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Handlesen
Ich wollte eigentlich nicht, aber dennoch ließ ich mich von meiner Frau überreden, noch einen kurzen Abstecher auf den Wochenmarkt zu machen. Ein bescheuerter Abschluss des Stadtbummels. Nun ja, Mann musste eben ab und zu Kompromisse eingehen. Und wir brauchten noch ein Geschenk für den morgigen Geburtstag von Tante Othilie. So jedenfalls die Begründung meiner Frau für ihr Vorhaben.
Ziellos ließen wir uns mit der Menge treiben.
Wieder das übliche bunte Gewimmel. Gelbe Zitronen, rote Tomaten, grüne Gurken; braune Inder, die elektronischen Schnickschnack verkauften. Vietnamesen hielten Sonnenbrillen feil.
Meine Frau war schon in der Menge verschwunden. Ich vertrieb mir die Zeit damit mir Tante Othilie mit einer dieser Brillen vorzustellen. Tantchen hinter Spiegelglas – ein Al Capone mit graumelierten Löckchen. Meine Laune besserte sich.
Da fiel mein Blick rein zufällig auf eine alte Zigeunerin, die hinter ihrem Stand mit esoterischem Klimbim auf Kunden lauerte. Ich erkannte Glückssteine, astrologische Tabellen mit Konstellationen der Planeten und Mandalas. Als ob die Zigeunerin meinen Blick gespürt hätte, sah sie mich plötzlich aus Augen an, die an bodenlose schwarze Löcher erinnerten. Kaum merklich nickte sie in meine Richtung. Meinte die mich? Ich sah mich um. Hinter mir stand keiner. Wieder sah ich zu ihr hinüber. Wieder dieses Nicken. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen ging ich langsam zu ihr hin und der Blick ihrer merkwürdigen Augen wollte mich nicht loslassen.
Als ich vor ihr stand, sagte sie mit knarrender Stimme: „Na, junger Mann“... Ich fühlte mich geschmeichelt ...“wie wär‘s mit einem Blick in die Zukunft? Das macht nur 5 Euro.“
Warum eigentlich nicht? Ich nickte.
„Geben Sie mir ihre Hand.“
Gehorsam streckte ich ihr meine Hand hin. Die Zigeunerin beugte sich über sie und starrte auf die Handfläche. Mit einem braunen Wurzelfinger zog sie irgendwelche Linien nach und murmelte vor sich hin. Ich verstand kein Wort, musste wohl Sinti sein. Oder Roma? Jedenfalls ging das eine ganze Weile so, für mein Gefühl viel zu lange. Irgendwas schien nicht zu stimmen, denn immer wieder zog die Alte mit ihrem Finger die Linien nach, als könne sie nicht glauben, was sie sah und brauchte Bestätigung durch ihren Tastsinn.
Langsam wurde es mir zu bunt. Ich entzog der Alten meine Hand.
„Na, was haben Sie denn nun herausgefunden?“
Mit einem undeutbaren Ausdruck im Gesicht sah sie mich an.
„Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen das sagen soll?“
„Raus mit der Sprache, sonst gibt’s kein Geld.“
„Also gut. Sie haben es nicht anders gewollt.
Ihre Hand hat die typische Feuerform - Sie wurden geboren im Zwillinge-Aszendenten, als Uranus und Mars in Konjugation standen. Mars, der Planet des Zwistes und des Krieges. Uranus, der Planet des Todes. Und diese Planeten treten morgen wieder in Konjugation zueinander. Das Verhängnis ist vorherbestimmt. Ihre Lebenslinie splittert sich am großen Marsberg auf und die Schicksalslinie versickert in der Neptungrube. Sie werden morgen durch einen Streit zu Tode kommen. Es tut mir leid.“
„Dummes Geschwätz! Und dafür wollen Sie Geld haben? Na, meinetwegen.“ Natürlich glaubte ich ihr keine Sekunde ...
Am nächsten Abend bei Tante Othilie:
„Kommt, das muss gefeiert werden. Hier kriegt erstmal jeder ein Glas Sekt zum Anstoßen.“
Tante Othilie war in ihrem Element. Endlich wieder mal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Schwager Manfred, die Stimmungskanone, intonierte: „Hoch soll sie leben. Hoch soll sie leben ...“ Nicht schön, aber laut stimmten wir ein. Tante Othilie lächelte gerührt. Unbeeindruckt von unserer Gesangsdarbietung rasten die Zwillinge um den Tisch und spielten ihr Lieblingsspiel – „Wilde Sau“. Einer von ihnen hatte mein Mitbringsel auf der Nase. Jetzt stritten sich die beiden. Rangelten miteinander. Kamen an meinen Stuhl. Dieser kippte um. In dem verzweifelten Bemühen Halt zu finden ließ ich das Sektglas fallen und krallte mich in die Tischdecke. Was aber nichts nützte. Wie in Zeitlupe sah ich Sektgläser und Kaffeetassen umkippen und braune Seen sich auf der Tischdecke bilden. Das letzte, was ich mitbekam, war der zu einem großen O aufgerissene Mund von Tante Othilie, dann knallte ich mit der Schläfe an die Anrichte. Ein unerträglicher Schmerz durchzuckte mich und eine schwarze Masse breitete sich in meinem Hirn aus, die alles aus ihm verdrängte.
Als ich wieder sehen konnte, erblickte ich ein heilloses Durcheinander, untermalt von dem sirenenhaften Plärren der Zwillinge. Die Hälfte von Tantchens gutem Porzellanservice lag in Scherben am Boden. Ihre Eigentümerin lief händeringend umher und rief immerzu: „Oh Gott, oh mein Gott.“ Jemand telefonierte, anscheinend Schwager Manfred. Die anderen standen erstarrt um mich herum.
Nur einer nicht, ein bleicher auffallend magerer Mann, der sein Gebiss offen zur Schau trug und sich über mich beugte. Er war nicht eingeladen.
„Bist du ...?“, fragte ich. Er nickte.
Aber das hätte jedem passieren können. Ich glaube trotzdem nicht an diesen ganzen Wahrsagequatsch!