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Hallo lieber Gott
Maria arbeitet in einer großen Sammelstelle für unzustellbare Briefe. Auf Ihrem Schreibtisch ist auch heute wieder ein mittelgroßer Berg von Briefen, die den Empfänger nicht erreichen konnten. Sie angelt sich den nächsten Brief heraus und öffnet ihn. Auf dem Umschlag steht:
An den lieben Gott
Absender: Du weißt genau von wem
Hallo,
es ist lange her, daß ich mir Dir gesprochen habe. Der letzte Tag an dem ich zu Dir sprach, Du weißt es sicherlich auch noch, war der 17. Juni 1981. Das war der Tag, an dem Du meinen Vater zu Dir geholt hast. Damals war ich 14 Jahre alt. Du hast ihn Dir an einem Mittwoch geholt, es war Feiertag und es war Morgens um 9.00 Uhr. Ohne jemanden von uns zu warnen. Es gab für niemanden von uns eine Gelegenheit sich von einander zu verabschieden. Deswegen war ich damals mit Dir sehr böse und ich hatte mir vorgenommen, nicht mehr mit Dir zu sprechen. Du hast meine Mutter und mich durch ein tiefes, dunkles Tal geschickt. Nach einigen Wochen, habe ich festgestellt, daß das Tal für meine Mutter sehr, sehr tief und dunkel war. Oft habe ich sie nachts weinen gehört. Zu dieser Zeit habe ich viel an Dich gedacht und mich gefragt, warum Du so etwas tust. Von nun an beschloß ich, daß es nicht genug sei, einfach nicht mehr mit Dir zu reden, sondern ich faßte den Entschluß Dich ganz zu vergessen.
Wenn ich so zurückdenke, ist es mir auch sehr gut gelungen. Du warst weg, und ich habe Dich nicht vermißt. Meine Mutter ging trotz allem immer noch Sonntags in dein Haus, um zu Dir zu beten und Dir Lieder zu singen. Der einzige Unterschied zu früher war, daß sie ab dem 17. Juni alleine zu Dir ging. Ich dachte, wenn sie mit Dir nicht so böse ist, wie ich es bin, soll sie ruhig gehen. Sie sagte, daß sie es auch für mich täte, also hab ich sie gelassen.
Heute glaube ich, Du hast sie in Deinem Haus immer übersehen. Ich denke, Du weist gar nicht, wie oft sie bei Dir war. Auch an Tagen, als es ihr nicht so gut ging, war sie in deiner Kirche.
Im Mai 1999 habe ich, nach fast 20 Jahren, wieder begonnen an Dich zu denken. Wahrscheinlich hast Du gemerkt, daß ich Dich vergessen hatte, und wolltest mich wieder an Dich erinnern. Und das ist Dir sehr gut gelungen. Du hast in den Kopf meiner Mutter etwas eingepflanzt, was da nicht hingehörte. Es ist langsam gewachsen, aber wir haben es trotzdem bemerkt. Du mußt es schon zwei bis drei Jahre zuvor da eingepflanzt haben, denn ich meine, daß auch Du es vergessen hast. Erst wo die Ärzte dabei waren, Deine Pflanze zu entfernen, hast Du es bemerkt. In diesem Moment hast Du beschlossen, wenn meine Mutter aus ihrem Schlaf erwacht, sollte das der letzte Tag gewesen sein, an dem sie etwas sah. Der letzte Tag an dem sie mich sah. Der letzte sonnige Tag ihres Lebens, der letzte Tag an dem sie wirklich gelacht hat. Und wieder hast Du uns in ein tiefes, dunkles Tal geschickt. Du hast sogar dafür gesorgt, daß sie mich nicht mehr kennt, wenn sie aufwacht, daß sie alles vergessen hat, was in den letzten 40 Jahren geschehen ist. Nachdem Du wohl selbst bemerkt hattest, wie stark ich wieder an Dich dachte, hast Du dafür gesorgt, daß sie wenigstens wieder weiß, wer ich bin. Dafür danke ich Dir.
Inwischen sind fast 4 Jahre vergangen und wir wandern immer noch durch dieses Tal. Und Du sorgst jede Woche dafür, daß ich an Dich denke und Dich nicht vergesse.
Ich frage ich, wann du endlich das schwere Paket von ihren Schultern nimmst und es auf meine legst.
Ich frage mich, was Du noch alles für mich vorgesehen hast, bis zu dem Tag, an dem Du mich dann zu Dir holst
Mit freundlichen Grüßen
Du weißt von wem
Oft antwortet Maria auf die Briefe, aber nicht auf diesen.