Was ist neu

Hamelns Ratten

Mitglied
Beitritt
10.07.2003
Beiträge
1

Hamelns Ratten

Hamelns Ratten, Episode 1

Es war einmal eine Stadt...
Diese Stadt war unter dem Namen Hameln bekannt geworden, ein munteres Nest, welches sich die letzten vierhundert Jahre vom Kuhdorf zur Großstadt entwickelt hat. Es ist helllichter Nachmittag, Wäscheleinen hängen zwischen den Gassen, Hausfrauen gehen ihren Tätigkeiten nach, Männer arbeiten in Gebäuden und Kinder spielen draußen auf den Straßen, ein schönes Bild.
Es herrscht grade Markt in der Stadt, was bedeutet, dass Karren und Menschen aus allen umliegenden Dörfern kommen, um ihre Waren in Hameln zu verkaufen. Man hört Rufe in einigen Straßen, welche zum zentral gelegenen Marktplatz führen, wo sich viele Bürger Hamelns jetzt befinden, ansonsten ist es in der Stadt sehr ruhig.

Ein kleiner Punkt, sonst kaum bemerkbar, huschte durch die Straßen Es war eine Ratte, die aber wegen ihres kleineren Körperbaus eher wie eine Maus aussah. Ihr Fell war schneeweiß und deshalb war diese Ratte auch ständig bedroht: Weiße Rattenfelle galten in Hameln als Glücksbringer.
„Mist, Mist, Mist!“ hörte man sie in einer quiekigen, für Menschen unhörbaren Stimme fluchen „Ausgerechnet heute bin ich zu spät! Christophe wird mir das Fell über die Ohren ziehen!“ Sie trippelte weiter am Rand der Backsteingebäude entlang, immer auf der Hut vor Menschen, die ihrem Glück nachhelfen wollen. Dann verschwand sie in einer finsteren Gasse und tauchte erst einen Kilometer weiter entfernt in der Nähe des Marktes wieder auf. Vor dem Hauptteil des Marktes setzte sich die Ratte kurz auf die Hinterbeine, holte nach Luft und sah sich um „Entweder zu spät kommen oder durch den Menschenmarkt durch...“ sagte sie zu sich. Sie dachte nur kurz an den erzürnten Christophe, dann schauderte sie und machte sich zu den ersten Ständen auf.
Der Markt ist für Ratten Schlaraffenland und Todesfalle zugleich. Es gibt eigentlich immer etwas auf dem Boden, was sie verwerten können, allerdings stehen die Chancen auch sehr hoch, dass eine mutige (oder lebensmüde) Ratte schnell totgetreten wird. In beiden Fällen verlässt sie den Markt nicht hungrig.
Die Ratte -ihr Name war Grendian- wich im Laufschritt feindlichen Füßen aus. Hier und dort wurde ihr der Weg versperrt, auch roch sie immer wieder Hunde und manchmal sogar Katzen, aber zu Gesicht bekam sie keine. Wie sie so lief und nach oben schaute, um vor stampfender Bedrohung gewarnt zu sein, spürte sie auf einmal etwas Weiches unter ihren Tatzen. Sie sah herab und starrte erschrocken auf die Matschpfütze in der sie stand. Sie bemühte sich, war aber in der kurzen Zeit schon zu tief eingesunken. Zum Glück waren dort keine Menschen in der Nähe, sie hatte also genug Zeit, um sich...
Plötzlich spürte sie eine Erschütterung. Sie dreht ihren Kopf soweit sie konnte und sah dann den Karren, dessen Rad gradewegs auf sie zuhielt. Grendian versuchte sich zu befreien, doch es war hoffnungslos. Er wollte rennen, rutschte aus und sank sogleich noch tiefer ein. Das Wagenrad kam immer näher...
Panik ergriff Grendian, er schlug nun wie wild um sich und quiekte laut, doch niemand nahm seinen Hilfeschrei wahr. Das Rad warf nun einen Schatten auf ihn, Grendian schloss die Augen und hoffte auf ein Wunder. Mit einem Mal wurde er zur Seite gerissen, rollte, flog halb durch die Luft und stieß dann krachend gegen einen Stand. Als Grendian die Augen öffnete, sah er der Wagen wegfahren. Er wischte sich den Schlamm aus den Augen und schaute sich dann nach seinem Retter um „Gren, bist du ok?“ hörte er rechts neben sich. Es war eine Spitzmaus, die Grendian gerettet hat. Sie war nur ein wenig kleiner als Grendian, ihr Fell war (wenn man bis auf einige Matschflecken absieht) Schwarz, nur um den Ohren, den Pfoten und der Stirn herum war sie Weiß.
„Ja“, sagte Grendian und betastete sich nach Verletzungen „Ja, ich bin in Ordnung. Danke, Phil, du hast mir das Leben gerettet!“
„Keine Ursache“, Phil schüttelte sich etwas Schlamm ab „Aber vor Cristophe werde ich dich nicht retten! Ich werde schon mal vorgehen und ihn ein wenig aufhalten, das sollte dir genug Zeit geben, dich sauber zu machen.“ „Geht klar.“ Antwortete Grendian und sah Phil hinterher, bis er verschwand.
Dann suchte er sich einen Brunnen in der Nähe und wartete, bis die Bahn frei war. Er sprang ins Wasser, paddelte ein wenig umher, zog sich am Rand des Brunnens hoch, sprang hinunter und schüttelte sich dann so lange, bis sein Fell wieder einigermaßen trocken war „Das muss reichen“, sagte er zu sich selbst „Mehr geht nicht.“
Grendian erreichte das Ende des Marktplatzes. Er schien nach etwas zu suchen, dann sah er ein kleines Loch unter dem Gebäude der Schneiderergilde und schlüpfte hinein.

Eine weitere Ratte stand im Gang. Sie schien so etwas wie ein Wächter zu sein „Hallo, Mattheus“, begrüßte Grendian die Ratte „Sind schon alle da?“
„Ja, Gren. Du solltest dich beeilen! Sie sind im Sitzungsraum.“ Und dann rief er Grendian noch hinterher: „Und sei um Rattes Willen leise!“
Grendian schlich so schnell er konnte durch die kleinen Gänge. Nach ca. einer halben Minute erreichte Gren eine kleine Klapptür, auf der in einer schlechten Handschrift stand: „Komision des Auf- un Widerstants“ Gren lächelte gezwungen. Der Christophe ist vielleicht ein genialer Stratege, aber man sollte ihm nie wieder einen Stift in die Tatze drücken, dachte er sich.

Der Leser wundert sich jetzt vielleicht, warum die Ratten hier so schlau dargestellt sind, warum sie schreiben und sogar produktiv und gemeinschaftlich denken können. Nun, Ratten sind nun mal sehr schlau, sie haben auch begriffen, dass die Menschen sie wahrscheinlich aus Neid ausrotten würden, wenn sie dahinter kämen. Haben Sie jemals eine schreibende Ratte gesehen? Sehen Sie, so gut sind sie! Wollen Sie den Grund dafür wissen, warum Ratten gegen jedes Rattengift eine Immunität entwickeln? Hochbezahlte Bio-Chemiker.

Grendian linste durch den Türspalt und sah in den Versammlungsraum. Viele Ratten und auch einige Mäuse saßen, lagen und standen auch teilweise auf dem Boden verteilten Decken. Es waren ziemlich viele anwesend, ungefähr fünfzig, schätzte Grendian. Weiter Vorne im Raum war eine kleine Bühne angebracht (Sie bestand aus einer Zwischenwand eines Schranks) und auf der Bühne lehnte sich eine große dunkelgraue Ratte auf ein improvisiertes Podium (Eine Streichholzschachtel) und schwang lauthals Reden. Grendian schlich geschickt in den Raum hinein und setzte sich unbemerkt auf eine Decke. Dann spitzte er die Ohren und hörte zu:
„... Und deswegen sage ich euch: Wir haben schon viel zu lange unter den Menschen gelitten! Obwohl wir klar in der Überzahl sind, verdrängen sie uns aus unseren Lebensräumen, jagen uns, scheuchen uns mit Katzen und was nicht sonst noch alles! Haben wir denn nicht auch ein Recht zu leben?“ er richtete diese Frage an die Versammelten, welche mit einem Gemurmel antworteten. Es klang so ähnlich wie ‚Ja’ „Ich wusste es! Wir leiden Hunger! Die Menschen verschanzen sämtliche Vorräte in Speisekammern, wenn wir es schaffen, einen Tunnel zu graben, so ist der Raum am nächsten Tag mit verlockenden Käsefallen gespickt! So kann das nicht weitergehen! Die Menschen feiern ein Fressfest nach dem anderen und wir ernähren uns von Müll! Habe ich nicht Recht?“ Diesmal war das Gemurmel etwas lauter und klarer. Anscheinend sind die ersten aufgewacht, dachte Grendian und konnte sich ein schmales Grinsen nicht verkneifen. „Keiner von uns ist mehr in Hameln sicher!“ begann die Ratte erneut „Wie ich schon sagte, die Menschen lauern uns mit Fallen auf, sie hetzen uns, jagen uns, lassen uns verhungern und lassen dann noch nicht mal die Leichen unserer Brüder und Schwestern verschont, nein, sie ziehen ihnen den Pelz ab, verarbeiten sie dann zu Kleidern, die sie an ihrem Leib tragen oder behalten sie als Glücksbringer!“ Jetzt zeigte er mit einer Pfote auf Grendian und plötzlich rutschte ihm das Herz in die imaginäre Hose, als er an den Markt und die vielen Füße dachte „Sie tragen unser Fell und verspotten und verhöhnen uns, als ob der Tod unserer Familien nicht schon schlimm genug wäre!“
Ein Schluchzen erklang in der Mitte des Raumes und die Anwesenden wurden still. Einer braunen Maus, einer weiblichen, rollten die Tränen aus den schwarzen Augen. Sie war dem Zusammenbruch nah „Es... Sie...“ begann sie „Vor einigen Monaten war mein Bruder von Feldern, einem Nachbardorf, hierher unterwegs.“ Sie schniefte noch ein paar Mal, doch sie fasste sich wieder „Er- er wusste nicht, dass die Menschen hier so aggressiv gegen uns vorgehen, in Feldern ist alles viel friedlicher, wisst ihr. Er kam des nachts hier an und bekam wahrscheinlich noch Hunger, bevor er mich besuchen konnte. Er schlich sich also in eines der Lagerhäuser und wollte sich nur ein Stück Speck holen, doch dann sah er dieses große Stück Käse in der tödlichen Falle und dann...“ Die Maus brach erneut in Tränen aus, einige Ratten trösteten sie „Na, und am nächsten Tag hat meine Nachbarin meinen Bruder in der Falle gefunden“, fuhr sie zitternd fort „Sie holte mich und als ich dann dort war, habe ich gesehen, wie eine Katze seinen toten Laib gefressen hat!“ Sie konnte nicht mehr und lies sich einfach fallen, zwei Ratten fingen sie auf und trugen sie hinaus.
„Da seht ihr’s!“ rief die Hauptratte „Die Menschen haben es zu weit getrieben, so etwas darf sich nicht wiederholen!“ Er holte einen Plan hinter der Streichholzschachtel hervor „Mit diesem Plan können wir unseren Rachefeldzug gewinnen! Wir greifen strategische Punkte der Menschen gleichzeitig an und lassen ihnen keine Chance, sich zu wehren! Seid ihr bereit, es den Menschen heimzuzahlen?!“
Alle Mäuse und Ratten (Und sogar ein Eichhörnchen, wenn man den Geschichtsbüchern trauen darf) standen auf und grölten wie aus einem Mund „Jaaaa!“
„Dann nehmt mich als euren Führer, ich werde euch mit diesem Plan zum Sieg verhelfen!“
Die Zuhörer applaudierten und Pfiffe erklangen. Es wurde noch eine sehr lange Nacht.

Episode 2

Der Plan war simpel, aber effektiv: Zum gleichen Zeitpunkt sollten verschiedene Orte in ganz Hameln angegriffen werden, zum größten Teil Vorratskammern. Jedes Nahrungsmittel in Hameln sollte angefressen werden, um den Menschen einen Schrecken zu versetzen. Christophe, der Anführer der, wie er es nannte, Mission „Blitzangriff“ drückte es so aus: „Die Menschen werden nicht wissen wie ihnen geschieht. Sie werden herumlaufen wie aufgescheuchte Hühner und sich vor der angebissenen Nahrung ekeln! Das ist unsere Chance, wir greifen an diesen Punkten an und dann haben wir so gut wie gesiegt!“
Alle waren mit dem Plan einverstanden, denn es sollte eigentlich keine nennenswerten Probleme geben. Warum ist das nicht früher jemandem eingefallen?
Nur Phil und Grendian fanden die Idee nicht sonderlich berauschend. Die weiße Ratte schwieg sich aus und die schwarze Spitzmaus grummelte vor sich hin. Phil hatte natürlich wie alle anderen Artgenossen so seine Probleme mit den Menschen, aber dafür hatten die Menschen auch Probleme mit ihm. Es glich sich aus, er sah keinen Grund dafür, plötzlich die Herrschaft über die Menschen zu gewinnen. Sie jagen uns, dafür bauen sie aber Häuser in denen wir leben können und fressen dann und wann ihr Futter. Ja, Mäuse, Ratten und Menschen standen auf einer Ebene.
Grendian hingegen machte sich darum keine Sorgen, eher um die Tatsache, dass Menschen schlauer sind, als Christophe dachte. Mausefallen waren kein großes Problem, nur die dümmsten fallen darauf rein, aber sollte ein Mensch sie bemerken und er hat grade einen Besen in der Hand, dann sieht es finster aus.
Christophe blieben die beiden nicht unbemerkt und da er die angeborene Gemeinheit eines Chefs hat, rief er die beiden zu sich.
In seinem privaten Zimmer waren jetzt nur noch ein paar Ratten, -Phil ausgenommen- die Gruppenleiter der Angriffe. Leider gibt es keine Ledersessel für Ratten, deswegen setzte sich Christophe auf ein Lederkissen.
„Ihr beide“, begann er und kam damit gleich zur Sache „Ihr beide leitet eins der wichtigsten Unternehmen. Ich kann mich doch auf euch verlassen, oder?“
„Nun, sicher, Chris“, antwortete Grendian, der es bedauerte, kein Kissen zu haben „Was ist das denn für ein... Unternehmen?“
Christophe beugte sich nach Vorn und deutete auf Grendian „Es heißt Christophe, klar?“
„Ja, Christophe.“
„Gut.“ Die dunkelgraue Ratte lehnte sich wieder etwas zurück und presste die Krallen der Vorderpfoten aneinander „Grendian Fisk, du leitest den Angriff auf die Molkerei.“
Grendian und Phil sprangen auf.
„Die Molkerei?“ riefen sie wie mit einer Stimme „Sag mal, spinnst du? Dort hat’s nicht nur eine Katze sondern gleich vier! Wenn dort nur eine Ratte hineingeht, ist sie totes Fleisch! Nicht mal ausgehungert würde ich dort hineingehen, ausgeschlossen!“
„Eine“, sagte Christopher knapp
„Eine was?“ fragte Phil automatisch
„Es ist nur eine Katze dort. Und das ist noch nicht einmal sicher. Denkt ihr etwa, ich schicke meine Männer in den Tod? Nein. Wie ihr vielleicht wisst, hat die Molkereibesitzerin vier Katzen, drei weibliche und eine männliche. Nun, ein Zufall wollte es, dass die drei Katzen momentan schwanger sind. Unser El Catro trieb es ziemlich wild in der Vergangenheit.“ Christophe zwinkerte, doch die Minen der anderen blieben weiterhin stocksteif. Etwas gereizt erzählte er weiter: „Von denen geht also keine Gefahr aus. Und auch Katzen können nicht 24 Stunden am Tag wachsam sein, es besteht also eine relativ große Chance, dass ihr keinem einzigen Rattenfresser begegnen werdet.“
Grendian fiel eine Last von den kleinen Schultern. Zumindest das wäre geklärt.
„Schön, Grendians Rolle wäre jetzt geklärt“, warf Phil ein „Und was soll ich machen?“
Christophe setzte einen scharfen Blick auf und musterte Phil. „Du, Phillip“, sagte er langsam „Du kümmerst dich um Grendians Sicherheit. Du wirst ihn beschützen, zur Not mit deinem Leben. Wenn er stirbt, dann töte ich dich höchstpersönlich.“
Ein Hauch des Entsetzens breitete sich in Phil aus. Es stand nicht etwa Sorge um Gren in Christophes Worten, nein. Phil hatte schon seit längerer Zeit die Vermutung, doch er konnte sich nicht sicher sein. Bis jetzt. Christophe verabscheute ihn, das war jetzt gewiss. Dieser kühle Blick, als wäre Phil für ihn ein Nichts, nicht einmal wert genug, um der Ratte die Stiefel sauber zu lecken. Wenn Ratten Stiefel hätten. Aber vielleicht war dieser Hass nicht alleine gegen ihn gerichtet. Immer wieder fiel es ihm auf, wie Christophe anderen Arten unrespektvoll gegenüber trat, sich nur bei angesehenen Mäusen oder Eichhörnchen benahm. Und natürlich bei Ratten. Und dieser Bodyguard-Job... wahrscheinlich war er nur dazu gedacht, um ihm irgendwie zu schaden, deswegen betonte er auch, dass er sein Leben für Grendian einsetzen sollte. Natürlich würde er das, schließlich waren sie Freunde und das wusste Christopher auch! Phil suchte nach einem geeigneten Wort für dieses Handeln und denken, etwas, dass die Menschen ab und zu benutzten, doch Phil hatte es vergessen.
Sie verabschiedeten sich, beziehungsweise verabschiedete sich nur Grendian. Phil verließ schnell und stillschweigend das Zimmer.

Grendian inspizierte seine Truppe. Es war ein recht lockerer Haufen, doch sie schienen alle trainiert und dem Tode nicht nur einmal entronnen zu sein. Grendian sah keine vertrauten Gesichter, was ihn erleichterte. Eine graue Hausmaus bohrte sich in der Nase, ein Anblick der viele Tierzeichner in den Wahnsinn oder ins totale Glück gestoßen hätte. Grendian drehte sich schlagartig zu der Maus um
„Du da!“ rief er „Wie heißt du und was machst du da?“
Die Maus hörte auf zu bohren.
„Ralf“, antwortete Ralf „Und wenn du nicht siehst, was ich gemacht habe, dann brauchste wohl ’ne Brille, haha.“
Auch wenn die anderen Mäuse und Ratten keine direkten Bekannten von Grendian waren, so hatten sie doch mindestens schon von ihm gehört. Man erzählte sich, dass Gren schizophren war: Einerseits ein liebenswürdiger Kerl, der keiner Fliege etwas zu leide tun könnte, zum anderen ein ausgewachsener Großkotz. Nun, die Gerüchte stimmten nicht, Grendian war in der Tat ein liebenswürdiger Kerl, er hat nur die Marotte, dass er Respektlosigkeit gegenüber Höhergestellten als eine Art Todsünde betrachtete. Doch meistens kam er wieder zur Vernunft, bevor seine Pfote ernste Schäden verursachte.
Auf jeden Fall war Gren berühmt-berüchtigt, darum verklang Ralfs Lachen auch einsam im Raum.
„Haha“, sagte Grendian humorlos.
„Haha“, machte Ralf. Ein Kreis wuchs um ihn herum. Sicherheitsabstand.
„Ja, haha“
„Hah-“
„Halt endlich die Klappe!“ schrie Grendian „Hast du überhaupt nur eine Ahnung, wer ich bin und wie unsere Mission aussieht?“
„Nun“, begann Ralf
„Natürlich weißt du es nicht, denn du bist die Maus mit dem niedrigsten IQ hier im Umfeld!“ unterbrach Grendian ihn „Was wir hier brauchen ist Disziplin! Hast du schon mal einer Katze ins Auge gesehen? Hast du es?“
„Ich-“
„Selbst wenn du es schon getan hast, es war pures Glück, dass du davongekommen bist! Du würdest beim nächsten Mal wahrscheinlich wieder popeln und hoffen, dass du die Katze mit deiner Vulgarität und deinem blöden Lachen verscheuchen könntest! Und wahrscheinlich würdest du es wirklich schaffen, denn so eine vertrottelte Maus würde ich nicht mal aus Mitleid fressen!“
Ralf schwieg. Ihm fiel nichts mehr ein.
„Gut, dann wäre das ja geklärt.“ Die Schärfe verschwand aus Grendians Gesicht. Erst jetzt bemerkte er, dass Phil Schweißperlen im Gesicht standen. War er schon immer so?, dachte Philipp.
„Dann kann es ja endlich losgehen!“ sagte Grendian motivierend „Alle auf eure Positionen! Jetzt wird die Molkerei eingenommen!“

Es war eine sternklare Nacht. Da den Ratten weder Flugzeuge noch Fallschirme zur Verfügung standen, krabbelten sie auf gewöhnliche Art durch einen Geheimtunnel in die Molkerei, andernfalls wäre es eine perfekte Möglichkeit für einen Flugeinsatz gewesen.
Phil öffnete eine kleine, für das menschliche Auge unsichtbare Tür in einer Holzleiste im Lager der Molkerei. Die offenen Löcher waren immer nur Tarnung, um die Menschen abzulenken. Die richtigen Ausgänge führten zu einem unterirdischen Tunnelnetz, welches alle Häuser in Hameln miteinander verband. Die Ablenkungstunnel beschränkten sich auf das Innere eines Hauses, dort sind auch meistens Notvorräte gelagert, solange da schon keine Mäuse- oder Rattenfamilie wohnte.
Grendian lugte um die Tür herum und wagte ein paar Schritte. Er gab ein Handzeichen, dass bisher keine Gefahr droht. Dann durchquerte er den ganzen Raum und gab abermals Handzeichen. Nun konnte der Überfall beginnen. Auf Hunderten kleiner Pfoten trippelte der Angriffstrupp ins Lager hinein. Als sich ihre Augen ans Halbdunkel gewöhnten, was bei Mäusen und Ratten recht schnell ging, gingen ihnen selbige über: Fünfzig, ach was, sechzig Regale, von oben bis unten mit Käse gefüllt! Das Aroma jedes einzelnen kroch in ihre kleinen Nasen und zog sie mystisch auseinander, doch bevor sie ihre Zähne in das gelbe Glück schlagen konnten, rief Grendian: „Und denkt daran! Nur anfressen! Wenn ihr euch übernehmt, können wir unsere Mission nicht erfüllen!“
Es war ein gigantisches Schmatzen in der gesamten Stadt zu hören, verursacht durch abertausende Ratten und Mäuse in ganz Hameln. Bald darauf folgten Schreie, als Menschen auf die Geräusche aufmerksam wurden, doch dadurch wurde der Fresston nicht leiser. Draußen auf der Straße torkelte ein älterer Herr in einem schwarzen Mantel sturzbetrunken zu einem Lagerfenster. Er rieb sich die Augen, säuberte sich die Ohren, fasste sich an die Stirn um zu fühlen, ob er Fieber hat. Danach beschloss er mit dem Trinken aufzuhören und so schnell wie möglich heimzukehren.
Im Lager nahm das Fest langsam gewaltige Ausmaße an. Die Mäuse und Ratten warfen Käsestücke hoch und fangen sie mit dem Mund wieder auf, fraßen Kunstwerke in den Käse, spielten provisorisches Gold mit dem löchrigen Käse und hatten auch sonst eine Menge Spaß. Sie achteten schon lange nicht mehr auf die Geräusche, die sie verursachten.
Phil und Grendian sahen besorgt zu.
„Meinst du, das war genug?“ fragte Grendian „Alle Käse sind angefressen.“
„Keine Ahnung, ich bin kein Cheforgan“, antwortete Phil
„Jetzt sei nicht sarkastisch. Aber es ist genug“, er formte die Pfoten am Mund zu einem Trichter zusammen und rief „Es ist genug! Wir haben unsere Mission erfüllt! Wir müssen verschwinden!“
Mäuse und Ratten wurden schwerfällig, aber sie kamen dem Befehl nach. Sie waren satt und das alleine zählte. Sie machten sich auf dem Weg zum Loch.
Plötzlich zitterten Grendian Schnurrhaare. Was zur...?
Er sah Phil an, Phil schaute entsetzt zu ihm. Er spürte es auch.
Ohne ein Wort zu sagen krabbelten sie das Regal runter. Sie näherten sich der großen Menschentür. Die Erde vibrierte leicht.
Grendian sah zur Tür, durch die die Mäuse und Ratten hinausgingen. Es waren noch viel zu viele drinnen!
Er schaute durch den Türspalt. Entsetzt stieß er sich ab und zerrte Phil mit sich.
Er kommt!
Er informierte die Mäuse- und Rattenschlange. Sie sollten sich beeilen, doch es war zu spät. Ein Schatten schlich durch die Tür hindurch.
Der Angriffstrupp brach in Panik aus. Einige konnten sich noch durch die Tür hindurchquetschen, der Rest stob auseinander.
Grendian stand nun ganz alleine im Raum, er wusste nicht, was er tun sollte. Er hätte es nicht zugegeben, aber er ist noch nie einer Katze begegnet. Seine Beine bewegten sich nicht.
Er sah sich zitternd um, doch überall gab es nur Schatten. Lediglich ein kurzen Mauzen des Katers gab dessen Position preis. Nichts geschah. Wo war er?
Wieder drehte Grendian sich um. Und er sah, wie der graubraune Kater auf ihn hinabstarrte. Er saß eine Stufe weiter oben in einem Regal auf einem angefressenem Käse. Und starrte.
„Oh nein“, flüsterte Grendian. Damit war das Stichwort gegeben, die psychischen Gewichte an seinen Beinen lösten sich und er lief los. Gleichzeitig sprang der Kater auf ihn zu. Grendian sah zurück, berechnete schnell den Winkel und stoppte. Der Kater landete direkt über ihm, allerdings knapp außerhalb der Reichweite der Vorderpfoten. Das Fell des Katers drückte sich auf Grendians Rücken. Er bekam keine Luft mehr.
Er zog sich nach Vorne und bekam eine Hinterpfote des Katers zu fassen. Dieser drehte sich abrupt um, als er die Ratte spürte. Er drehte sich weiter und weiter, in der Hoffnung, dass dieses Ding an seiner Pfote endlich abflöge. Die Zentrifugalkraft drückte Grendian nach Außen. Er spürte, wie das Leben an seinen Augen vorbeizog, aber er hatte zu viel Angst, um sie zu öffnen. Dann wurde es zu viel, er ließ los, doch den Bruchteil eines Moments später hielt er sich wieder fest, dieses Mal am Schwanz des Katers. Er lief los. Die Luft zischte an Grendian vorbei. Er öffnete ein Auge, doch ausgerechnet in dem Moment, als der Kater sich wieder drehte. Langsam wurde Gren übel. Er wusste nicht, woher er die Kraft nahm, aber er zog sich den Schwanz immer weiter hoch. Der Kater sprang, drehte sich, rannte durch offene Regale und stieß Käse während des Rennens um, nur um den Quälgeist an seinem verlängerten Rücken loszuwerden. Grendian sah aus dem Augenwinkel, wie sich weitere Ratten durch die Tür drängten. Der Kater kam plötzlich auf eine Idee, was bei Katzen aus der Sicht der Mäuse ziemlich selten war, und rollte sich einmal über dem Boden. Grendian war geistesgegenwärtig genug, um kurz loszulassen und dann gleich wieder den Schwanz zu packen, so wäre er geplättet worden. Heldenmut umfasste Grendian. Wenn er jetzt weglaufen würde, richtete sich die Aufmerksamkeit des Katers automatisch auf die Mausetür und dann wäre es aus für sie gewesen. Also hielt sich die kleine weiße Ratte weiterhin am Schwanz fest. Die Katze lief weiter.
Nun waren schon mindestens zwei Minuten vergangen. Grendian sah sich kraftlos um. Seine Truppe war verschwunden.
Doch wenn er jetzt losließe... Er hat nicht mehr genug Kraft, um wegzulaufen. Dann war es wohl vorbei. Nur noch ein Wunder konnte ihm helfen. Oder ein katzenhassender Hund.
Der Kater lief jetzt mit Höchstgeschwindigkeit, denn er merkte, dass der Druck am Schwanz leicht nachließ. Er lief seitlich auf eine kleine Anrichte vorbei, die dafür gedacht war, Käse auf ihr anzuschneiden, damit er gekostet werden kann. Schwere Holztüren waren in Knöchel- bis Hüfthöhe an Angeln angebracht.
Grendian hatte seine letzte Kraft verbraucht. Seine Pfoten lösten sich vom graubraunen Fell. Er fiel und während des Aufprallens hörte er ein gedämpftes Hau Ruck!
Der Kater, noch nicht zum bremsen gekommen, rannte weiter. Eine Holztür der Anrichte schlug auf und traf den Kater mitten im Gesicht. Von der Wucht prallte er mit dem Kopf zurück und schlug ihn am Boden auf.
Einige Sekunden lang war es still, dann ertönten Jubelrufe aus der Anrichte. Ratten und Mäuse liefen aus der Anrichte, beglückwünschten sich. Die meisten konnten es noch gar nicht fassen: Sie hatten einen Kater besiegt!
Einige Ratten stellten sich auf den leblosen Körper des Katers, spuckten ihm in die geschlossenen Augen, traten und beschimpften ihn. Andere, unter ihnen Phil, halfen Grendian.
„Alles in Ordnung mit dir?“ fragte er. „Ja“, Grendian hustete und drehte sich auf den Rücken. Irgendwo in seinem Körper knackte etwas „Ich bin in Ok. Nur etwas erschöpft.“ Er machte Anstalten, aufzustehen, fiel aber sofort wieder hin. Phil hielt ihn fest. Er warf sich den viel größeren Grendian über den Rücken und ging langsam zum Ausgang. Die anderen Mäuse und Ratten folgten ihm.
„Hast du dir das ausgedacht?“, meldete sich Grendian, als sie die Tür erreicht hatten.
„Ja“, antwortete Phil und öffnete die Tür „Die Chance, dass es klappen könnte war aber extrem niedrig. Wir mussten halt darauf hoffen, dass der Kater am Schränkchen vorbeilief, sonst wär’s Sense für dich gewesen. Ich dachte zuerst daran, uns einfach auf den Kater fallen zu lassen und ich dann zu bekämpfen, aber das war zu gefährlich. Am Ende wären noch mehr gestorben. Ich konnte die anderen nur überreden, weil sie in der Anrichte sicher waren.“
„Nein“, stöhnte Grendian „Nein, das hast du gut gemacht. Zur Not wäre ich für euch gestorben!“
Phil antwortete nicht.
„Phil“, sagte Grendian, als er als erstes in den Tunnel stieg „Danke.“
Phil grinste „Keine Ursache, Kumpel.“
Die letzte Ratte schloss die Tür.

Episode 3

Grendians Truppe wurde königlich empfangen, vor allem aber Grendian selbst. Gerüchte sprachen sich im Untergrund schnell herum, auch wenn immer wieder Sachen hinzuerfunden wurden. So wurden aus dem einem Kater auf einmal vier und Grendian hat nicht etwa die ganze Zeit verzweifelt um sein Leben gebangt, sondern hielt seinen Kameraden mutig den Rücken frei, während er mit den Katzen gleichzeitig kämpfte. Phils lebensrettende Idee blieb unerwähnt.
Grendian versuchte noch, die Wahrheit wieder ins rechte Licht zu rücken, doch Phil brachte ihn davon ab.
„Sie halten die Lüge jetzt schon für die Wahrheit, du kannst nichts mehr daran ändern“, sagte er „Außerdem warst du ja auch sehr mutig. Undank ist halt der Welten Lohn, ich komm’ schon damit klar.“
Stunden später betrat Christophe (Natürlich ohne anzuklopfen) mit einer Eskorte aus zwei schwarzen Ratten in Grendians Zimmer, wo sich dieser grade ausruhte.
„Grendian, Grendian“, sagte er heiter „Was muss ich da hören? Vier Katzen hast du mit einem Zahnstocher umgebracht, während deine Kameraden flüchteten? Unglaublich.“
„Hör auf damit“, sagte Grendian verschlafen und richtete sich auf „Davon ist kaum etwas wahr. Außerdem hat mich letztendlich Phil gerettet, aber dafür interessiert sich anscheinend keiner.“
Christophe sah sich in Grendians Zimmer um. Er war schon seit Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen. Es war eine kleine, doch gemütliche Stube. Es wirkte so, als hätte eine Großmutter die Einrichtung übernommen. Überall gab es altes Mobiliar, ein Ohrensessel stand vor einem Tischchen. Und alles war aufgeräumt. Christophe musste die Küche nicht betreten, um zu wissen, dass das Geschirr auf Hochglanz poliert war. Soweit er über Grendian wusste, war dieser immer noch ledig, konnte aber trotzdem Kochen. Christophe war fasziniert. Diszipliniert, loyal, selbstständig, freundschaftlich, gehorsam. Die ideale Ratte „Jaja, guter alter Phil“, sagte er dann „Hat man ihn doch tatsächlich vollkommen vergessen. Ich werde mich bald mal um ihn kümmern.“
„Das ist sehr nett von dir. Er hatte in letzter Zeit immer wegen irgendetwas gelitten, es wäre schön, wenn das endlich aufhören würde. Nun, wenn es dir nichts ausmacht, ich möchte mich weiter ausruhen.“
„Kein Problem.“ Christophe drehte sich um und war schon halb aus der Wohnung hinaus „Gute Nacht.“
Die Tür fiel ins Schloss.
„Gute N-“, sagte Grendian, zuckte dann mit den Schultern und legte sich wieder schlafen.

Am nächsten Tag stürmte Phil in Grendians Zimmer und hielt eine Zeitung in der Hand.
„Gren! Gren!“
Grendian blinzelte „Wasn los? Kannst nich’ ’n bisschen leiser sein?“
„Du bist auf der Titelseite der Zeitungen!“ rief Phil, ohne leiser zu werden „Und du sollst einen Orden bekommen!“
„Schön, und jetzt lass mich...“ Grendian hatte sich schon weggedreht, da wurde er erst den letzten Worten bewusst. Blitzartig sprang er auf „Einen WAS?“
„Einen Orden! Jetzt sofort!“ Phil griff nach Grendians Schwanz und zog ihn hinaus „Komm!“
Grendian hielt sich am Türrahmen fest „Warte, warte! Ich muss mich doch erst frisch machen! So kann ich doch nicht raus gehen!“
Ein paar Minuten vergingen, dann liefen die beiden zu Christophe. Er blickte von ein paar Papieren auf.
„Ah, da ist ja unser Held“, sagte er
„Was ist los, Christophe? Warum so plötzlich einen Orden?“ fragte Grendian
Christophe legte die Papiere bei Seite „Das ist doch ganz offensichtlich. Die Leute haben einen Helden, jemanden, zu dem sie nun aufblicken konnten und der Kindern ein Vorbild ist. Die Leute würden mich umbringen, gäbe ich dir keinen Orden. Mach dich schon einmal bereit, in einer Stunde startet die Verleihung in der Ratshalle.“
Christophe hob die Papiere wieder auf. Nach einigen Sekunden sah er zum von der Überraschung gelähmten Grendian „Was ist denn noch?“
Grendians Mund öffnete und schloss sich einige Male, bevor er einen Ton hinausbrachte „Aber die Ratshalle! Die Ratshalle hat Platz für einhunderttausend Ratten und Mäuse!“
„Ja und?“ fragte Christophe im Plauderton „Ist das irgendein Problem?“
„Nun, äh, nicht grade ein Problem, aber...“ Christophe stoppte
„Aaah“, sagte Christophe wissend „Unser Nationalheld hat Lampenfieber! Aber das wird schon, immerhin hast du eine Stunde Zeit, um dir eine Rede auszudenken und zu proben. Und jetzt geh endlich!“
Grendian und Phil verließen das Zimmer. Grendian war jetzt so etwas wie der Anführer der Ratten geworden, darum wohnte und arbeitete im rattischen Rathaus, einer recht großen Höhle in der Nähe des menschlichen Rathauses.
Grendian freute sich auf den Orden, war andererseits aber schrecklich aufgeregt. Er plapperte die ganze Zeit vor sich hin, ohne zu bemerken, dass Phil gar nicht oder nur knapp antwortete. Er war geschockt. Christophe hatte nur mit Grendian geredet, Phil hatte er nicht einmal bemerkt! Langsam trieb er es zu weit. Wenn er etwas gegen Phil hatte, dann soll er es doch endlich sagen.
Grendian improvisierte eine Rede und er probte eine zeitlang. Dann liefen die beiden zur Ratshöhle. Und wirklich, die Höhle war bis oben hin mit neugierigen Augenpaaren gefüllt, die den Töter von inzwischen elf Katzen sehen wollten. Grendians Herz schlug jetzt noch höher als am vergangenen Tag, wo er am Katerschwanz hing. Wenn er sich für eine Situation entscheiden könnte, würde er jetzt liebend gern in die Molkerei gehen und elf Katzen töten.
Christophe klopfte ihm auf den Rücken „Keine Angst“, sagte er „Siehst du die Fässer da hinten? Ich habe für freien Getränkeausschank gesorgt. Man wird dir zujubeln, selbst wenn du ihnen das Märchen von der Zauberratte erzählen würdest.“ Er lachte kurz über seinen eigenen brillianten Humor, dann sagte er „Es wird Zeit. Ich gehe zum Podium, du kommst, wenn ich dich aufrufe.“
Und so tat er es. Er hielt eine Rede über die Tapferkeit Grendians und der Ratten im Allgemeinen, erzählte davon, dass die Menschen sich ihnen nun endgültig beugen müssten. Er erntete tosenden Applaus. Dann rief er Grendian.
Dieser stolperte fast zum Podium und lächelte gezwungen. Die Halle war dunkel ausgeleuchtet, so dass er nur die vordersten Reihen sehen konnte. Immerhin, dachte er, Christophe denkt mit.
Ab diesem Zeitpunkt übernahm die Aufregung Grendians Bewusstsein. Er konnte sich später nur daran erinnern, dass Christophe etwas über seinen Mut erzählte und dass er hoffte, dass alle Ratten nun so werden. Dann klammerte er den Orden an Grendians Fell. Applaus. Grendian trat zum Podium. Er wusste nicht mehr, ob er da den geübten Text sagte oder ob er nur stammelte, auf jeden Fall ertönte wieder donnernder Applaus. Dann war alles vorbei.

Mehrere Tage vergingen seitdem. Die Menschen leisteten mehr Widerstand, als die Ratten erwartet hatten, doch im großen und ganzen hatten sie die Kontrolle erlangt. Viele Gebäude standen bereits leer, auch das Rathaus. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis alle Menschen die Stadt verließen. Grendian hatte viele Missionen absolviert und bekam immer mehr ansehen, er wurde sogar General. Er konnte es noch immer nicht fassen, so glücklich war er. Nur Phil sah er immer seltener, das machte ihn wiederum traurig.
An einem Tag rief Christophe Grendian wieder zu sich. Grendian öffnete die Tür des Büros und trat ein.
„Ah, Grendian“, sagte Christophe. Er hatte ihn anscheinend schon sehnsüchtig erwartet: Nirgendwo lag auch nur ein Stück Papier, wie doch sonst immer „Setz dich.“
Er setzte sich.
„Nun, ich möchte nicht um den heißen Brei herumreden: Hast du schon etwas von den FF gehört?“
Grendian dachte angestrengt nach, dann fiel es ihm wieder ein „Die FF ist doch eine Untergrundorganisation. Abkürzung für Freiheit und Frieden.“
„Ja, genau. Eine Fraktion, die gegen unser ehrbares Ziel kämpft, uns von den Menschen zu befreien, warum auch immer. Aber das ist noch nicht alles. Mir sind die Gerüchte meiner Spione zu Ohren gekommen, dass der Anführer der FF anscheinend eine schwarze Maus ist.“
„Eine schwarze Maus?“ fragte Grendian schockiert „Du meinst doch nicht etwa Phil, oder?“
„Nein, natürlich nicht. Unbegründete Vermutungen in diese Richtung liegen mir fern. Doch Phillip war schon von Anfang an nicht besonders begeistert von unserem Plan, oder?“
„Was? Oh, keine Ahnung. Er war immer etwas verschwiegen, aber im großen und ganzen hat er nie etwas dagegen gesagt.“
„Oh, gut, das freut mich für ihn“, sagte Christophe trocken „Aber wenn sich herausstellt, dass es sich um eine totale Mäuserevolution handelt, dann müssen wir etwas dagegen tun. Wir Ratten haben die Übermacht in Hameln und sollten sie sich gegen unsere Sache schlagen, dann müssen wir...“ Er sagte nichts weiter. Christophes eiskalter Blick sagte Grendian alles, was er wissen musste.
Grendian stand auf. „Also, wenn es weiter nichts zu besprechen gibt...“ „Nein, nein.“ Christophe winkte ab „Geh nur.“
Grendian eilte hinaus und durch die unterirdischen Gänge. Er musste Phil finden, musste erfahren, ob es wirklich wahr war! Er huschte durch die Gänge. Wo könnte Phil jetzt sein?, fragte Grendian sich. Vielleicht in seiner Wohnung...
Er lief durch einen Tunnel und wich einer Masse von beschäftigten Ratten aus. Um diese Zeit war immer viel in den Gängen los. Er bog ab und betrat einen Tunnel, der zu einer Kirche führte. Dort wohnte Phil. Der Gang wurde leerer. In der Kirche wohnten nur einige ärmere Mäuse, fast nie war jemand dort hin unterwegs. Doch dieses mal war noch jemand anders im Gang. Grendian erkannte Phils Silhouette und rief „Phil! Phil, warte mal!“
Phil zuckte zusammen und drehte sich um. Erleichtert sah er, dass es nur Grendian war.
„Hallo Gren. Was gibt’s?“
„Phil... Hast du schon einmal was von der FF gehört?“, fragte Grendian. Phil sah Grendian erschrocken an. Dann blickte er sich um „Ja, habe ich“, sagte er schließlich.
„Christophe hat mir über ihren Anführer erzählt und...“
„Pscht!“ fuhr Phil ihm ins Wort „Nicht hier!“ Er sah sich noch einmal um „Komm mit!“
Die beiden gingen schweigend hintereinander zur Kirche. Grendian konnte sich noch gut an das alte Gebäude erinnern. Der Boden war mit Mosaiksteinen ausgelegt, rote und grüne. Sie bildeten kein bestimmtes Muster, aber es war trotzdem schön von den Balkonen anzuschauen. Die Fenster waren bunt verglast. Leider wussten sie nicht, was auf den Bildern abgebildet waren, aber sie waren noch schöner als der Boden. Holzbänke standen in geordneten Reihen und jeden Sonntag kamen Leute in die Kirche und hörten einem Mann auf einem Podest zu. Der Ort gefiel Grendian und Phil, er war immer friedlich. Grendian bedauerte, dass er nicht öfter hier gewesen war.
Sie setzten sich unter den Umhang des Podium.
„So, hier sind wir ungestört“, sagte Phil „Also: Was hat dir Christophe über den Anführer der FF erzählt?“
„Nicht viel. Nur, dass es sich wahrscheinlich um eine schwarze Maus handelte. Und dass du nie besonders von dem Plan begeistert schienst. Das war alles.“
Phil blieb still.
„Soso“, sagte er dann „Ist der alte Torfkopp also doch nicht so dumm, wie er scheint.“
Grendian sah ihn ungläubig an „Wie, was, Torfkopp? Phil, das soll doch nicht etwa heißen, dass du...?“
„Ja, ich bin der Anführer der FF.“ Er hob die Arme „Weißt du warum, Grendian? Weißt du es? Nein, wahrscheinlich nicht. Wie ich hörte, bist du ja jetzt General.“ Er spuckte das letzte Wort förmlich aus „Ist dir eigentlich schon mal eingefallen, was passiert, wenn die Menschen verschwunden sind?“
„Nein, also ich... Doch, schon. Die Ratten und Mäuse werden Hameln übernehmen. Uns wird die ganze Stadt gehören.“
„Ja, so sieht es zum Anfang aus“, sagte Phil „Aber Christophe ist in Wirklichkeit dumm. Sicher, die Vorratslager sind voll, aber Essen verfault, mein lieber Grendian. Und was machen wir, wenn wir nichts mehr zu essen haben?“
Grendian war überfragt „Nun, die Menschen...“
„Ach ja, die Menschen. Unsere lieben Menschen. Sollen sie doch neue Nahrung machen. Hallo! Worum geht’s im Plan swnn? Ihr vergrault die Menschen doch grade mit überhöhtem Enthusiasmus! Ich kann dir sagen, was passiert, wenn die Vorratskammern leer sind: Wir werden hungern. So lange hungern, bis Hameln leer ist. Alle, die dann an Christophe hängen, kommen automatisch in seine Armee und wie ich ihn kenne, wird er so dumm sein und noch eine weitere Stadt ausbluten. Und dann noch eine. Und noch eine! Komm, ich zeig’ dir was!“
Grendian konnte gar nicht mehr anders, als Phil zu folgen. Er war einfach zu geschockt. Mit einem Mal hat Phil sein gesamtes Vertrauen an Christophe zerschlagen.
Phil klopfte eine Kombination an eine Holzlatte, die sich optisch nicht von den anderen unterschied. Sie öffnete sich und eine Maus lugte hervor.
„Komm rein, Phil“, sagte sie „Warte mal. Wer ist das denn?“
„Das ist ein Freund“, antwortete Phil „Komm, Gren.“
Der Türwächter sah den beiden nach und sagte mehr für sich „Gren... Grendian? Etwa der Grendian...?“
Die Maus und die Ratte betraten einen großen Raum. Etwa hundert Mäuse waren hier und gingen Beschäftigungen bis Gren und Phil hineinkamen. Mit einem Ruck wurde es still im Raum. Phil hob seine linke Pfote und Geräusche sowie Bewegung kamen wieder zurück.
„Das ist die FF“, sagte Phil stolz „Wir sind hier, um Christophe und seinen beknackten Plan zu bekämpfen.“
Grendian ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Es waren alte Mäuse hier, Frauen und sogar Kinder spielten Ball oder Verstecken. Viele unterhielten sich angeregt, andere zimmerten Gegenstände und wieder einige standen über einem Plan und beredeten etwas. Wahrscheinlich Gegenschlagspläne. Es war ein munteres Chaos und niemand hier schien sich der Bedrohung bewusst zu sein. Kinder, kam es Grendian noch einmal in den Sinn, die Familien haben ihre Kinder mitgebracht, weil sie dachte, es wäre sicherer hier!
„Phil! Verdammt, ihr seid wahnsinnig!“ rief Grendian und packte Phil „Habt ihr hier überhaupt eine Ahnung, was ihr tut?“
„Natürlich!“ rief Phil zurück „Wir retten Hameln!“
Grendian ließ ihn los „Nein! Ihr tötet euch selbst! Wenn Christophe hinter die FF kommt, werdet nicht nur ihr sterben! Er wird alle Mäuse in Hameln töten!“
„Er wird was?“ zischte Phil „Das würde er nicht wagen!“
„Du hast seinen Blick nicht gesehen!“ inzwischen war es still im Raum. Ein Baby weinte irgendwo „Er ist fest entschlossen! Er sucht nur einen Weg, euch loszuwerden! Bitte, verschwindet aus Hameln! Tut es für euer Volk!“
„Was? Aber dann“, Angst und Aufregung zitterten in seiner Stimme „Nein! Wir können nicht aufgeben! Wenn wir Christophe nicht stoppen, so sind wir alle dran! Wir laufen nicht weg! Wir laufen nicht weg!“ rief er noch einmal in die Menge.
Die Mäuse antworteten ihm mit einem lauten Wir laufen nicht weg!

„Wie könnt ihr so etwas sagen?“ schrie Grendian „Ihr habt Kinder! Ihr habt Frauen und Familie! Ihr habt—“
„Lass es gut sein, Grendian Fisk.“
Das Blut erstarrte in Phils und Grens Adern. Diese Stimme.
Christophe trat aus dem Gang hinter ihnen „Die begreifen es sowieso nicht. Wir Ratten sind die wahren Herrscher aller Völker!“
Aus allen Ecken und Enden des Raumes stürmten mit kleinen Schwertern bewaffneten Ratten hervor und umzingelten die Mäuse. Sie drängten sie immer weiter zusammen, bis sich kein freier Raum mehr zwischen einer Maus und einer anderen befand.
„Du!“ rief Phil „Wie kommst du hierher?!“
Er holte aus und wollte Christophe schlagen, doch ein Wächter kam ihm zuvor. Phil landete mit blutender Nase auf dem Boden. Christophe beugte sich über ihn. „Oh, das war nicht weiter schwer“, sagte er „Nachdem ich mir fast sicher war, dass du der Anführer warst, habe ich einfach meinen loyalen General ausgeschickt. Einer meiner Männer hat ihn immer beobachtet, um für seine Sicherheit zu sorgen. So eine großartige Ratte möchte ich natürlich nicht verlieren. Grendian hat dich dann schließlich gefunden und erfolgreich das Hauptquartier der FF ausfindig gemacht.“ Er ging zu Grendian und klopfte ihm auf die Schulter „Gut gemacht, General!“
Grendian stand wie angewurzelt da mit aufgerissenen Augen „Aber, wie... Was?“
„Schon gut, Sie müssen jetzt nichts sagen. Wachen, führt die Rebellen ab! Die Anklage lautet Hochverrat. Eine entsprechende Todesstrafe werde ich mir noch ausdenken.“
Phil sah mit blutender Nase schockiert zu Grendian, als er weggetragen wurde.
„Gren? Hast du wirklich...?“ sagte er, dann schlug ihn eine Wache k.o.
Grendian wollte zu Phil laufen, ihn wachrütteln, sich entschuldigen, doch er wurde von Christophe aufgehalten. „Nana, mit Verrätern spricht man nicht.“
Grendian schlug ihm seine geballte Pfote ins Gesicht. Christophes Wächter wollten Grendian schon unschädlich machen, doch Christophe pfiff sie zurück „Nein, ich glaube, den Schlag musstest du loswerden. Immerhin hast du angestaute Aggressionen. Es passiert ja nicht jeden Tag, dass ein Freund ein Volk verrät.“
„Er hat uns nicht verraten“, zischte Grendian „Er wollte uns retten!“
„Ah?“ machte Christophe „Du wirst doch jetzt nicht etwa auch ein Rebell?“
„Du kannst doch nicht einfach alle Mäuse abschlachten! Sie haben dir nichts getan!“
„Oh, ich kann machen, was ich will. Alle hören auf mich, ich bin schließlich ihr Anführer.“ Christophe lachte „Diese beiden Jungs hier“, er zeigte auf die Wächter „Können auf’s Wort vergessen. Macht ist doch etwas herrliches, oder?“
„Was?“ hauchte Grendian „Denkst du denn nicht an die Kinder? Oder an die Frauen? Hast du eigentlich mitbekommen, wie Recht Phil hatte? In einigen Wochen sind alle Lebensmittelvorräte verdorben!“
„Und?“ fragte Christophe gleichgültig „Wir suchen uns eine neue Stadt, so einfach ist das. Irgendwann können wir selbst Nahrung produzieren, alle wissen, wie Anpassungsfähig Ratten sind, selbst die Menschen.“
„Aber das—“
„Aber das geht nicht, wolltest du sagen, ja? Oh doch, es geht, du wirst es sehen. Bald gehört den Ratten die Welt. Unsere Generation wird das nicht erleben, aber wir tun es für unsere Kinder und Kindeskinder. Und da muss jede Rebellion ausgelöscht werden! Und auch du, Grendian, bist rebellisch geworden. Ein paar Monate in Einzelhaft werden dir schon wieder auf die Sprünge helfen, da bin ich mir sicher.“
Die Wächter packten Grendian an den Vorderbeinen und schliffen ihn davon.
„Du bist wahnsinnig!“ rief Grendian. Die Wächter stoppten, Christophe trat an Grendian heran.
„Wahnsinnig? Nein. Ich sorge mich um mein Volk. Wie ich sagte, du wirst es sehen. Bald gehört den Ratten alles, uns kann nichts aufhalten. Nichts! Schon gar nicht die Men...“
Er stoppte. Christophes Ohren zitterten und seine Augen starrten ins Leere. „Was... ist.. das?“ fragte er monoton. Grendian merkte es auch, seine Ohren bewegten sich ebenfalls. Er sah zu den Wächtern. Auch sie starrten ins Leere, ihre Ohren zitterten. Purpurner Dunst schob sich vor Grendians Augen.
Und dann hörte er die Melodie ganz deutlich.

 

Rian Q. Fox schrieb über seine Geschichte:

Ich hoffe, dass ich beim Korrekturlesen keine größeren Fehler übersehen habe, es kann aber durchaus sein. Weist mich bitte auf sie hin, ja? ;)
Anmerkungen bitte als einzelnes Posting unter den Text.

 

Hey, der Rattenfänger...

Ich finde die Geschichte toll - habe stellenweise gut gelacht, besonders beim Kampf gegen die Katze. Ich habe es ja immer gesagt, wir bringen uns alle um und geben den Ratten eine Chance!

Allerdings:
Du hast in den ersten 3/4 einige Tempusfehler drin. Teilweise bist du im ersten Teil des Satzes im Präteritum und dann plötzlich im Perfekt (bin jetzt zu faul, einen Satz rauszusuchen, wenn du es nochmal durchgehst, findest du sicher welche!)
Ansonsten, tolle Geschichte!

Wieder was entdeckt habende Grüße
Vita

 

Hi, Rian Q. Fox.

Gar keine schlechte Idee, mal was aus der Sicht von Hamelns Ratten zu schreiben, und ich kann auch sagen, dass daraus ebenfalls eine gute Umsetzung wurde.

Du zeigst in einem flüssigen Stil (nebenbei finde ich auch, dass du die "belehrenden" Sätze irgendwie umformulieren solltest, die verleihen dem ganzen einen irgendwie den Flair eines Grossvaters, der den um ihn herum sitzenden Kindern eine Geschichte erzählt, was überhaupt nicht in die Geschichte passt) ein Rattenvolk, wie wir es uns zwar vorstellen können, es aber nie wirklich getan haben. Beeindruckend fand ich deine gelungene Gegenüberstellung von Ratten und Menschen. (Hast du "Von Mäusen und Menschen" von William Golding vielleicht mal gelesen?) In der ganzen menschlichen Gezwungenheit, wie zum Beispiel einem ausgeprägtem Politiksystem und es scheinen mir sogar gut ausgeklügelte Anspielungen auf den menschlichen Absolutismus aufgefallen zu sein.
Allerdings frage ich mich, ob du die Ratten nicht ein bisschen ZU menschlich gemacht hast, ich glaube, hätte man in gewissen Texpassagen statt Ratten Menschen eingefügt, wäre das kaum aufgefallen, weil sie so ähnlich sind.

Noch eine Frage zum Schluss. Könnte es sein, dass die Musik nicht eingebildet, sondern real, d.h. vom Rattenfänger stammt, war son Denkansatz von mir, als ich deinen Schluss las.

Auf gutes Schreiben.

Halbarad

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom