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Halm (Gustaf V)
Gustaf trat aus dem Wald. Kurz war er geblendet. Von dem sonnengebleichten Weizen, der sich vor ihm erstreckte, und mit seiner vom Gestrüpp zerkratzten Hand beschattete er die Augen, seine müden Augen.
Weiter, querfeldein, unter den Füßen knirscht das Stroh und am Himmel zerfasern die Wolken, mit jedem Schritt springt ein Grashüpfer auf, weiter, grüne Büsche mit Ranken, grüne Büsche mit Beeren, Beeren die man essen kann und Beeren, die einen töten, wenn man zu viele von ihnen isst, und weiße Schmetterlinge fliegen umher und tanzen miteinander, kämpfen gegeneinander, wer weiß das schon.
Dann kam Gustaf an einen Weg. Die Sonne im Rücken. Der Nacken rot. Und vor ihm ging sein Schatten her, und wie er sich bewegte, da erkannte Gustaf sich in dem Schatten nicht wieder, der Schatten hielt den Arm weiter vom Körper weg, als er selbst es tat, in einem anderen Winkel, und auch der Kopf war nicht seiner, er war größer und anders geformt, war unförmig, war gestaucht und gestreckt, und als eine Ameise über den Schatten lief, tauchte Gustaf aus diesem Gedanken wieder auf. Veränderte seine Schrittfolge. Die ihm nicht bewusst war, es jetzt aber wurde, und dabei strauchelte er, sagte leise Uppsala und musste ein wenig lachen, erschrak, sah sich um, aber niemand war da. Nur die Ameise. Und im Feld die Grashüpfer und die Schmetterlinge, und vor ihm, auf dem Weg, der Schatten, sein fremder Schatten.
Und so lief er weiter, bis er an einem Ortsschild vorbeikam, auf dem Halm stand.
Gustaf kam von woanders, sagte er immer, so auch jetzt, als der Bürgermeister von Halm ihm entgegentrat und wissen wollte, woher er kam.
»Von woanders.«
»So.«
Eine Pfeife, ausreichend Tabak, ein paar wenige, teilweise beschriebene Blätter Papier, ein Stift und ein Messer, das ihm als Anspitzer diente, all das hatte Gustaf in ein Tuch gewickelt, das er, an einen Stock gebunden, über der Schulter trug. Und dieses Tuch war es auch, auf das sich die Frage des Bürgermeisters bezog: »Und was hast du da?«
Gustaf sagte es ihm.
»So.«
Eine schöne kleine Stadt ist das hier, dachte Gustaf, und ließ es auch den Bürgermeister wissen.
»Ja, klein ist sie schon, und es gibt wohl auch welche, die weniger schön sind. Aber es gibt auch viele, die schöner sind. Vielleicht solltest du weiterziehen. Um nichts zu verpassen.«
»Ja, vielleicht«, antwortete Gustaf, verneigte sich und ging weiter den Weg entlang.
Der Bürgermeister sah dem Fremden noch eine Weile nach, bevor er hinter der Tür des gelben Rathauses verschwand.
Die Stadt Halm war von dichtem Wald umgeben, und am Mittag desselben Tages, tief in diesem Wald, saß Gustaf auf einem Baumstumpf und schrieb. Er schrieb so klein, dass es aussah, als krabbelten winzige Insekten über das Papier, immer wieder spitzte er mit dem Messer seinen Stift an, damit die Mine nicht zu breit wurde, und während er schrieb, sprach er jedes Wort leise mit.
»… Vielleicht solltest du weiterziehen. Punkt. Um nichts zu verpassen. Punkt.«
Noch vor kurzem war Gustaf der festen Überzeugung gewesen, keine andere Wahl zu haben, als den Bürgermeister zu töten. Doch jetzt, im kühlenden Schatten der Bäume, wusste er schon wieder, dass das nur ein Hirngespinst gewesen war, dass er es nicht tun würde, ganz egal, was irgendwer dazu sagen würde.
Und doch war es komisch, dass er hier saß und sich über den Bürgermeister den Kopf zerbrach. Ja, jetzt sah er ihn auch wieder deutlich vor sich, diesen Sack mit seinem gestutzten Bart, er stutzte ihn wohl zu einem gewissen Zweck, er wollte wohl zeigen, seht her, wenn ich wollte, dann könnte ich mir einen Bart bis zum Nabel wachsen lassen, und doch tue ich es nicht, ganz bewusst, aber wenn ich wollte, dann könnte ich. Und Gustaf war auch nicht entgangen, dass er das Rathaus in einem auffällig gelben Ton streichen lassen hatte, es stach richtiggehend in den Augen, da stand ein graues Haus zur linken und ein graues Haus zur rechten und mittendrin thronte der gelbe Palast des Herrn Bürgermeisters mit seinem gestutzten Bart.
Gustaf verstaute die Blätter in dem Tuch und holte seine Pfeife hervor, er atmete den weichen Tabakqualm ein und blies ihn in die Luft und spürte, wie er träge wurde. Nur seine Gedanken wollten sich nicht beruhigen. Und er hielt noch immer das Messer in der Hand.
»Tuft. Was ist denn ein Tuft?«
Der Bürgermeister kratzte sich ratlos den Kopf.
»Vielleicht soll's ja Luft heißen«, meinte Anja.
»Blödsinn. Nein, irgendetwas steckt dahinter, und ich glaube auch schon zu wissen, wer dafür verantwortlich ist.«
»Der Fremde.«
»Ja, natürlich der Fremde, wer sonst, wer sonst käme auf die Idee, einen solchen Mist in meine Tür zu ritzen! Ich wusste ja sofort, dass der Kerl Ärger bedeutet, das hab ich dem gleich an der Nasenspitze angesehen, ein Verbrecher ist das, das kannst du mir glauben, Anja!«
Anja, das war die Frau vom Bürgermeister, und als sie ihrem Mann zuhörte, der sich über ein Wort, das nicht mal einen Sinn ergab, so schrecklich aufregte, da musste sie ein wenig grinsen.
»So, das findest du lustig?«
»Nein.«
»Und warum grinst du dann?«
»Ich grins ja gar nicht.«
»Mir reicht's, ihr seid ja alle verrückt geworden! Ruhe hab ich gesagt! Hör auf zu grinsen, mein ich!«
Anja biss sich auf die Lippen, und als der Bürgermeister außer Sichtweite war, sagte sie noch mal leise: »Tuft«, und grinste.
Gustaf hatte jede Menge Ideen gehabt, wie er den Bürgermeister töten könnte, aber als er vor dem gelben Rathaus stand, kam ihm der Einfall, stattdessen etwas in die Tür zu ritzen. Tuft, das machte keinen Sinn, das wusste er, und er war der Ansicht, dass der Bürgermeister sich ärgern würde über eine solche Sinnlosigkeit, und dass er recht gehabt hatte, sah er schon seinem Gang an, als er auf ihn zugestapft kam.
»Du! Verschwinde, auf der Stelle, als Bürgermeister dieser Stadt –«
»Tuft«, unterbrach Gustaf den Bürgermeister.
»Du bist ja … Nein, was hat es denn für einen Sinn, mit jemandem zu reden, der einen doch nicht versteht, du bist ja bekloppt, das ist ja ganz eindeutig, womöglich –«
»Sulf«, unterbrach Gustaf den Bürgermeister diesmal.
»Ja, mach nur weiter deine Späße, du kannst froh sein, dass ich die Polizei noch nicht eingeschaltet habe, das ist ja Vandalismus und außerdem Beleidigung, was du hier veranstaltest, du kannst dich glücklich schätzen, dass … Willst du mich gar nicht unterbrechen? Bleib stehen! Sofort!«
Aber Gustaf ging davon, mit der Absicht, nie mehr zurückzukommen.
Am nächsten Tag wachte der Gehilfe des Bauern Ulinov noch vor dem ersten Hahnenschrei auf. Die Sterne leuchteten blass am Morgenhimmel, in der Ferne tastete sich die Sonne Stück für Stück hinter dem Horizont hervor.
Leise, damit niemand es mitbekam, trat er vor die Tür und stapfte eilig zu dem großen Busch neben dem Geräteschuppen. Die Nacht war so kalt gewesen, dass dichte Dampfschwaden aufstiegen, als er seine Blase leerte, und er schreckte zusammen, als er durch den Dampf hindurch ein menschliches Gesicht erkannte.
»Entschuldigung«, sagte er da und zog schnell seine Hose hoch.
»Aber wofür denn, ich bin ja neu hier, du hingegen … Ich bin ja quasi ein Eindringling, ich hätte mir einen anderen Ort zum Übernachten suchen können, Menschen gehören nicht in Büsche, das sehe ich ein, aber ich war ja schon so müde und dann war es ja auch so kalt heute Nacht und da dachte ich mir … Und wer bist du?«
»Der Fedka. Ich wohn hier.«
»Du musst mir schon glauben, dass es mir leid tut, Fedka, aber gestern, als ich mich hier hingelegt hatte, war der Himmel lange nicht so klar, wie er's jetzt ist, und obwohl ich dein Haus jetzt so deutlich da stehen sehe, war es gestern … Hätte ich gewusst, dass hier jemand wohnt, hätte ich mir wohl einen anderen Ort gesucht, an dem ich schlafen kann, ich hätte vielleicht auch angeklopft und … Fedka, sag mal, du hast nicht vielleicht etwas Brot oder löchrigen Käse? Nein? Und auch im Haus nicht?«
»Doch, im Haus schon.«
»Ja, natürlich, wer ein Haus hat, der hat auch Brot und Käse, tut mir leid, dass ich so dumm gefragt habe, was ich ja eigentlich wissen wollte, ist, ob ich vielleicht etwas davon abbekommen könnte … Jetzt gerade ist es nun mal so, dass ich in Büschen schlafen muss, und in meinem Tuch hier ist nichts von Wert, nur eine Pfeife und etwas Tabak, ein Stift und ein paar Blätter und ein Messer zum Anspitzen …«
»Ich kann schon was holen. Muss nur leise sein.«
»Ja, sei nur leise … Aber … Nur ein bisschen Käse und Brot … Das wäre schon gut, Fedka.«
Und Fedka stapfte davon.
Am Horizont leuchtete jetzt ein gelber Streifen auf. Die Sonne tastete sich weiter voran.
»Hier.«
»Ja, hab Dank, Fedka«, sagte Gustaf, der schon das Messer in der Hand hielt. Vorsichtig schnitzte er kleine Löcher in den Käse. Die Späne fielen wie abgestorbene Blätter auf die Erde.
Fedka sah den Fremden neugierig an.
»Wie heißt du?«
»Gustaf.«
Fedka hatte noch nie einen Mann getroffen, der Gustaf hieß, und er hatte auch noch nie einen Mann getroffen, der nachts in Büschen schlief und so komisch daherredete wie dieser hier.
»Bist du aus der Stadt?«
»Ja, gestern war ich noch dort, und da hab ich auch den Bürgermeister getroffen. Kennst du den Bürgermeister, Fedka?«
»Ja.«
»Und magst du den Bürgermeister? Ich nämlich nicht.«
Fedka wusste nicht recht, ob er den Bürgermeister mochte. Er hatte ihn nur einige wenige Male gesehen, die Menschen aus der Stadt kamen nur selten raus aufs Land. Aber er wollte den Fremden nicht verärgern, deshalb sagte er: »Nein.«
»Gut. Hör mal, Fedka, fändest du es gut, wenn ich den Bürgermeister mit meinem Messer hier töte? Ich glaube, dass der Bürgermeister kein guter Mensch ist. Manchmal sieht man den Menschen das an, du zum Beispiel, bei dir wusste ich gleich, dass du ein guter Mensch bist. Sonst hätte ich dich auch nicht nach dem Brot und dem Käse gefragt, aber der Bürgermeister, der ist ein hundsgemeiner Kerl, das wusste ich sofort, gleich in dem Augenblick, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, und als ich heute Nacht hier im Busch lag und um mich herum alles schwarz war, da dachte ich mir, dass man ihn eigentlich töten müsste. Findest du nicht auch?«
Fedka verstand nur die Hälfte der Dinge, die der fremde Mann sagte, denn der hatte den Mund ja voll Brot und Käse, und er musste auch daran denken, dass Ulinov jeden Moment aufstehen würde, und daran, dass der Hahn noch immer nicht gekräht hatte. Er wollte nicht, dass der Fremde den Bürgermeister umbrachte, aber er wollte ihn auch nicht verärgern, und deshalb sagte er: »Kann schon sein.«
»Ja, siehst du, das dachte ich mir schon, dass du das genauso siehst, dann sind wir uns ja einig. Jetzt muss ich aber gehen. Und noch mal vielen Dank für den Käse und für das Brot, ja, das wusste ich gleich, dass du ein guter Mensch bist, Fedka, und Fedka ist auch ein wirklich schöner Name, das passt, das passt, ja, manchmal passt einfach alles zusammen.«
Und dann zog der Fremde weiter, mit seinem Beutel über der Schulter, und dabei pfiff er, und Fedka pfiff auch, als er zum Hühnerstall ging, doch als er dort ankam, hörte er auf zu pfeifen, denn jetzt wusste er, warum der Hahn heute morgen nicht gekräht hatte, sein Kopf saß ja nicht mehr da, wo er hingehörte, er saß nicht mehr auf dem Körper, er lag ganz in der Nähe auf der Erde und er sah komisch aus, wie ein eigenes Lebewesen, fand Fedka, wie ein Käfer mit toten, schwarzen Augen und einem weit aufgerissenen Schnabel.
»Von Woanders.«
Für Anja bestand gar kein Zweifel, dass der Fremde von woanders kam. Obwohl es sommerlich warm war, trug er dicke Wollhandschuhe, aus deren ausgefransten Fingerkuppen viel zu lange, vergilbte Nägel ragten. Er war ein großer Mann, und durch das Landstreicherleben hatte er kein Gramm Fett zu viel auf den Rippen, womöglich hätten die Frauen von Halm ihn einen ansehnlichen Junggesellen genannt, wären da nicht der wuchernde Bart und die zerzausten Haare gewesen, die ihm in wilden Strähnen über die Stirn hingen. Sie hatte ihn auf dem Marktplatz gesehen, als er mit Käse und Brot die Tauben fütterte, und da wurde sie neugierig und fragte ihn, wer er war und woher er kam.
»Aber jetzt haben Sie mir immer noch nicht verraten, wie Sie eigentlich heißen.«
»Gustaf heiß ich, und wenn Sie jetzt noch wissen wollen, was mich hierher verschlagen hat, dann muss ich Ihnen leider sagen, dass das eine Sache ist, die ich lieber für mich behalten möchte. In Geschäften bin ich nicht unterwegs, das kann ich Ihnen verraten, es ist mehr eine persönliche Sache, wenn Sie schon fragen, mehr kann ich Ihnen aber wirklich nicht verraten, Anja. Das geht doch nicht zu weit, dass ich Sie jetzt bei Ihrem Namen nenne, hoffe ich?«
Anja wurde rot. Doch, ein wenig war er tatsächlich über das Ziel hinausgeschossen, aber gleichzeitig gefiel es ihr, die Männer von hier waren ja immer so schrecklich vorsichtig, der Sigurd zum Beispiel, den sie schon seit frühester Kindheit kannte, der nannte sie immer und überall ein Fräulein, »Einen guten Tag, Fräulein Anja«, sagte er, wenn er ihr auf der Straße begegnete, und als er beim Frühlingsfest versehentlich ihren Arm gestreift hatte, da entschuldigte er sich gleich und stotterte dabei wie ein Schulbub.
»Nun, Gustaf, wenn Sie es mir nicht verraten wollen, dann …«
»Nicht verraten wollen, nein, so weit kommt es noch, nichts würde ich lieber tun und auch niemandem lieber als Ihnen, liebe Anja, es ist nur … Sagen Sie: Wenn ich Ihnen jetzt beichten würde, dass ich Sie liebe, dass mein Auftreten als Landstreicher nur Spektakel ist und dass ich in Wahrheit in einem prachtvollen Anwesen wohne, gar nicht weit von hier, dass ich mir ohne Weiteres den Bart stutzen könnte, wenn Ihnen das besser gefiele, und dass ich auch mein Anwesen, sagen wir, gelb anstreichen lassen könnte, wenn Sie diesen Wunsch äußerten, was würden Sie da wohl erwidern? Nein, sagen Sie nichts, es ist ja auch eine viel zu weit hergeholte Geschichte, ich wollte ja nur sehen, wie Sie reagieren würden, nehmen Sie mir das nicht übel, manchmal überkommt mich so eine Laune und dann denke ich gar nicht nach, dann habe ich meine Zunge nicht mehr unter Kontrolle, sozusagen, Sie müssen das wirklich entschuldigen. Ja, und wenn Sie es wissen wollen, ich war es, der dem Hahn vom Fedka den Kopf abgeschnitten hat. Und wenn Sie mich jetzt fragen, warum und weshalb, dann weiß ich nicht, was ich Ihnen antworten könnte, außer, dass ich mich manchmal nicht unter Kontrolle habe, das ist, wie gesagt, diese Sache mit den Launen, die bei mir ganz besonders ausgeprägt ist, und deshalb schaffe ich es auch nicht, für längere Zeit an irgendeinem Ort zu verweilen, ich komme in eine Stadt wie diese hier und lüge, was das Zeug hält, und schwupp, bin ich wieder verschwunden.«
Anja wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie verstand zwar, was der Fremde sagte, doch Verstehen und Begreifen waren ja zwei paar Schuhe, er redete viel und vor allem redete er ohne Punkt und Komma, und hinterher fiel es einem schwer, sich auf das Gesagte einen Reim zu machen. Was sie wusste, war, dass er keinen Hehl aus seiner Lage machte, er gab offen zu, dass er ein Landstreicher war und von der Hand in den Mund lebte, und Ehrlichkeit war eine Sache, die man sich nicht kaufen konnte, fand Anja.
Aber dann war da ja auch noch die Sache mit dem Hahn, er hatte wohl irgendeinen Hahn umgebracht, ihm den Kopf abgeschnitten, und deshalb sagte Anja nur: »Das hätten Sie nicht tun dürfen, Gustaf.«
Für einen kurzen Moment legte die Nachmittagssonne einen goldenen Schleier über Gustafs Gesicht. Er lächelte.
»Nein? Warum denn nicht? Was macht es für einen Unterschied? Bitte nehmen Sie mir die Sache nicht übel … Aber ja … Manchmal … Nein, nun, auf Wiedersehen. Es tut mir leid, Sie belästigt zu haben.«
»Wo gehen Sie jetzt hin?«
»Weg, zurück, dahin, wo ich hergekommen bin, ich steige in mein Unterwasserboot und tauche ab, tief unter die Erde, ich komme nie wieder an die Oberfläche, vielleicht in hundert Jahren ein Mal, wenn ich Schwimmhäute zwischen den Zehen habe und durch Kiemen atme und riesige, angsteinflößende Reißzähne im Maul habe, sodass mich hier keiner mehr erkennt, und dann fresse ich euch alle auf! Warum fragst du denn so blöd, es interessiert dich ja doch nicht, da schüttet man dir das Herz aus und alles was du darauf zu sagen weißt, ist Das hätten Sie nicht tun dürfen, Gustaf – du Sau!«
Und Gustaf ging davon. Er ging weiter, bis er am Ortsschild vorbeikam, und auch da blieb er nicht stehen, er würde immer weitergehen und niemals wieder zurückkommen, das war sein Plan, und diesmal wollte er sich daran halten. Doch mit jedem Schritt, den er sich von der Stadt entfernte, wurde er unruhiger, wieder musste er an seine Launenhaftigkeit denken, an sein Gespräch mit Anja, an den Bürgermeister, und wie er, gleich einer schleimigen Schnecke, die mit ihren Fühlern auf ein Hindernis stößt, seinen Kopf eingezogen hatte … Ein Jammerlappen war er, verachtenswert, zum Ausspucken, nicht mehr wert als ein Kuhfladen, aber selbst den konnte man ja noch zum Düngen nutzen, fiel es ihm da ein, und spätestens jetzt war die Sache beschlossen: Er würde nicht klein beigeben, diesmal nicht, und überhaupt von jetzt an nie wieder. Punkt.
Am nächsten Morgen hingen dunkle, regenschwangere Wolken am Himmel. Gustaf saß im Busch und wartete. Es dauerte eine Weile, doch dann, eilig, um möglichst trocken zu bleiben, trat der Bauernjunge aus dem Haus und kam auf ihn zugetrippelt.
»Guten Morgen, Fedka«, erklang Gustafs Stimme aus dem Busch.
»Du wieder.«
»Ja. Hör mal, ich brauche deine Hilfe.«
»Du hast den Hahn umgebracht.«
»Ja, aber jetzt hör mal zu –«
»Ich will dir aber nicht zuhören.«
Und Fedka drehte sich weg, um zu pinkeln.
Da sprang Gustaf auf und packte den Jungen von hinten am Hals, er riss ihn an sich und hielt ihm das gezückte Messer vors Gesicht.
»Siehst du mein Messer hier? Willst du, dass ich Käse aus dir mache, willst du, dass ich Löcher in dich reinsäbel, du dreckiger Bauernsklave? Jetzt hörst du mir gut zu oder ich schneid dir die Zunge aus deinem Maul, hast du gehört, du Mistköter? Hast du gehört?«
Fedka blieb still. Schwere Regentropfen prasselten auf die beiden Männer, die, wie in einer innig verknoteten Umarmung erstarrt, neben dem kleinen Schuppen standen. Gustaf konnte den angsterfüllten Atem des Jungen sehen, kleine Dampfwolken, die stoßweise aus Nase und Mund aufstiegen. Er spürte seinen Herzschlag, der, wie bei einem Spatz, durch den gesamten Körper zuckte. Und er roch den erlösenden Schwall von Urin, als er den Griff lockerte und Fedka sich einnässte.
Auf dem Marktplatz von Halm, neben dem Brunnen, hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand Fedka. Er fuchtelte wild mit den Armen, er spuckte beim Reden – »Jawoll!« spuckte er aus, jedes zweite Wort war ein »Jawoll«, doch die meisten der Anwesenden störte das nicht, sie gaben sich gar nicht erst die Mühe, dem, was er zu sagen hatte, zu folgen. Ein aufgebrachter Mensch von außerhalb war eine willkommene Abwechslung zum Alltagstrott, nur darum ging es ihnen, und bei einigen der Älteren wurden Erinnerungen an den alten Hieronymus und sein fahrendes Kuriositätenkabinett wach, an die guten alten Zeiten, als man auf dem Marktplatz zusammenkam, um Mondsteine, exotische Tiere und Krüppel zu bestaunen.
»Erinnert ihr euch an die zahme Hyäne, die er an der Leine mit sich herumführte?«
In einiger Entfernung, an eine Hauswand gelehnt, stand Anja. Sie hörte aufmerksam zu, was der Junge zu sagen hatte. Jemand habe seinem Hahn den Kopf abgeschnitten, sagte er, und er habe ganz deutlich gesehen, wer es gewesen war, nämlich der Bürgermeister höchstselbst. Jawoll, sagte er, aber niemand interessierte sich für ihn, und je weniger die Leute ihn beachteten, desto lauter wurde er, desto ausladender wurde das Gefuchtel mit seinen Armen.
»Oder an das hirnverbrannte Mädchen im Käfig? Konnte nichts sagen außer Pipikacka und Hundsfottsackscheiß und wenn man den Finger zwischen die Gitterstäbe steckte, hat sie mit den Augen gerollt, dass man nur noch das Weiße gesehen hat.«
Gerade, als Anjas Verstehen zu einem Begreifen wurde, als sie erkannte, dass da ein zerrissener, überreizter Mensch stand, jemand, der sich mitteilen wollte und dem das nicht gelang, dem man zuhören musste, den man beruhigen und dem man zustimmen musste, ganz egal, was er sagte, da hörte sie die Schreie. Und roch den Rauch.
Lodernde Flammen schossen aus den Fenstern des Rathauses. Nur eines, im Obergeschoss, war verschont geblieben, und zwischen pechschwarzen Rauchschwaden lehnte sich der Bürgermeister panisch ins Freie.
Noch immer sprach Fedka von seinem kopflosen Hahn, während die Menge um ihn herum bestürzt auseinanderstob und zum Rathaus stürmte, sie schrien nach Wasser und einer Leiter, jeder schrie, aber keiner tat etwas, und mitten in der Menge tauchte jetzt auch Gustaf auf, und er lächelte.
Da warf ihn eine ungeheure Kraft zu Boden, und diese Kraft war Anja, sie schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, ein Mal, zwei Mal, bevor Gustaf sie von sich fort und in den Matsch werfen konnte.
»Schwein!«, schrie sie, »Dreckiges, dreckiges Schwein!«, und Gustaf robbte sich rücklings davon, Blut lief ihm aus der Nase und über das Gesicht, seine Kleidung war schlammbesudelt, von oben fiel der Regen, die Stadtbewohner rannten durcheinander, am Brunnen kniete Fedka und starrte mit leeren Augen in die Ferne, und aus dem Fenster, an dem eben noch der Bürgermeister gestanden war, schlug ein funkensprühender Feuerstrahl in den Himmel empor.
Da erhob sich Gustaf. In der Hand hielt er das Messer. In seinen Mundwinkeln konnte Anja Schaum erkennen, kleine, runde Pusteblumen aus Gafer und Schleim, und sie sah auch die unter der Anstrengung hervortretenden Sehnen auf seiner Haut, seiner papierdünnen Haut, auf der sich das flackernde Licht der Flammen spiegelte. Und ohne den Blick vom Rathaus abzuwenden, ließ Gustaf die Klinge zwischen seinen Augen versinken. Bis nur noch der Griff aus der Stirn herausragte. Bis er zusammensackte. Und woanders war.