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Hangrutsch

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02.11.2001
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Hangrutsch

Sie schrieb, dass sie soweit wäre.
Komm zu mir, schrieb sie.
Mein Haus ist wieder leer und mein Herz hat Plätze zu vergeben. Was hieltest du davon, wenn auch für dich einer dabei wäre? Ich weiß nun, dass das mit dem Letzten nichts war. Alles hat sich in Flüchtigkeiten aufgelöst, nachdem ich beschlossen hatte, ihn zu meinen Irrtümern zu erklären. Ich somit meinem Irren den kleinen Krieg aussprach und ich nun nach Jahren den Sieg in der Tasche habe. Hilf mir, den Sieg zu tragen, wohin immer du willst. Du kennst die Tasche. Es ist die, in der wir die Pilze dieses einen langen Sommers heimgetragen haben. Jetzt ertrage ich meinen Sieg darin. Die Tasche ist schwer und wenn wir beide sie in die Mitte nehmen, machen wir meinen Sieg bald zu dem unseren.
Ich will dir von meinen Kämpfen erzählen.
Wirst du mir zuhören?
Ich weiß, dass du, wenn du erst da bist, mich reden lassen wirst. Du warst nie der, der dreinfährt, weil du immer wusstest, dass es behutsam besser geht.
Schau, das Haus ist leer. Von seinem Duft ist nichts geblieben. Tag und Nacht hatte ich die Fenster offen. Ich wollte wieder den Duft der Wälder bei mir haben. Jetzt schlafe ich auf erkämpften Fichtennadeln und Träume braucht es nicht, um mich in meinem Bett zu vergraben.
Ich warte. Ich musste es dir schreiben. Der Bach schwillt an. Soviel Schnee kommt von den Hängen. Wirst du aus deinem Tal zu mir kommen? Kommst du? Komm bald, bitte.
So schrieb sie.

Das Briefpapier ist vergilbt.
Das Kuvert hat feine Risse.
Ihre Schrift ist noch lesbar.
Er fand den Brief zwischen alten Beurkundungen seiner erstrittenen Waffenstillstände. Ansuchen, Zeugnisse, Gesuche, denen stattgegeben wurde. Schriften, deren Blätter nun ohne Wert waren. Staubfänger. Viele hatten sich in seinen letzten Jahren angesammelt. Er war kaum weitergekommen. Er hatte zwischen den Sonnenaufgängen und dem Wölfeschleichen im Abenddämmer zu leben versucht. In erstickenden Stunden hatte er seine Atmung neu erfunden.
Was meinte sie mit ihrem Sieg, fragt er sich. Das habe ich schon damals nicht verstanden.
Eintagsfliegen fallen tot von den Scheiben. Das Fensterbrett ist mit kleinen Leichnamen übersät. Die Sonne steht hinter dem Dachgiebel. Der Giebel ist seine Erinnerung. Steil und ohne Leben darauf, weil all das Wasser abfließt, daher nichts gedeihen kann.
In den Zimmerecken hocken Schatten.
Einer heißt Vergangenheit.
Ein anderer Irrtum.
Er kann sich an die Tasche erinnern. Auch er hatte seinen Krieg geführt. Von einem Sieg ist keine Spur zu sehen. Es waren die Frontbegradigungen, die ihm den Boden unter den Füßen wegzogen, ihn wieder und wieder diesen Brief hervorkramen ließen. Es waren immer Niederlagen. Es war ein Hangrutsch. Er hatte den Wald verkauft, und damit seinen Schutz in Frage gestellt. Er hatte die Schutzwälder gerodet. Dann hatte der Hang zu rutschen begonnen und sein halbes Tal unter Geröllmassen begraben. Seitdem lebt er in der anderen Hälfte. Dann und wann schneit es und alles, das vom Himmel kommt, tanzt im Sonnenlicht seiner Talhälfte.
Ich bin nicht zu ihr gegangen, denkt er. Ich wollte von ihren Kämpfen nichts wissen. Wenn ich mich doch aufgemacht hätte? Hätte ich ihr leeres Haus gefunden, irgendwo in den Fichtenwäldern? Ich hätte mich wie eine Marionette gefühlt, aufgezogen, leer, trotz des Schlüssels im Rücken. Ich hätte mir an den Glassplittern seines Bilderrahmens die Finger blutig geschnitten. Gut, dass ich blieb.
Er liest Zeile um Zeile. Er kennt jedes Wort, das sie geschrieben hat. Sie hatte den Brief parfümiert. Sie wusste um ihre Gabe, ihn wahnsinnig zu machen. Doch er hatte standgehalten. Er hatte beschlossen, die Geröllmassen liegen zu lassen, gerade so, wie sie lagen. Er hat sich irgendwann in eine andere Richtung aufgemacht, immer einen Schritt vorwärts und zwei bescheiden kleine zurück.
Dann kam dieser Traum.
Er sah den Hang auf sich zukommen und mit einem Mal stand ihre Tasche vor seinen Füßen.
Ihre Tasche, die einmal auch die seine war. Die, in der sie die Pilze nach Hause schafften, als es diesen langen Sommer gab. Die Tasche war vollgefüllt mit Steinen.
Jeder Stein ist ein Sieg, hörte er sie sprechen. Jeder Sieg lag mir am Herzen. Für dich. Darum der Brief. Darum der Platz für dich. Ich hatte immer Prinzipien. Du nanntest diese unwichtig, aber ich habe damit Steine gesammelt und Siege errungen.
Der Traum erschütterte ihn.
Er stand am Ufer eines Teiches, dessen Wasser rot leuchtete. Wie weit kannst du mit meinen Siegen werfen, hatte sie geflüstert. Zeig’s mir. Siehst du die Insel dort? Darauf will ich meine Siege wissen. Ich hatte nie Vertrauen zu dir. Jetzt kannst du alles gutmachen.
Er hatte geschrieen, dabei nicht seine Tränen und ihr Lachen bemerkt. Alle Steine gingen im roten Wasser des Teiches unter. Tote Kinder trieben unterhalb gekenterter Boote.
Siehst du es jetzt, hatte sie gesagt, so warst du immer. Daher hat es schon keinen Sinn mehr gemacht, als du noch über das zu mir Kommen nachdachtest.
Bleib’ weiter dort, wo du bist.

Doch das mit dem Traum ist vorbei.
Im Oktober, wenn das Jahr den Wald aberntet und ganze Fliegenpilzkompanien marschieren, dann holt er den Brief hervor. Als er diesen das erste Mal gelesen hatte, wusste er nicht aus noch ein. Jetzt ist das Auffalten des Papiers nicht mehr als Gewohnheit, weil er dessen Inhalt auswendig weiß. Zudem ist die Schrift verblasst. Die Zeit hat das Papier überzogen. Die Zukunft wird daraus Staub machen.
Mittlerweile hat sich etwas Wunderbares zu seiner Talhälfte durchgegraben. Das Vieh auf den Almen begann zu blöken und der Zwerg, der sich seine Hütte im Latschenwald gebaut haben soll, hat ein Bad im Viehtrog genommen. Das Geplätscher von oben konnte er bis in seine Talhälfte hören. Ist denn das möglich, hatte er gedacht und ungläubig sein Ohr an die Geröllmasse gehalten, in der es polterte und rumorte.
Grüß Gott, hat er dieses Wunderbare in seiner einfachen Sprache begrüßt.
Ja, ich bin auch froh, da zu sein, kam die Antwort.
Dann hat er von den Geröllmassen erzählt, die in sein Tal gerutscht sind.
Halb so wild, kam wieder die Antwort, da bin ich ja gerade durch. Ich komme auch von einer Rutschpartie.
Hast du denn keine Tasche mit, fragte er ängstlich.
Mit der hätte ich mich nicht zu dir durchgraben können. Drum habe ich sie zurückgelassen, kam die Antwort.
Dann bleib’, sagte er.
Deshalb bin ich hier, kam die Antwort.

 

Hallo Aqualung,

Deine Geschichte überzeugt wieder einmal durch die ausgefeilten Begriffe, die die Stimmung des Protagonisten veranschaulichen. „Wölfeschleichen“, dann „hocken“ „in den Zimmerecken Schatten“, das wirkt bedrohlich, bis hin zu der Herausforderung „Wie weit kannst Du mit meinen Siegen werfen“. „Die Zukunft wird daraus Staub machen“ - nicht nur aus dem Brief, sondern aus allem, für das der Brief steht. (Der Brief als wiederkehrendes Bindeglied, eine schöne Idee).
Das Einzige, was mich etwas gestört hat: Die Marionette mit dem Schlüssel im Rücken - Marionette mit Schlüssel?

Ob der Zwerg noch heranwächst?

Tschüß... Woltochinon

 

Einen schönen Samstag Vormittag, Woltochinon,

schön, dass du dich mit meinem Text herumgeschlagen hast. Der Protagonist hat alles richtig gemacht. Die Trennung war noch Frontbegradigung, das nicht Zurückgehen sein erster Sieg. Belohnung dafür ist das Wunderbare, das sich letztendlich zu ihm durchgräbt. Angst vor einer etwaigen mitgebrachten Tasche hat er zwar, doch nicht jeder trägt seine Siege in Form von Steinen in einer Tasche mit sich herum.
Es gibt Puppen, marionettengleiche, die aufziehbar sind. Daher der Schlüssel im Rücken.
Vielen Dank für deine Kritik, Wolto.

Zwerge wachsen nicht...

Liebe Grüße - Aqua

 

hei aq, ich glaube, dass du in letzter Zeit-deinem eigenen Stil näher zukommen-einen riesigen Schritt gemacht hast.
Man könnte mir aus einer deiner letzten 20 stories 1 oder 2 sätze, oder einen absatz vorlesen, ich wüsste wer ihn geschrieben haette. Dieser dein Stil grenzt sich von allen anderen herkömlichen Stilen ab. Er ist etwas besonderes. Zum Beispiel die Metapher, die tief gehen und wo man gezwungen ist ganz plötzlich 2 Dimensionen, Ebenen höher zu denken, zu assoziieren, -das ist nie ganz einfach-.

Im Grunde genommen gehörst du gar nicht mehr hier her!
Dieser Satz gilt aber nur, wenn mann zwischen Autoren differenzieren will. Für mich ist das, was du schreibst die oberste Liga. Es existieren nun einmal qualitative Unterschiede, die sind unübersehbar.

Eine Schwierigkeite sehe ich in deiner Schreibe darin, dass man sich drauf einlassen müsste. Die 4. oder 5. deiner Stories versteht man manchmal besser, als die 1., die man jemals las. Manchmal!!

Okay, das erstmal für´s erste

liebe grüsse stefan

 

Hallo Aqua!

Gute Forumulierungen, die Doppeldeutigkeit in den eigenltich einfachen Wörtern...ja, es ist was zum drauf einlassen, wie Arche schon gesagt hat. Es fällt mir manchmal sehr schwer... alte Erinnerungen an Lebenssituatioenen, Fehler, den Hangrutsch, an sie und ihre "Siege", die Steine, zu schwer für ihn. Die Vergangenheit, an der er immernoch zu beißen hat, die Briefe. Und dann das Wunderbare, das ohne Steine kommt, einfach nur um bei ihm zu sein. Seine Erleichterung.
Der Prot hat alles richtig gemacht, schreibst Du. Das weiß ich nicht.
Nicht einfach, dieser Text. Aber sehr gut geschriebe auf jeden Fall.

liebe Grüße
Anne

 

Hallo Arche, hallo Maus Maus,

ich möcht' mich bei euch Beiden ganz euphorisch bedanken, zum Einen fürs Lesen, zum Anderen für eure Kritik. Deine Worte, Arche, schmeicheln. Aber sie sprechen auch für das, zu dem hin sich meine Texte entwickeln. Wenn ein Autor aufgrund seines Schreibstils erkannt wird, dann ist das schon was, finde ich. Danke nochmal.
Wann darf ich wieder was von euch lesen, Madame and Sir? Es wäre der Rubrik Alltag sehr bekömmlich.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo Aqua,
meine Vorgänger haben die Worte schon geschrieben: du gehörst nicht mehr ganz hierher, du gehörst in richtige Bücher mit deinem Namen auf dem Titel.
Ein wunderschönerr Text erschien da auf dem Bildschirm. Warum er mich anrührt kann ich gar nicht mal sagen. Nur was er ausgelöst hat, nämlich weiterlesen, hineinversetzen, das grüne Gras der Alm, das kalte Wasser im Trog, die toten Kinder im Rot.
Wieder heftig.
*Alles Liebe Merlinwolf**********

 

Hallo Aqualung!
Du kannst sehr gut mit der Sprache umgehen. Der Text ist nicht leicht, und auch nicht gleich zu verstehen. Man muss sich ihn erst einmal durchgelesen haben um ihn zu lesen. Also kein Text für auf die Schnelle. Es soll aber wirklich Leute geben, die nach ihren Feierabend solch einen Alltag im Kopf haben. Du verwendest viele Bilder, die in einem persönliche Assoziationen hervorrufen. Vielleicht finde ich irgendwann einmal einen Schwachpunkt, im Moment jedenfalls sehe ich keinen. Werde die Geschichte so wie so noch ein paar Mal lesen.
Gruß Charly

 

Hallo Merlinwolf,

ein bisschen spät bedanke ich mich für das Lesen des Textes und deine Worte dazu. Was soll ich noch sagen?

Hallo CharlyM,

auch dir ein Dankeschön für das Lesen des Textes.
Schön, dass er persönliche Assoziationen hervorruft. Würdest du mir verraten, in welcher Richtung die zu vermuten sind?
,Man muss sich ihn erst einmal durchgelesen haben, um ihn zu lesen.' Dieser Satz ist ein tolles Lob und hat mich sehr gefreut. Die Geschichte ist angekommen bei dir.

Liebe Grüße an euch beide - Aqua

 

Hallo Aqua,
selbstverständlich.
Nur nenne ich es den kleinen Auslöser, der sich da den Weg durch die Gerölmassen aus Sinneseindrücken, bewusster und unbewusster Ebenen, durch diese dynamische Weiterentwicklung jeder Situation und eigenem Reifungsprozess bahnt.
Meine persönlichen Assoziationen beziehen sich zum Leben. Habe ich gelebt? Lebe ich? Was habe ich in meinem bisherigen Leben erreicht? Und ich denke, das ist ein Alltag in unserem Kopf der sich nicht so leicht verdrängen lässt. Ein Geruch, ein Bild, ein Lied.
Längere Zeit habe ich nach Antworten auf die Frage „Warum soll ich leben?“ gesucht. Nicht weil ich selbstmordgefährdet bin, sondern weil ich eine Geschichte zu diesem Thema schreiben will. Also: Warum soll mein gefährdeter Protagonist leben wollen, aus welch einem Grund soll er sich für das Leben entscheiden? Warum soll er sich nicht das Leben nehmen? Was soll ihn davon abbringen?
Wie zufrieden bin ich mit meinem bisherigen Leben? Hätte ich etwas anders machen können, unter Berücksichtigung des Wissens- und des Informationsstandes, der mir zu der Zeit zur Verfügung gestanden hat? Warum sollte ich überhaupt etwas ändern wollen? Hat nicht alles seinen Sinn gehabt und hat es den nicht immer noch?
Auch für einen Menschen, der mit beiden Beinen voll im Leben steht, fällt eine angemessene Antwort schwer. Wenn dann so ein kleiner Auslöser kommt, der kann alles in Frage stellen. Und die Beine, auf denen du eben noch so standsfest warst, geben nach. Und dann kommt eben die Frage: Habe ich in meinem Leben etwas gelernt?
Und dann stellt sich noch eine Frage: Was geschieht in dem, der ich bin?
Hoffentlich erschrecke ich dich mit diesen Assoziationen nicht. Aber wie gesagt, es sind diese kleinen Auslöser, die einen nachdenken lassen. Und sei es ein Text wie der deinige.
Herzlichen Gruß
Charly

 

Danke CharlyM, für deine wirklich sehr ausführlichen Erklärungen. Es freut mich, dass ich dich mit meinem Text hin zu diesen Gedanken und Überlegungen geführt habe. Naja, sicher ist der Text nur ein Steinchen in der großen Gedankenmasse, die du strapazierst.
Die Sinnfrage, die Frage nach dem Warum und wie esdanach weitergeht, ist interpretierbar, kaum beantwortbar. Sagen wir Leben dazu.
Mein Antrieb zu schreiben,ist der, dass ich mit meinen Texten etwas bewirken, auslösen möchte. Ich will Reaktionen hervorlocken, machmal durch Provokation, das gebe ich zu. Bei dir hat der Text etwas ausgelöst, das ich mit deinen Worten bei mir wiederfinde.
Das ist das Wunderbare daran.

Liebe Grüße an dich - Aqua

 

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