Was ist neu

Handlesen

Mitglied
Beitritt
03.08.2003
Beiträge
472
Zuletzt bearbeitet:

Handlesen

Ich wollte eigentlich nicht, aber dennoch ließ ich mich von meiner Frau überreden, noch einen kurzen Abstecher auf den Wochenmarkt zu machen. Ein bescheuerter Abschluss des Stadtbummels. Nun ja, Mann musste eben ab und zu Kompromisse eingehen. Und wir brauchten noch ein Geschenk für den morgigen Geburtstag von Tante Othilie. So jedenfalls die Begründung meiner Frau für ihr Vorhaben.
Ziellos ließen wir uns mit der Menge treiben.
Wieder das übliche bunte Gewimmel. Gelbe Zitronen, rote Tomaten, grüne Gurken; braune Inder, die elektronischen Schnickschnack verkauften. Vietnamesen hielten Sonnenbrillen feil.
Meine Frau war schon in der Menge verschwunden. Ich vertrieb mir die Zeit damit mir Tante Othilie mit einer dieser Brillen vorzustellen. Tantchen hinter Spiegelglas – ein Al Capone mit graumelierten Löckchen. Meine Laune besserte sich.
Da fiel mein Blick rein zufällig auf eine alte Zigeunerin, die hinter ihrem Stand mit esoterischem Klimbim auf Kunden lauerte. Ich erkannte Glückssteine, astrologische Tabellen mit Konstellationen der Planeten und Mandalas. Als ob die Zigeunerin meinen Blick gespürt hätte, sah sie mich plötzlich aus Augen an, die an bodenlose schwarze Löcher erinnerten. Kaum merklich nickte sie in meine Richtung. Meinte die mich? Ich sah mich um. Hinter mir stand keiner. Wieder sah ich zu ihr hinüber. Wieder dieses Nicken. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen ging ich langsam zu ihr hin und der Blick ihrer merkwürdigen Augen wollte mich nicht loslassen.
Als ich vor ihr stand, sagte sie mit knarrender Stimme: „Na, junger Mann“... Ich fühlte mich geschmeichelt ...“wie wär‘s mit einem Blick in die Zukunft? Das macht nur 5 Euro.“
Warum eigentlich nicht? Ich nickte.
„Geben Sie mir ihre Hand.“
Gehorsam streckte ich ihr meine Hand hin. Die Zigeunerin beugte sich über sie und starrte auf die Handfläche. Mit einem braunen Wurzelfinger zog sie irgendwelche Linien nach und murmelte vor sich hin. Ich verstand kein Wort, musste wohl Sinti sein. Oder Roma? Jedenfalls ging das eine ganze Weile so, für mein Gefühl viel zu lange. Irgendwas schien nicht zu stimmen, denn immer wieder zog die Alte mit ihrem Finger die Linien nach, als könne sie nicht glauben, was sie sah und brauchte Bestätigung durch ihren Tastsinn.
Langsam wurde es mir zu bunt. Ich entzog der Alten meine Hand.
„Na, was haben Sie denn nun herausgefunden?“
Mit einem undeutbaren Ausdruck im Gesicht sah sie mich an.
„Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen das sagen soll?“
„Raus mit der Sprache, sonst gibt’s kein Geld.“
„Also gut. Sie haben es nicht anders gewollt.
Ihre Hand hat die typische Feuerform - Sie wurden geboren im Zwillinge-Aszendenten, als Uranus und Mars in Konjugation standen. Mars, der Planet des Zwistes und des Krieges. Uranus, der Planet des Todes. Und diese Planeten treten morgen wieder in Konjugation zueinander. Das Verhängnis ist vorherbestimmt. Ihre Lebenslinie splittert sich am großen Marsberg auf und die Schicksalslinie versickert in der Neptungrube. Sie werden morgen durch einen Streit zu Tode kommen. Es tut mir leid.“
„Dummes Geschwätz! Und dafür wollen Sie Geld haben? Na, meinetwegen.“ Natürlich glaubte ich ihr keine Sekunde ...

Am nächsten Abend bei Tante Othilie:
„Kommt, das muss gefeiert werden. Hier kriegt erstmal jeder ein Glas Sekt zum Anstoßen.“
Tante Othilie war in ihrem Element. Endlich wieder mal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Schwager Manfred, die Stimmungskanone, intonierte: „Hoch soll sie leben. Hoch soll sie leben ...“ Nicht schön, aber laut stimmten wir ein. Tante Othilie lächelte gerührt. Unbeeindruckt von unserer Gesangsdarbietung rasten die Zwillinge um den Tisch und spielten ihr Lieblingsspiel – „Wilde Sau“. Einer von ihnen hatte mein Mitbringsel auf der Nase. Jetzt stritten sich die beiden. Rangelten miteinander. Kamen an meinen Stuhl. Dieser kippte um. In dem verzweifelten Bemühen Halt zu finden ließ ich das Sektglas fallen und krallte mich in die Tischdecke. Was aber nichts nützte. Wie in Zeitlupe sah ich Sektgläser und Kaffeetassen umkippen und braune Seen sich auf der Tischdecke bilden. Das letzte, was ich mitbekam, war der zu einem großen O aufgerissene Mund von Tante Othilie, dann knallte ich mit der Schläfe an die Anrichte. Ein unerträglicher Schmerz durchzuckte mich und eine schwarze Masse breitete sich in meinem Hirn aus, die alles aus ihm verdrängte.
Als ich wieder sehen konnte, erblickte ich ein heilloses Durcheinander, untermalt von dem sirenenhaften Plärren der Zwillinge. Die Hälfte von Tantchens gutem Porzellanservice lag in Scherben am Boden. Ihre Eigentümerin lief händeringend umher und rief immerzu: „Oh Gott, oh mein Gott.“ Jemand telefonierte, anscheinend Schwager Manfred. Die anderen standen erstarrt um mich herum.
Nur einer nicht, ein bleicher auffallend magerer Mann, der sein Gebiss offen zur Schau trug und sich über mich beugte. Er war nicht eingeladen.
„Bist du ...?“, fragte ich. Er nickte.
Aber das hätte jedem passieren können. Ich glaube trotzdem nicht an diesen ganzen Wahrsagequatsch!

 

Hello Sturek,

schöne Geschichte, auch nett umgesetzt.!
Leider wird das Ende viel zu früh erkennbar, spätestens bei 'Jetzt stritten sich die beiden' ist die Lösung klar. Amüsant und deshalb dem Humor zuzuordnen ist sie wegen sprachlicher Einfälle wie 'Gelbe Zitronen, rote Tomaten, grüne Gurken. Braune Inder' oder auch 'musste wohl Sinti sein. Oder Roma?'.

Viele Grüße vom gox

 

Hallo,

danke für euer Feedback.
Schön, wenn die Story ein wenig unterhalten hat.
Dass der Erzähler stirbt, ist natürlich vorhersehbar und in der Geschichte so angelegt. Daran kann ich wohl nichts ändern. Die Pointe ist ja auch nicht, dass er stirbt, sondern dass er trotzdem nicht an die Prophezeihung glaubt.
Aber ihr habt sicher recht, dass die Art des Sterbens noch unerwarteter hätte sein können. Ich hab eine sehr einfache Lösung gewählt. Vielleicht fällt mir da noch etwas Originelleres ein.
Wie stirbt man durch einen Streit bei einer Geburtstagsfeier? Hmmm ... :-)

 

Hallo Sturek,

nette Geschichte, die du da geschrieben hast. War eine kurzweilige Unterhaltung, sie zu lesen. Keine Schenkelklopfer dabei, aber dezenter Wortwitz, der mir an einigen Stellen ein Schmunzeln entlocken konnte.
Was mir gefiel, war der sichere Stil, in dem die Story geschrieben ist. Was (auch) mir weniger gefiel, war der zu vorhersehbare Plot.
Hm, gute Frage, auf welche Arten man bei Geburtstagsfeiern so zu Tode kommen könnte. Bislang habe ich die noch alle irgendwie schadlos überstanden. Wie wäre es denn, wenn Tante Othilie plötzlich einen Infarkt bekommt, nach vorne sackt und mit dem Gesicht in die Geburtstagstorte fällt, woraufhin die brennenden Kerzen auf die Tischdecke fallen und... ja, was weiß ich denn... Denk nach :D

Detailanmerkungen:

Wieder das übliche bunte Gewimmel. Gelbe Zitronen, rote Tomaten, grüne Gurken. Braune Inder,
:lol:

Ob die Zigeunerin meinen Blick gespürt hatte, jedenfalls sah sie mich plötzlich aus Augen an, die an bodenlose schwarze Löcher erinnerten.
Nanu? Da fehlt doch was.
„Ob die Zigeunerin meinen Blick gespürt hatte, wußte ich nicht, jedenfalls...“
So in etwa?

Unmerklich nickte sie in meine Richtung.
Hm... ich sah, wie der Unsichtbare davonlief.
Besser „Kaum merklich“ oder „Leise“?
Wie von unsichtbaren Fäden gezogen ging ich langsam zu ihr hin und der Blick ihrer merkwürdigen Augen wollte mich nicht loslassen.
Meiner Meinung nach liest es sich hakelig. Ich würde statt des „und“ mindestens ein Semikolon setzen, eher aber noch einen Punkt.

„Hoch soll sie leben. Hoch soll sie leben ...“ Nicht schön, aber laut stimmten wir ein. Tante Othilie lächelte gerührt. Unbeeindruckt von unserer Gesangsdarbietung rasten die Zwillinge um den Tisch und spielten ihr Lieblingsspiel – „Wilde Sau“.
:D

Gruß,
Some

 

Hallo Somebody,

schön, dass dich die Story trotz fehlender Schenkelklopfer unterhalten hat. (Ich bewundere Leute, die sowas schreiben können.)
Danke für deine Detailanmerkungen.

"Unmerklich" - sowas schreibt man einfach automatisch, ohne nachzudenken, was man für einen Blödsinn verzapft.

"Ob die Zigeunerin..." damit wollte ich mal was anderes als den Konjunktiv probieren. Aber man soll ja auf seine Kritiker hören. Habe es geändert.

"Wie von unsichtbaren Fäden gezogen ..." hier bin ich mir nicht sicher, ob du recht hast. Ich lass es erst mal so.

Mal sehen, was mir noch zu dem Tod einfällt. Deine Idee läuft auf den berühmten "Funkenflug der Kuh Elsa" hinaus. Irgendwie so könnte es funktionieren.

Viele Grüße von Sturek

 

Moin Sturek,

Ich schließe mich den anderen an. Nette Geschichte für Zwischendurch. Ohne große Lacher aber durchweg ganz unterhaltsam. Die Pointe war früh erkennbar, aber nett serviert.

Gelbe Zitronen, rote Tomaten, grüne Gurken. Braune Inder, die elektronischen Schnickschnack verkauften.
Nach den Gurken täte ich ein Komma setzen. Dadurch würde der Gag mMn knalliger kommen (vom Timing her)
Also gut. Sie haben es nicht anders gewollt. Geboren sind Sie, als Uranus und Mars in Konjugation zueinander standen. Mars, der Planet des Zwistes und des Krieges. Uranus, der Planet des Todes. Und diese Planeten treten morgen wieder in Konjugation zueinander.
Da steckt mMn mehr Potential drin. Hier könntest du richtig vom Leder ziehen und alle pseudo-esoterischen Register ziehen. Laß sie irgendeinen Unsinn vom MArs im siebten Haus des Jupiter mit Aszendent Steinbock labern.
eine schwarze Masse breitete sich in meinem Hirn aus, die alles aus ihm verdrängte.
Schöne Beschreibung. Hat mir gut gefallen.

 

Hallo Gnoebel,

danke auch für deinen Kommentar.
Zu deinen Vorschlägen:

-Den Punkt in dem Satz "Gelbe Zitronen ..." durch ein Komma zu ersetzen geht leider nicht, da dann Zitronen, Tomaten und Gurken gleichberechtigt mit den Indern elektronischen Schnickschnack verkaufen würden. Aber ich habe den Punkt durch ein Semikolon ersetzt. So müsste es gehen

-Die Stelle mit der Prophezeihung noch mehr auszuschmücken, ist eine gute Idee. Hab ich gleich mal versucht und dabei noch die Zwillinge ins Spiel gebracht. -:)

Viele Grüße von Sturek

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom