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Hanfkrawatten-Party, El Paso 1889

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07.08.2002
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Hanfkrawatten-Party, El Paso 1889

Ich habe Angst, niemand darf es bemerken! Ist das Seil am oberen Querbalken richtig festgemacht worden, wird es halten?

Viertausend Menschen zu diesem öffentlichen Schauspiel? Rancher, Cowboys, Ehrenmänner mit ihren Frauen und Kindern. Alle starren sie hinauf, zum Galgen, warten, lechzen, ihr Blutdurst soll gestillt werden. Ersehnen den Todessprung, zwölf Fuß tief, mit einem jähen Halt.

In Lee County, einem kleinen Nest, knapp dreißig Meilen von hier, hängte man vor kurzem einen Pferdedieb. Das Seil war nicht richtig befestigt worden, rutschte nach. Die Füße des Opfers berührten den Boden, der zuckende Körper pendelte hin und her. Zuschauer eilten zum Galgengerüst, hoben den Unglückseligen vom Boden, hievten ihn erneut auf die Plattform. Sheriff und Deputy zogen das Seil straff, knoteten es fester; die Prozedur konnte von neuem beginnen. Eine zweite Chance zum Sterben, er nutzte sie, nach neun Minuten!

Tausende versammeln sich an diesem heißen Sommertage, schwitzen in der Mittagshitze, kühlen mit feuchten Tüchern ihre Stirn und hoffen auf die Tat es Henkers. Sie gafft, die Menge. John Rollin Ridge soll am Galgen hängen, bis der Tod eintritt. “Hängt ihn doch endlich auf den Mörder! Lasst ihn baumeln!“ Der Volkszorn entlädt sich, viel Lärm, lautes Geschrei, aufgestaute Aggressionen finden ihr Ventil. Volksfeststimmung
Die Angst, ich spüre sie in mir aufsteigen, wie sie nagt, wie sie hämmert. Die Hanfschlinge, wird sie halten? Es muss schnell gehen. Gebrochenes Genick, nichts anderes zählt! Eine Hinrichtung ist Chronistenpflicht. Man wird mich beobachten, mir Zeilen widmen, meine Nerven dürfen nicht versagen!
Das Volk wird ungeduldig, es schimpft, will Gerechtigkeit. Ich blicke in Gesichter voller Hass, spüre ihren Rachedurst, ihr Verlangen nach der Marter, bin gekommen, um sie zu befriedigen. Ich sehe ein kleines Mädchen mit verstörtem Blick! Geschieht hier ein Unrecht? Nein, ihre Mutter lacht. Sehe die vor Wut Schäumenden, die ihre Faust empor heben, dem Todgeweihten drohen, ihrem Zerstörungstrieb freien Lauf lassen, sehe…meine Frau! Meine kleine Mary. Sie steht zwischen den Gröhlenden, in einer der vorderen Reihen, gibt mir ein Zeichen, sie lächelt, macht mir Mut.
„Mary, du hier!“, denke ich.
Die Frau, die ich liebe ist gekommen, um mich zu sehen! Das mutet sie sich,…das mutet sie mir zu.
Ich möchte keine Schwäche zeigen. Halte durch! Ein, zwei Minuten, dann ist´s vorbei. Wird schon alles gut gehen!
Endlich! Sheriff, Deputy und Richter steigen das Schafott hinauf.
„John Rollin Ridge, Sie sind zum Tode durch den Strang verurteilt, werden am Halse aufgehängt, Gott sei Ihrer armen Seele gnädig! Henker walte deines Amtes!“ Die Anordnung des Richters ist kurz und eindeutig, wozu viele Worte?
Die Angst ist unerträglich, lähmt mich fast! Wenn die Gewichte an den Füssen zu schwer sind, schneidet das Seil derart tief in den Hals,…dann droht die Enthauptung! Das darf nicht passieren!
Was wird Mary denken? Mein Blick wandert zu ihr, sie lächelt!
Plötzlich verstummt des Volkes Stimme, es wird still, Schweigen.
Der Richter nickt, das Zeichen den Hebel um neunzig Grad nach oben zu ziehen. Die Falltür öffnet sich, der Körper saust nach unten, ein lautes Knacken. Das Genick ist gebrochen!
Die Menge stöhnt auf. Stille. John Rollin Ridge hängt schlaff am Seil, kein letztes Zucken im Todeskampf.
Nachdem der Arzt den Tod festgestellt hat, beginnt der Jubel. Die Menschen fallen sich um den Hals, rufen: “Rollin Ridge ist tot!, Rollin Ridge ist tot!“ Sie tanzen, hüpfen umher, klopfen sich auf die Schenkel, lachen und winken dem Henker zu. Richter und Sheriff beglückwünschen sich, gratulieren dem Scharfrichter, loben ihn für seine Tat. Mary kämpft sich durch die Zuschauer, hastet die Stufen des Schafotts hinauf, küsst und umarmt ihren Mann.
„Ich wusste, dass du es schaffst! Ich wusste es, ich freue mich so sehr für dich, es war wichtig, dass du diese erste Prüfung bestehst. Bravourös, mein Lieber!"
Ihr Mann lässt sich feiern, in der Gewissheit, eine lange Amtszeit stehe ihm bevor. Vorbei die Anspannung, verflogen die Aufregung.
„Ach Mary, ich hatte solche Angst, es würde nicht recht klappen, aber jetzt bin ich so glücklich, ich habe alles richtig berechnet, könnte die ganze Welt umarmen und natürlich dich, Mary ich liebe dich!“
„Ich liebe dich auch, du, mein kleiner tapferer Held!“

 

Hi Arche!

Jetzt hast Du mich wieder schön reingelegt! Ich dachte die ganze Zeit, ich lese tw. aus der Sicht des Gehenkten, dabei hatte der Henker Angst, sah der Henker sich in den Schlagzeilen, war der Henker nervös und war es des Henkers Freundin, die ihm, dem Henker Mut gab... Zum Henker, Arche, das hast Du gut gemacht! :thumbsup:

Das einzige, was mir seltsam vorkam, war, daß er sich Sorgen macht, ob das Seil reißt - aber warum nicht, dachte ich, schließlich ist es nicht schön, zweimal gehenkt zu werden, damit man einmal stirbt. Aber dann war ja alles ganz anders... ;)

Richtig aufgepaßt hab ich jetzt auf die Fehler nicht, nur drei Sachen weiß ich jetzt (vielleicht sind es aber auch nicht mehr...):

Nach

Bravourös, mein Lieber!
gehören Anführungszeichen, da die direkte Rede aus ist.

Bei

„Mary, du hier!“ denke ich.
gehört ein Beistrich (...hier!", denke ich.)

und 90 = neunzig

Den Titel finde ich sehr originell...:D

Alles liebe
Susi

 

Hallo Arche,

das dieser Henker Angst vor dem Versagen hat, vor den selben Leuten, vor denen auch der Deliquent zittern muß, ist schon mehr als ironisch. Der Henker denkt an seine berufliche Zukunft, die dadurch besser wird, daß der Verurteilte möglichst keine mehr hat.
Ich habe mich gefragt: `Was ist denn das für eine Frau, die Stolz ist, wenn ihr Mann Leute erfolgreich erhängt?´
Wahrscheinlich ist sie ganz normal, aber dann kommt der Ausdruck „Held“, der normalerweise viel zu inflationär gebraucht wird, hier aber einer prima Geschichte einen extra Pfiff gibt.

Tschüß... Siegbert

 

Hallo Archetyp!

Die Geschichte ist wirklich perfekt gemacht. Von der Erzählweise und auch die Pointe ist gelungen. Ich dachte zuerst die Frau des Gehängten beglückwünscht den Henker. Auch die mitschwingende Ironie gefällt mir.

Aber sie berührt mich irgendwie nicht. Ich weiss auch nicht so recht warum. Obwohl sie toll geschrieben ist, reisst sie mich nicht mit. Aber das muss ja nicht immer sein. Nette, super gemachte Geschichte für zwischendurch. :-)

lg
klara

 

Susi, reingelegt habe ich dich! oh, das wollte ich aber nicht:D

Ach, was soll ich ohne dich machen! Da würd ich doch schon gar nicht mehr schreiben!

Woltochinon, die Frau ist eigentlich ganz normal, der Henker auch. War etwas rauh damals. Aber...man kann es auch anders sehen, Henker und Frau nicht ganz dicht:
Beweis: Henker ist Henker, spricht für sich.
Frau ist Frau von Henker, spricht für sich.

Woltochinon vielen Dank, hoffe du hast auch gedacht es handelt sich um den verurteilten, an den hab ich ja nie nicht gedacht;)

hei klara, du hast völlig recht, habe sie nicht sehr emotional geschrieben, wollte ich nicht, dann wirds schwer für die Handlung. sollte keine Anklage gegen die Todesstrafe werden. Allerdings gibt es 2,3 Sätze die für sich sprechen, die gehen fast unter.

"Kind guckt verstört, geschieht hier ein unrecht? Nein die Mutter lacht."

Nee Klara, kam mir nur drauf an so ein paar leser, so welche wie Häferl zu erheitern, hinters licht zu führen
;)

hahahahhahahahahahahahhahahahah

liebe grüsse Stefan

 

Servus Archetyp !

Der Stil hat mir wirklich gefallen. Hab ich doch als Kind gerne auch Lassiter-Romane gelesen. Diese Westernsprache findet sich anfangs gut ein.

Nun, du wolltest irritieren und hast den Henker als Opfer erscheinen lassen. Dann lässt du ihn kurz als den erst ängstlichen, danach als gut funktionierenden Staatsangestellten erscheinen, auf den die Frau stolz ist.

Aber dann kommt der Überclou - da wo er sich großartig fühlt, umjubelt - da sagt seine Frau zu ihm: "du, mein kleiner tapferer Held" und macht ihn im Moment seines Triumphes, auf gut wienerisch, zum lächerlichen Würschterl. Dass er letztlich vielleicht doch Opfer ist, find ich echt komisch und witzig !

Viele liebe Grüße an dich - Eva

 
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Hallo Stefan,

auch mir hat die Geschichte sehr gefallen. Allerdings hatte ich sehr schnell die Vermutung, dass wir uns mit den Gedanken des Henkers beschäftigen...

ein paar Kleinigkeiten gefielen mir nicht so ganz:

- ...ersehnen den Todessprung .... das klingt mir zu aktiv, der Verurteilte springt doch nicht, er wird gestoßen, Todessturz?

John..., Sie sind zum Tode... (Sie groß schreiben!)
Gott sei Ihrer armen Seele.... (Ihrer groß schreiben!)

...es könnte zur Enthauptung kommen... oder zu einer... (nicht zu)

Auch der Wechsel von der ersten in die dritte Person erscheint mir nicht so glücklich. Es ist so / zu unvermittelt. Hatte das einen bestimmten Grund?

Sehr eindrücklich fand ich die drei Sätze:
"Ich sehe ein kleines Mädchen mit verstörtem Blick. Geschieht hier ein Unrecht? Nein, ihre Mutter lacht." Da liefs mir kalt den Rücken runter.

Der Titel ist Klasse. Ich habe die Geschichte wegen des Titels gelesen! :cool:

Ich hoffe ich bin nicht zu pingelig.

Viele Grüße
Barbara

 

Hallo Schnee.eule, während des Schreibens fiel mir auf, dass diese Story mehrere Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Ja richtig. Ein ganz armes Würstchen ist er, die Frau auch.
Nein- irritieren wollte ich nie! Hab immer nur vom Henker gesprochen - Ehrenwort! Danke

Hallo Barbara, nein du bist keine hartherzige Kritikerin, auch keine Pingelige. Alles hat seine Berechtigung. Ich rutsche in die 2. Person denke ich, und ich denke es geht gar nicht anders. Sieze ich jemanden, muss ich "Ihrer" verwenden und nicht "Deiner", meine ich , jedenfalls hier. Oder meintes du die Anrede überhaupt!
Du hast meine 3. Lieblingssätze erwähnt, die machen eine ganze Menge aus, das fiel schon jemandem genau so deutlich wie dir auf.

Vielen dank stefan

 

Hallo Arche,

die Geschichte gefällt mir gut. Ich hab geahnt, dass der Henker der Erzählende ist. Die einzige kleine Irritation ist für mich das Jahr 1889. Es hängt da für mich so ein bisschen die Westernmentalität mit drinnen. Ich glaube, die Geschichte wäre auch gut mit elektrischem Stuhl und irgendwelchen herbeibeorderten Zeugen rübergekommen, alle hinter einer Glaswand als Zuschauer sitzend, die anschließend in ein Viersternelokal zum Dinner fahren, in ihren Porsches oder ähnlichem auf Rädern.
Das du den Verurteilten in keiner Weise direkt mit in die Erzählung einbeziehst, das beweist allerdings deine spezielle Klasse beim Schreiben einmal mehr.

Liebe Grüße - Aqua

 

hallo archetyp - ja. ich finde die geschichte auch gut. insbesondere der titel mit dem hinweis auf die jahreszahl. damals hatte die todesstrafe ja gesellschaftlich gesehen noch eine ganz andere bedeutung als heute. sie gehörte zum leben - und volksfest ist wahrscheinlich eine ganz gute beschreibung für das, was damals passierte, wenn jemand sein leben am galgen ausröchelte.

was mir nicht so gut gefiel:

Alle starren sie hinauf, zum Galgen, warten, lechzen, ihr Blutdurst soll gestillt werden. Ersehnen den Todessprung, zwölf Fuß tief, mit einem jähen Halt.
- beim erhängen fliesst kein blut. und der todessprung ist auch nicht ein aktiver sprung, sondern der deliquent wirdt gestossen (hat weiter oben auch schon jemand bemerkt)

Tausende versammeln sich an diesem heißen Sommertage, schwitzen in der Mittagshitze
- die hohe temperatur wird gleich 2x erwähnt

Das mutet sie sich,…das mutet sie mir zu.
- warum ist es eine zumutung für ihn, wo er sich doch freut über ihre anwesenheit (hauptsächlich nach der geglückten exekution)?

beste grüße
ernst

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Aqua, du hast völlig recht so könnte es man auch schreiben, das musst du dann aber tun, ich will mich nicht lächerlich machen! Denn überleg mal! Stell dir vor ich nehme den elektrischen Stuhl, als Tötungsmaschine, wie soll ich denn noch glaubhaft schreiben, dass der Henker Angst um die Länge des Seils hat?(lachst du jetzt ein bisschen, doch nicht?) Ich habs in den Westen gelegt, weil man Hinrichtungen zu der Zeit im Westen tatsächlich auch "Hanfkrawatten-Party" nannte. Aber wie du es beschreibst wäre auch ideal, für so eine Story, tja den Gehängten fand ich nicht so erwähnenswert!

Ach aqua, du bist n lieber Kerl muss aber jetzt erst mal los
Ciao Stefan

P.s Vielleicht n eletkrisches Seil??


Hei Ernst, da bist du ja wieder! Ja, die paar Sachen, die du erwähnst...also.

Auf alle Fälle meine ich "Blutdurst" im übertragenden Sinn, und jetzt meine ich auch noch "Todessprung" im übertragenden Sinn, kein bock noch was zu ändern.:rolleyes:

Okay, mit der Hitze, dem Wetter hast du recht, und das Ding mit "zumuten" das verbuchen wir mal unter "Ambivalente Emotion" Hauptsache , es hat dir ein bisschen gefallen! Du!!! Ich mach so viele Fehler im Leben, da kommt es auch nicht mehr drauf an:p


Liebe grüsse Stefan;)

 

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