir tanzten einige gutaussehende und mindestens genauso gut gekleidete Mädchen und hinter mir stiegen Flammen in die Luft auf. In der Mitte war ich. Geschminkt, modisch gekleidet und mit laszivem Blick trug ich mein Lied vor.
Ich war von mir überzeugt, das konnte man eindeutig erkennen. Nicht nur wegen der guten Stimme, die ich ohne Zweifel besaß, sondern auch wegen meines guten Aussehens. Kein Gramm Fett an den Rippen, ein ebenmäßiges Gesicht mit frischem Teint und Haare wie Rapunzel.
Vor allen Fernsehern, so stellte ich es mir vor, jubelten Teenies in meinem Alter dieser wunderbaren, nahezu perfekten Person zu.
Mir.
Mir ?!
Ich öffnete die Augen und mit einem Schlag saß ich wieder im viel zu kalten Schulbus. In dem Schulbus, mit dem ich seit sechs Jahren tagein tagaus fuhr. Die Heizung war im ersten Winter ausgefallen und wurde seither nicht mehr repariert. Beschwert habe ich mich darüber schon unzählige Male, doch ich wurde immer als das kleine, vorlaute Kind abgestempelt. Nach dem vierten Winter begann ich dann, mich damit abzufinden und nahm eine Krankheit mehr pro Jahr sogar einigermaßen freudig in Kauf. Natürlich nur, um die Schule nicht besuchen zu müssen, versteht sich.
Vor mir stand Nico, der mich fordernd anblickte. Er dürfte schon vorher etwas zu mir gesagt haben, jedenfalls sah sein Gesichtsausdruck danach aus. Ich zog mir sofort die Kopfhörer aus den Ohren und seine klare Stimme war das Erste, was ich von der realen Welt wieder zu hören bekam. „Darf ich mich neben dich setzen?". Ich sah ihm in die Augen. Sie waren blauer als blau. Solch eine Leuchtkraft hatte ich zuvor noch nie gesehen. Die Augen waren immer das Erste, auf das ich bei einem Menschen achtete. Doch auch wenn ich das nicht tun würde, bei Nicos Augen konnte man nicht anders als sie einfach zu beachten. „Na klar. Setz dich." Schnell packte ich meinen Schulrucksack und stellte ihn am Boden zwischen meinen Beinen ab. Nico bedankte sich und ließ sich mit vollem Gewicht auf den freien Sitz nieder. Er atmete schwer aus und sackte dabei in sich zusammen. Dann nahm er seine Mütze vom Kopf. Lässig durchwuschelte er sein brünettes, etwas längeres Haar mit der rechten, und legte die Mütze mit der linken Hand auf seinen Schoß. Er bemerkte, dass ich ihn beobachtet hatte und sah mir erneut in die Augen. Dann lächelte er mich an. Und ich lächelte zurück. Wie lange wir so dasaßen, konnte ich in diesem Moment nicht mehr sagen. Die Zeit schien stillzustehen. In so einem Moment, wurde mir wieder einmal bewusst, wie hübsch Nico nicht war und verstand, warum sich auch Hannah gerade in diesen Kerl verliebt hatte.
HANNAH.
Die Gedanken begannen, in meinem Gehirn herumzusausen und das Bild vor meinen Augen wurde allmählich schummriger. Im letzten Moment konnte ich mich von Nicos Blick losreißen und starrte auf meine Schultasche, die ich hektisch öffnete und schnell das erstbeste Heft herauszog. Mit einem Blick erfasste ich, welches Heft ich erwischt hatte.
So ein Mist. Es war Chemie. Nico wusste, dass ich die Einzige in meiner und folgedessen auch seiner Klasse war, die sich mit den Horrorformeln, wie sie bei uns in der Klasse gerne genannt wurden, einigermaßen zurechtfand. Doch es war schon zu spät. „Ähm, ich muss lernen", hatte ich bereits gestottert. Ich fühlte, wie das Blut in meinen Kopf lief und rettete, was noch zu retten war, indem ich mein Heft aufschlug und es genau vor mein Gesicht hielt. „Sarah, was ist plötzlich mit dir los?", fragte Nico überrascht und zog mir das Heft aus den Händen. „Nichts. Es ist nichts. Es ist nur..", setzte ich an, während ich ihm mein Schulheft aus den Händen schnappte und es wieder in meinen Rucksack packte. Ich atmete tief durch, versuchte mich aufrecht hinzusetzen und an etwas Schönes und vor allem Anderes zu denken. „Ist es vielleicht wegen ... wegen Hannah?" Der Name fühlte sich so fremd an. Ihr Name. Mein ganzer Körper begann zu zittern, als ich ihn zu hören bekam. „Nein. Nein! Ich kann ihr Gesicht einfach nicht vergessen, weißt du?!", platzte es plötzlich aus mir heraus. „Raus! Ich will hier raus!" Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Die Leute, die Stimmung, all das weckte viel zu viele Erinnerungen in mir. Ich hielt es auf meinem Sitzplatz nicht mehr aus. Nico versuchte zwar, mich an den Schultern wieder auf meinen Sitz zu drücken, doch ich kämpfte strikt dagegen an. „Sarah, so beruhige dich doch!", meinte Nico forsch, als ich mich aus der Sitzreihe auf den Gang des Busses gedrängt hatte. „Und bitte setz dich!" Beschämt ließ er seine Blicke durch den ganzen Bus wandern. Alle Insassen glotzten mich an. Ihre Blicke durchlöcherten mich. Eine hatten sich sogar von ihren Plätzen erhoben. Abwesend starrte ich in ihre Gesichter. „Raaaus! Ich will aussteigen!", schrie ich während ich mich ihren abwandte und wie der Wind an den Sitzreihen vorbeizog. Ich klopfte dem Busfahrer wild auf die Schulter und starrte ihn von oben mit verheultem, von Make-Up verschmiertem Blick an. „Darf ich bitte .. raus?!" Meine Frage erstickte in einem erneuten Tränenfluss. Grimmig strich der Chauffeur über seine Schulter, auf der eine meiner Tränen gelandet war. „Ausnahmsweise", presste er aus seinen schmalen Lippen heraus, während er am Hebel zog. Mit einem leisen Quietschen bremste der Bus und einen Moment später öffnete sich die Tür. Mit drei langsamen Schritten trottete ich die Stiegen hinab und mit dem vierten stieg ich endgültig aus dem Bus. Weinend starrte ich auf den Bus, der sich ohne weitere Verzögerung weiter Richtung Schule machte.
Im Bus drängte sich Nico durch die Massen von kreischenden Schülern, die von meinem Auftritt fasziniert waren. Manchmal blickte er hektisch aus den Fenstern um sich immer wieder erneut zu vergewissern, dass seine Schulkollegin Sarah Wilson immer noch am Straßenrand kniete und bitterlich heulte. Auch er klopfte dem Buschauffeur auf die Schulter und verlangte, für ihn die Türen noch ein zweites Mal zu öffnen. „Warum steigt ihr denn überhaupt noch ein, hä?", war der einzige Kommentar, den der Fahrer dazu abgab. Als er von Nico keine Antwort bekam, stieg er angewidert auf die Bremse und zog wirklich noch ein zweites Mal am Hebel. Im Hinausspringen bedankte sich Nico beim Fahrer, doch seine Worte wurden durch das Schließen der Türe unterdrückt.
Ein paar Sekunden später hörte ich die Schritte von Nico immer näher kommen. „Geh weg. Bitte", flüsterte ich in meine Handflächen, die ich über mein Gesicht gelegt hatte. Es sollte mich keiner so verunstaltet sehen.
Doch seine Schritte wurden immer lauter. Er nahm neben mir auf der Straße Platz und legte seinen Arm um meinen zusammengekauerten Körper. Ich war überrascht, das ein Junge wie Nico zu so einem netten Zug in der Lage war.
Nico war eher mehr der coole Typ. Sich nichts anmerken lassen und so. Immer lächeln, immer strahlen und um Gottes Willen niemals Gefühle zeigen oder vielleicht sogar heulen. Das wäre doch ein absolutes No-Go im Leben eines Nicolas Barnes. Dass er aber trotzdem gefühlvoll war, wusste ich schon immer. Dass er es aber auch so zeigen konnte, war mir vollkommen neu.
„Erzähl mir", startete Nico, „ was an diesem Morgen wirklich geschah." „Ach, was muss ich denn schon erzählen, weiß doch schon jeder, was damals war." Während ich das sagte, zeigte ich mich wieder der Außenwelt. Verträumt und vor allem verheult wandte ich mich Nico zu. Ich wartete auf eine Antwort, doch ich bekam keine. Nico sah mich nur an. Ganz ruhig und gelassen schien er mein Gesicht zu studieren und dabei auf meine Geschichte zu warten. Was blieb mir also anderes übrig? Meine, also die wahre Geschichte, kannte sowieso keiner, denn was in den Zeitungen stand, waren sowieso alles nur Lügen. Lügen die die Realität einfach auslöschten. Also begann ich wirklich zu erzählen.
Ich sitze neben meiner besten Freundin Hannah, die mich mit großen Augen und fordernder Miene anstarrt. Jetzt sagt sie etwas zu mir. Was sie sagt, kann ich nicht verstehen, da ich wie immer meine Kopfhörer im Ohr stecken habe. „Was?!", frage ich sie. Mit einem Seufzer greift Hannah nach dem Kabel der Kopfhörer und zieht mit einem festen Ruck daran. Die Melodie verschwindet und die Stimmen der tratschenden Schüler nisten sich wieder in meinen Ohren ein. „Was ist?", frage ich sie erneut. „Du hast mich nicht gehört!", stellt sie fest. „Ach, nee!", antworte ich mit einem Lachen. Jetzt muss sogar Hannah lachen, die die Dinge sonst immer ein bisschen ernster nimmt. Mit einem „Los sag schon!" will ich die Konversation fortsetzen.
„Schau, da draußen!! Siehst du ihn?", frage Hannah nervös. Ich wende mich zum Fenster. „Wen?", frage ich, da ich nichts besonderes sehen kann. „Na IHN!", versucht mir Hannah zu erklären. Doch ich verstehe erst wen sie meint, als sie mit dem Finger in die Masse der wartenden Kinder zeigt und dabei ein verschmitztes Lachen aufsetzt. „Achso, ER!!", sage ich, als ich begreife, wen sie wieder einmal meint.
Nico. Nicolas Barnes. Ein Junge aus unserer Klasse. Nein, was sage ich? DER Junge aus unserer Klasse! Er ist einer der vielen Jungs, in die sich Hannah verliebt hat, den ausnahmsweise auch ich hübsch finde. Sonst finde ich Hannahs Geschmack was Jungs angeht eher abstoßend. Doch bei Nico fängt sogar mein Herz zu tanzen an. Der einzige Haken an der Sache ist nur, dass ich es Hannah unter keinen Umständen sagen kann. Nico ist nämlich ein Freund meines Bruders und somit habe ich die besseren Verbindungen zu ihm. Und wenn Hannah erfahren würde, dass es mir nicht „so was von egal" ist, wenn der hübscheste Junge der Schule fünf Meter von mir entfernt im Zimmer meines Bruders sitzt, wäre sie vor einem Selbstmordversuch nicht mehr weit entfernt. Doch an diesem Morgen gelingt mir das Schweigen nicht mehr.
Komischerweise steigt Nico heute nicht in den Bus, sondern bleibt bei der Haltestelle stehen. Hannah bemerkt trotzdem sofort, dass Nico eine neue Jacke trägt. Doch anstatt ihr einfach nur überraschend: „Ach ja, toll!" zu antworten, bemerke ich: „Och, die habe ich doch schon vorgestern gesehen, als er bei meinem Bruder war." Hannahs Gesichtsausdruck verändert sich blitzartig und sie fragt mich sofort, warum ich ihr denn nichts gesagt habe. Wütend blickt sie mich an, als ich ihr cool zur Antwort gebe: „ Dein Nico-Wahn stinkt mich schon so dermaßen an! Es gibt auch noch andere Leute, die ihn hübsch finden, doch wenn du das erfahren würdest, würdest du womöglich ganz überschnappen!"
Hannah fragt, während der Bus sich wieder in Bewegung setzt und auf die Hauptstraße einbiegt, ob ich denn auch in ihn verliebt sei. „Vielleicht", antworte ich, um einen Streit zu vermeiden, doch Hannah ist nicht mehr zu stoppen. Sie beschimpft mich als Lügnerin, unechte Freundin und blöde Kuh. Ich will mir das sicher nicht gefallen lassen und will sie als dumme Zicke beschimpfen, doch genau in diesem Moment legt der Bus eine Vollbremsung ein und alle Kinder werden in Sekundenschnelle aus den Sitzen geschleudert. Ich kann das Geschrei von Hannah, mir und den anderen Kindern hören. Außerdem sehe ich jede Menge Blut an der Einrichtung des Busses und an den Körpern der anderen. Langsam hebe ich meinen Kopf, der verdammt schmerzt, und schwenke meinen Blick ein bisschen nach links. Das erste, was ich zu sehen bekomme, ist meine Freundin Hannah. Sie liegt jedoch nicht im Bus, sondern vor dem Bus. Glasscherben liegen um ihren Körper verteilt neben ihr auf der Straße. Ich möchte sofort zu ihr eilen, doch ich kann den stechenden Schmerz im Bein nicht mehr länger ertragen; sofort wird mir schwarz vor Augen.
„Mann, du hattest verdammtes Glück, dass du nicht in den Bus gestiegen bist!", sagte ich zu Nico.
Er nahm meine Hand und zog mich in die Höhe. Ich schaute ihm in die Augen. Dann lächelte er mich an. Und ich lächelte zurück. Wie lange wir so dastanden, konnte ich in diesem Moment nicht mehr sagen. Die Zeit schien stillzustehen. In diesem Moment wurde mir wieder bewusst, in welch hübschen Jungen sich Hannah damals verliebt hatte. Doch mir wurde nicht mehr schwindelig. Ganz im Gegenteil. Mir ging es mit jedem Augenblick besser. Mit der einen Hand griff Nico nach meiner Hand, mit der anderen wischte er meine letzten Tränen aus dem Gesicht.