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Hallenfieber
Giesbert Schnuppenziegel erwachte eines Morgens in einer riesigen Kühltruhe neben Spinat, Wirsingkohl und geforenem Fisch. Mit steifgewordenen Gliedern versuchte er sich aus der eisigen Kiste zu befreien und wuchtete seinen linken Fuß auf die obere Kante der gläsernen Wand, gegen die er sich bereits eine ganze Nacht lehnte. Einige Male rief er um Hilfe, doch die letzte Erhebung war vergebens.
Erst am Abend fand man seine Leiche, die in dem gläsernen Behältnis nicht aufgefallen war, als man ein kleines Mädchen aus der Truhe barg, das hineingeriet, weil es in einer Blutlache ausrutschte.
Gestern Nachmittag stand die Julisonne hoch am Himmel und lachte im herrlichsten Gelb von der stahlblauen Götterglocke herab. Sie schien direkt auf meinen Kopf und meine Schultern, so daß ich unter dem schwarzen Mantel etwas zu schwitzen begann. Meine Haare waren wüst und strenig. Hatte keine Zeit sie zu waschen. Das machte mir Sorgen.
Auch Haare im Gesicht - furchtbar verkommen - Elftagebart.
Sobald ich meine Augen öffnete, konnte ich die Hitze über das Asphalt der Straße kriechen sehen und so dachte ich an das Grün der Bäume. Linden standen im schönsten Blättergewand in Reih und Glied und bäumten sich in der kargen Landschaft gegen die Trostlosgkeit auf. Alle paar Meter genoß ich ihren Schatten und so schlenderte ich immer sorglos einige lässige Schritte in ihrem Schutz, bevor ich zu hektischen Sprüngen durch die Sonnenfelder ansetzte. Meine Stiefel verhinderten Eleganz, waren jedoch praktisch. Hätte es geregnet, wäre ich froh über sie gewesen.
Es war warm. Viel wärmer als ich am Vortag vermutet hatte.
Ich wußte ich hätte den Mantel nicht anziehen sollen - tat es dennoch. Der Trieb des Schicksals verlangt einem viel zu viel ab. Ich lief weiter und dachte nicht mehr daran.
Nach einigen Minuten überkam mich die gierig schleichende Einsamkeit, die sich in ihrem perfiden Gang meiner Seele näherte und so begann ich mit meinem Schal zu sprechen, den ich zu einer Schlange formte. Sie legte sich sanft um meinen Hals.
Ich lachte kindlich und zischte freundlich - für die Schlange.
Bald tanzten die Handschuhe - wollene. Schön warm im Winter. Der Rote ärgerte sich über die feineren Maschen des Weißen und schlug ihn. Aber nur einmal - und das ganz kurz. Danach hatte ihn meine Mütze erstickt. Lange hatte sie den Anschlag ausgeheckt, "Äußerst präzise...". -
"...Marquise..." dachte ich und pfiff ein kurzes Liedchen. Kurzeitig begann ich wie eine Bachstelze zu schreiten, rief den Leuten in den kleinen Gärten am Rande der Straße lustige Worte zu und tat dann so, als hätte ich meine Stimme gar nicht erhoben. Ignorierte sie einfach und nickte mit dem Kopf, nachdem sie antworteten.
Doch kaum hatte ich das nächste Mal "Bartholomäus" gerufen, besann ich mich und mir fiel der eigentliche Grund meinens Spaziergangs ein. Einkaufen wollte ich - in jedem Falle zumindest überhaupt zur Markthalle. War lange nicht dort...Menschen treffen...mal was unternehmen. So stand ich plötzlich still und lachte kurz, sah mich abschätzend um, daß mich ja niemand sah und setzte zu einem Sprint an.
Ich lief nicht für mich - das tat ich nie. Doch was tauge ich als Weltverbesserer? Hab´ ich jeh etwas bewirkt? Auch nur für einen kurzen Moment die Situation eines Menschen verbessert...ihn vergessen lassen?
Ich hatte es vergessen. Alles löschte sich langsam kriechend aus - und es vernebelte - ertrank.
Der Atem floß nur schwer, erbärmlich sogar, so daß ich kurz vor dem Ersticken war, noch bevor ich den Krieg der Halle gewinnen konnte. Aber ich siegte in der ersten Schlacht und wurde mit dem Anblick des Eingangsportals belohnt, woraufhin meine Augen über die fett gedruckten Buchstaben flogen. "Kein Zutritt für Mantelträger!", auf einem Schild, das direkt an der Türe thronte. Beim letzten Mal gab es das noch nicht. Doch was währt schon ewig? Was wehrt denn endlos? Ich bestimmt nicht. Und so sah ich kurz auf den filzigen Stoff meines Gewandes und zuckte leichtsinnig mit den Schultern, um mit einem Stiefelschritt die Arena - die Halle - zu betreten, wo es angenehm kühl war. Man wollte die Leute frieren lassen - deswegen das Verbot! Sie sollten frieren und versuchen zu leben - konserviert. Wie der Spinat den ich kurzzeitig betrachtete und letztlich griff, um ihn in einen fremden Korb zu legen, wo er dann am wenigsten zum restlichen Inhalt passen sollte. Ich hatte mir ganz bewußt keinen eigenen geliehen. Wegen der theoretischen Fremdnutzung versteht sich. Nach kurzer Lagebesprechung mit dem verbliebenen Handschuh, der gerade noch dem Tode entronnen war, trat ich ein wenig abseits des Geschehens hinüber zum Eingeweckten. Ich suchte nach einem Glas Gurken, doch fand ich keines bis ich mir eine dieser Hilfen rief, die mich dann leitete. Da standen die Gläser - einem Toten würdig!
Nach einem kurzen Rundumblick und einem Lächeln, das ich der Hilfskraft freundlichst entgegenwarf, griff ich nach einem, das einer Urne an nächsten kam, nahm den Deckel ab und versenkte den toten Handschuh.
Vorwurfsvoll trafen mich die Blicke der freundlichen Führerin. Verständnisvoll, mit einem vertrauenswürdigen Gesichtsausdruck über die Abscheulichkeit eines solchen Vorgehens hob ich die Augenbrauen, schüttelte im Eifer des Entsetzens mit dem Kopf, um meine Unverständlichkeit auszudrücken und lief eine halbe Sekunde später davon.
Meine Verfolgerin verlor mich inmitten des Menschenauflaufes an der Fleischtheke und mir gelang die Flucht in die Obst- und Gemüseabteilung. Ich fror etwas - trotz des Mantels und sah die Leute munter an mir vorbeiziehen, als ich mich auf einen großen Kürbis setzte.
Eigentlich viel gemütlicher als ein Sessel - viel angenehmer als es einem zunächst in den Sinn kommen würde. Ich wollte das Möbelstück daheim gegen eine große Frucht austauschen, wenn ich noch dazu kommen sollte - so könnte man sie jede Woche wechseln und lästige Schokoladenflecken wären von nun an vergessen.
Eigentlich liebte ich ja Käse besonders gern. Und so schlenderte ich die Kühlregale entlang und probierte einige Sorten, um alles Angebissene im jeweils nächsten Korb zu verstauen. Ich wählte da nichts ungewöhnliches, nahm das, was ich fand. Einmal kaute ich lässig voller Glück vor mich hin und träumte sanftmütigen Blickes durch die Luft. Einfach so.
Gegen eine fremde Person gelehnt, sah ich entspannt und luftigen Augenschlages direkt in einen Korb, der bis an den Rand gefüllt war, suchte das Gelände nach einer zugehörigen Person ab und lief rasch entschlossen darauf zu, um ihn dann zu verstecken.
Das gefiel mir immer besonders gut - das hastige Scheppern der Rollen darunter und das Klappen des Eisens stimmte mich fröhlich und machte mich beinahe kindlich vergnügt. Meine Zeit als Kind war wunderschön - Käse gab es so gut wie immer. Daran fehlte es nie.
Später suchte ich dann noch gezielt Dinge aus unterschiedlichen Wagen, um sie ohne Mitwissen des Besitzers neu zu kombinieren, obwohl ich nicht wußte warum ich das tat. Als mich wenig später ein junger Herr mit einem großen runden Hut auf frischer Tat ertappte, erträumte ich, daß ich ihn bereits kannte. Seit einem Jahr treibt er schon sein Unwesen, hier in der Halle der ehrbaren Krieger - im heroischen Kampf auf Leben und Tod, um Freiheit und Ehre! So tat ich freundlich, um ein Versehen vorzutäuschen - daß ich in einem günstigen Moment mit einer Dose nach dem Kopf des Feindes werfen konnte.
Doch der Kontrahent wich geschickt aus und trat dann gegen einen Wagen, der auf mich zu rollte. Mit einem Hechtsprung entging ich dem Gegenschlag und rollte mich geschickt ab, während ich nach einer Flasche griff, die bei den Fruchtsäften stand, um mich für einen erneuten Angriff zu wappnen.
Ich hielt ihren Hals fest in der Hand und schlug ihren Boden an der metallenen Kante des Wagens, der nun vor mir auf der Seite lag, ab, um nach dem Aggressor zu stechen, wodurch sich alle Flüssigkeit auf dem Boden ergoß. Unser letztes Treffen.
Blut floß dabei eigentlich kaum - die Leute achteten auch gar nicht weiter darauf. Lediglich rote Fußspuren durchzogen die kalten Gänge, erzeugt durch all jene, die sorglos durch den erkalteten Lebenssaft traten.
Nach zweieinhalb Stunden Vergnüglichkeit rutschte ich in der Hatz einer weiteren Flucht in eben dieser Lache aus und landete in einer Kühltruhe, wo ich bald vor Erschöpfung einschlief - "Mal sehen, was noch so passiert..." und so begann ich von besseren Tagen zu träumen.