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Hangrutsch
Sie schrieb, dass sie soweit wäre.
Komm zu mir, schrieb sie.
Mein Haus ist wieder leer und mein Herz hat Plätze zu vergeben. Was hieltest du davon, wenn auch für dich einer dabei wäre? Ich weiß nun, dass das mit dem Letzten nichts war. Alles hat sich in Flüchtigkeiten aufgelöst, nachdem ich beschlossen hatte, ihn zu meinen Irrtümern zu erklären. Ich somit meinem Irren den kleinen Krieg aussprach und ich nun nach Jahren den Sieg in der Tasche habe. Hilf mir, den Sieg zu tragen, wohin immer du willst. Du kennst die Tasche. Es ist die, in der wir die Pilze dieses einen langen Sommers heimgetragen haben. Jetzt ertrage ich meinen Sieg darin. Die Tasche ist schwer und wenn wir beide sie in die Mitte nehmen, machen wir meinen Sieg bald zu dem unseren.
Ich will dir von meinen Kämpfen erzählen.
Wirst du mir zuhören?
Ich weiß, dass du, wenn du erst da bist, mich reden lassen wirst. Du warst nie der, der dreinfährt, weil du immer wusstest, dass es behutsam besser geht.
Schau, das Haus ist leer. Von seinem Duft ist nichts geblieben. Tag und Nacht hatte ich die Fenster offen. Ich wollte wieder den Duft der Wälder bei mir haben. Jetzt schlafe ich auf erkämpften Fichtennadeln und Träume braucht es nicht, um mich in meinem Bett zu vergraben.
Ich warte. Ich musste es dir schreiben. Der Bach schwillt an. Soviel Schnee kommt von den Hängen. Wirst du aus deinem Tal zu mir kommen? Kommst du? Komm bald, bitte.
So schrieb sie.
Das Briefpapier ist vergilbt.
Das Kuvert hat feine Risse.
Ihre Schrift ist noch lesbar.
Er fand den Brief zwischen alten Beurkundungen seiner erstrittenen Waffenstillstände. Ansuchen, Zeugnisse, Gesuche, denen stattgegeben wurde. Schriften, deren Blätter nun ohne Wert waren. Staubfänger. Viele hatten sich in seinen letzten Jahren angesammelt. Er war kaum weitergekommen. Er hatte zwischen den Sonnenaufgängen und dem Wölfeschleichen im Abenddämmer zu leben versucht. In erstickenden Stunden hatte er seine Atmung neu erfunden.
Was meinte sie mit ihrem Sieg, fragt er sich. Das habe ich schon damals nicht verstanden.
Eintagsfliegen fallen tot von den Scheiben. Das Fensterbrett ist mit kleinen Leichnamen übersät. Die Sonne steht hinter dem Dachgiebel. Der Giebel ist seine Erinnerung. Steil und ohne Leben darauf, weil all das Wasser abfließt, daher nichts gedeihen kann.
In den Zimmerecken hocken Schatten.
Einer heißt Vergangenheit.
Ein anderer Irrtum.
Er kann sich an die Tasche erinnern. Auch er hatte seinen Krieg geführt. Von einem Sieg ist keine Spur zu sehen. Es waren die Frontbegradigungen, die ihm den Boden unter den Füßen wegzogen, ihn wieder und wieder diesen Brief hervorkramen ließen. Es waren immer Niederlagen. Es war ein Hangrutsch. Er hatte den Wald verkauft, und damit seinen Schutz in Frage gestellt. Er hatte die Schutzwälder gerodet. Dann hatte der Hang zu rutschen begonnen und sein halbes Tal unter Geröllmassen begraben. Seitdem lebt er in der anderen Hälfte. Dann und wann schneit es und alles, das vom Himmel kommt, tanzt im Sonnenlicht seiner Talhälfte.
Ich bin nicht zu ihr gegangen, denkt er. Ich wollte von ihren Kämpfen nichts wissen. Wenn ich mich doch aufgemacht hätte? Hätte ich ihr leeres Haus gefunden, irgendwo in den Fichtenwäldern? Ich hätte mich wie eine Marionette gefühlt, aufgezogen, leer, trotz des Schlüssels im Rücken. Ich hätte mir an den Glassplittern seines Bilderrahmens die Finger blutig geschnitten. Gut, dass ich blieb.
Er liest Zeile um Zeile. Er kennt jedes Wort, das sie geschrieben hat. Sie hatte den Brief parfümiert. Sie wusste um ihre Gabe, ihn wahnsinnig zu machen. Doch er hatte standgehalten. Er hatte beschlossen, die Geröllmassen liegen zu lassen, gerade so, wie sie lagen. Er hat sich irgendwann in eine andere Richtung aufgemacht, immer einen Schritt vorwärts und zwei bescheiden kleine zurück.
Dann kam dieser Traum.
Er sah den Hang auf sich zukommen und mit einem Mal stand ihre Tasche vor seinen Füßen.
Ihre Tasche, die einmal auch die seine war. Die, in der sie die Pilze nach Hause schafften, als es diesen langen Sommer gab. Die Tasche war vollgefüllt mit Steinen.
Jeder Stein ist ein Sieg, hörte er sie sprechen. Jeder Sieg lag mir am Herzen. Für dich. Darum der Brief. Darum der Platz für dich. Ich hatte immer Prinzipien. Du nanntest diese unwichtig, aber ich habe damit Steine gesammelt und Siege errungen.
Der Traum erschütterte ihn.
Er stand am Ufer eines Teiches, dessen Wasser rot leuchtete. Wie weit kannst du mit meinen Siegen werfen, hatte sie geflüstert. Zeig’s mir. Siehst du die Insel dort? Darauf will ich meine Siege wissen. Ich hatte nie Vertrauen zu dir. Jetzt kannst du alles gutmachen.
Er hatte geschrieen, dabei nicht seine Tränen und ihr Lachen bemerkt. Alle Steine gingen im roten Wasser des Teiches unter. Tote Kinder trieben unterhalb gekenterter Boote.
Siehst du es jetzt, hatte sie gesagt, so warst du immer. Daher hat es schon keinen Sinn mehr gemacht, als du noch über das zu mir Kommen nachdachtest.
Bleib’ weiter dort, wo du bist.
Doch das mit dem Traum ist vorbei.
Im Oktober, wenn das Jahr den Wald aberntet und ganze Fliegenpilzkompanien marschieren, dann holt er den Brief hervor. Als er diesen das erste Mal gelesen hatte, wusste er nicht aus noch ein. Jetzt ist das Auffalten des Papiers nicht mehr als Gewohnheit, weil er dessen Inhalt auswendig weiß. Zudem ist die Schrift verblasst. Die Zeit hat das Papier überzogen. Die Zukunft wird daraus Staub machen.
Mittlerweile hat sich etwas Wunderbares zu seiner Talhälfte durchgegraben. Das Vieh auf den Almen begann zu blöken und der Zwerg, der sich seine Hütte im Latschenwald gebaut haben soll, hat ein Bad im Viehtrog genommen. Das Geplätscher von oben konnte er bis in seine Talhälfte hören. Ist denn das möglich, hatte er gedacht und ungläubig sein Ohr an die Geröllmasse gehalten, in der es polterte und rumorte.
Grüß Gott, hat er dieses Wunderbare in seiner einfachen Sprache begrüßt.
Ja, ich bin auch froh, da zu sein, kam die Antwort.
Dann hat er von den Geröllmassen erzählt, die in sein Tal gerutscht sind.
Halb so wild, kam wieder die Antwort, da bin ich ja gerade durch. Ich komme auch von einer Rutschpartie.
Hast du denn keine Tasche mit, fragte er ängstlich.
Mit der hätte ich mich nicht zu dir durchgraben können. Drum habe ich sie zurückgelassen, kam die Antwort.
Dann bleib’, sagte er.
Deshalb bin ich hier, kam die Antwort.