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Perspektive eines Fünfjährigen
Ham´ses angesacht?
Ham´ses angesacht?
„Mutter´n, ´s zieht sich zu! Hol ma de Wäsche rin!“. „Ja, ham´se aber auch anjesacht!“, plärrte es aus der Laube. Danny spielte im Garten. Sein neues Opa-Langbein-Projekt verlangte zwar seine volle Aufmerksamkeit, aber eines wurmte ihn bereits länger. Schon wieder dieses „se“. Wer sollte das sein – „Se“? Die identischen Leute, die bestimmten, was Mal in der Stadt passiert sei? „Gestern war´n riesen Demo von Zecken, ham´se jesacht. Darum war´n so ville Bulln da.“, unterhielt sich sein Vater mit dem Garten-Nachbarn vom Vortag. Waren „Se“ mit bei? Sind „Se“ eine Art Arzt? Menschen, die wussten, dass es notwendig sei, sich auch die Haut im Sommer einzucremen und dies über den Rundfunk verbreiteten? „Im Radio ham´se jesacht, dasses wichtig is!“, wiederholte sein Opa regelmäßig, wenn er Danny die ekelhaftriechende Lotion dick ins Gesicht schmierte. Warum machen alle, was „Se“ ihnen sagen, fragte er sich.
„Heut komm´se. Räum ma uff, Danny!“ Und dann tauchten bloß Tante Christiane mit Sophie, seiner nervigen Cousine, auf. Mit ihr musste er sich beschäftigen, befahl die Mutti. Wie er Sophie zeigte, wie er die Opa-Langbein-Spinnen aus dem Geräte-Schuppen im Glas aufbewahrte, hatte sie gequietscht. Als ob ihr die kleinen Viecher etwas antun würden. Danny sammelte die Insekten, um daraus Spinnenmilch zu gewinnen. Wenn er sie zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückte, quirlte weißes Zeug aus ihnen Körpern. Ein wenig dickflüssiger als Kuh-Milch. Die Mutti nahm ihm das letzte Glas nach Sophies Schrei weg. Bloß, weil sie so nervig rum rumplärren musste. „Haben „se“ ihr nicht mal gesagt, dass man auch mal die Klappe halten müsse, wenn man zu Gast ist?“, ärgerte er sich.
Sich zu erkundigen, was es mit „se“ auf sich hat und warum jeder darauf hört, traute er sich nicht. Es war peinlich genug gewesen, als er Oma Sieglinde mal fragte, ob sie sich schon mal totgeschwitzt habe? „Natürlich nich, sonst wär ich nich hier“, giftete sie ihn an. Woher hätte er wissen sollen, was es mit dem „Totschwitzen“, von dem sie den halben Sommer jammerte, auf sich hat? Für solche Fragen setzte es immer gleich ´ne Backpfeife. Darum blieb er lieber still. Besser nichts sagen, als was Falsches.
Aber das konnte ebenfalls ein Fehler sein. Als seine Eltern von Ungarn aus, Tante Christiane anriefen, sollte auch er mit ihr sprechen. Alle Erwachsenen standen daneben und belauerten ihn erwartungsvoll. „Hallo“, war das Einzige, was er rausbrachte. Nach zehn langen Sekunden Schweigen nahm der Vater ihm endlich den klebrigen Hörer aus der Hand. Anschließend gab es eine Schelle, weil er wieder nur Geld verschwendet habe. Das Piepen im Ohr blieb über fünf Minuten. „Se“ hatten ihm nie gesagt, was er der Tante Christiane erzählen sollte.
„Se“ mit ihrem Wetter, „Se“ mit ihren Geboten. Wie eine Art Gott sind „Se“ für die Alten. „Se“ hätten ihm ruhig mal sagen können, was zu machen ist. „Se“ haben ihm auch nie erzählt, was unter „totschwitzen“ zu verstehen sei. Wahrscheinlich reden „Se“ nur mit den Erwachsenen. Die vergaßen aber selber, wenn sie zu viele Auerhahn-Falschen hatten, was sie ihm bereits gesagt haben und was nicht. Dann bekam er wieder Anfratze und wusste nicht wofür. Das passiert oft. Der Hals wurde furchtbar dick, so dass er nicht schlucken konnte. Auch nicht sprechen. Wenn er es doch versuchte, war die Stimme ganz hoch und wackelig. Richtiges Weinen kam als nächster Schritt. Peinlich. Besonders vor Sophie. Alles nur wegen „Se“.