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Halbe Menschen
Irgendwer hat ihr Licht ins Haar geflochten. Vielleicht nur der Morgen, der anbrechende Tag; wahrscheinlich ist es sowieso gleich wieder weg, das Licht, in dem Moment, wo sie den Kopf bewegt, als wäre es nie dagewesen.
Sie baut kleine Häuser aus Pommes Frites und ich sitze daneben und beobachte ihre Hände, bin sowas wie das Publikum. Ihre Finger sind die Schauspieler. Dabei fügt sie bloß Kartoffelstäbchen auf der Tischplatte aneinander.
Ihre Bewegungen sind kleine Déjà vus, ich kenne sie, habe sie ein Dutzend Mal gesehen, irgendwo, irgendwann. Und doch sind sie immer wieder neu; manchmal krümmt sie nur den kleinen Finger etwas anders, oder sie spreizt den Daumen weiter ab als sonst, und ich fühle mich wie ein großer Entdecker, wenn ich den Unterschied wieder mal bemerkt habe, ausnahmsweise.
Vielleicht werde ich sie doch fragen, wie das Licht in ihr Haar gekommen ist, nachher irgendwann.
Das Dach bestreicht sie mit Mayonnaise. Schnee, sagt sie. Dabei hat es in diesem Jahr noch gar nicht geschneit. Vielleicht während wir geschlafen haben, vielleicht nur ein, zwei Flocken, sagt sie und legt Querbalken. Darin kann niemand wohnen, sage ich. Wieso, fragt sie, bereits ein neues Stockwerk anlegend.
Die Häuser sind zu flach, sage ich, und zu klein, und aus Pommes, niemand will in einem Haus aus Pommes wohnen.
Vielleicht Leute aus Pommes, haucht sie, lass uns welche machen.
Ich kann nicht, sage ich, ich hab meine alle gegessen. All die Arme und Beine und Hälse und Bäuche.
Du Mörder, kichert sie und reißt ein Haus ab, um den anderen ein paar Bewohner zu verschaffen.
Es sind zuwenige, oder auch zuviele. Zweieinhalb Menschen. Für mehr reichen die Pommes nicht. Dem letzten fehlt ein Arm und beide Beine. Ein Wohnheim für Behinderte, flüstert sie. Lächelnd strecke ich die Hand aus und esse den zweieinhalb Menschen das Dach über dem Kopf weg. Ein halbes Haus für halbe Menschen.
Und was ist, wenn es regnet, fragt sie besorgt.
Sie werden nass und weich und niemand will sie mehr essen, sage ich, sie werden frei sein.
Wir blicken beide aus dem Fenster. Da ist der Parkplatz, darüber die Autos, darüber der Himmel mit den Wolken im Gepäck und der Sonne tief in der Hosentasche.
Sieht nach Schnee aus, sagt sie. Der Himmel frage ich und sie sagt, nein, die Mayonnaise.
Hinter den Autos warten die Bäume in langen Schlangen auf den Tod. Endlose Reihen von Pappeln, über den Mittelstreifen gespiegelt und zu Alleen erstarrt.
Je zwei Bäume stehen auf gleicher Höhe, sehen sich an, zwei ganze Leben lang.
Vielleicht auch die Momentaufnahme eines Tanzes, man feiert die Ankunft des Winters. Oder des Frühlings oder des Sommers oder des Herbstes. Dazwischen die Baumkronen, vertraglich verpflichtet, den Himmel zu tragen, kahl wie alte Männer, krumm wie alte Frauen und wirr wie die Erinnerung an einen bösen Traum.
Soll ich noch mehr bestellen, frage ich, sag mir, wieviele du noch brauchst.
Sie blickt sich um, außer uns ist niemand da. Wir sind die letzten Gäste.
Ich weiß nicht, sagt sie, fünf vielleicht, Arme, Beine und ein Kopf; ich denke, wir können dann. Bist du soweit?
Ich nicke. Stopfe mir ein letztes Pommes Frites in den Mund, stehe auf. Sie schlüpft in ihre Jacke, lächelt mir zu und stellt sich neben mich. Wir blicken zur Kasse, einer steht noch da und wartet darauf, dass wir gehen, damit er die Theke für einige Stunden schließen kann. Die anderen sind schon verschwunden, hinten im Umkleideraum häuten sie sich wie Schlangen, schlüpfen aus ihren Arbeitsuniformen, hinein in ihre Straßenkleidung, in ihren Feierabend, hantieren mit Kleiderbügeln, öffnen und schließen klappernde Spinde, geformt wie kleine Särge.
Er trägt ein kleines Schild an der Brust mit dem Namen und dem Logo der Restaurantkette.
Darunter, kleiner: „Markus“. Nichts weiter, einfach Markus.
Ein halber Mensch, flüstert sie, er hat nur einen halben Namen. Ich taste nach ihrer Hand, finde sie und drücke sie. Fest. Sie drückt zurück und ohne ihr Gesicht zu sehen, bin ich mir sicher, dass sie wieder lächelt. Weil sie an dieser Stelle immer lächelt. Das ist alles wie in einem Traum, ein ewiges Déjà vu, alles wiederholt sich, jede Regung, jede Geste.
Markus fragt, ob irgendetwas mit dem Essen nicht in Ordnung war. Ich sage: Wir bräuchten noch fünf Pommes Frites. Markus macht ein verblüfftes Gesicht, lächelt unsicher in die Lücke zwischen mir und ihr, in der nichts ist, nur weit, weit hinten die gläserne Schiebetür, durch die man den Parkplatz sieht. Die Kälte sieht man nicht.
Geh zur Kasse, sage ich tonlos. Markus lächelt immer noch, dann schieben sich seine Augenbrauen ganz langsam aufeinander zu, zwei behaarte Raupen kriechen sich entgegen, zum Kampf bereit, in der Mitte berühren sie sich und werfen eine tiefe Falte auf. Für einen Moment erwacht er aus seiner Benommenheit, seine Blicke wandern suchend zwischen den immergleichen Tischen und Stühlen umher, in den Pupillen glänzen kleine Lichter, der Widerschein der Deckenlampen, dann fällt sein Blick auf unsere Hände. Zwei davon sieht man, die anderen beiden stecken tief in ihren Jackentaschen, bilden zwei ungewöhnlich große Ausbeulungen links und rechts im Jackenstoff.
Schon gut, sagt Markus, blickt zur Kasse, blickt zur Küche.
Ich lege den Zeigefinger an die Lippen, höre neben mir ihr Summen, stille Nacht, heilige Nacht, sie summt die Melodie dazu, ganz leise, damit uns niemand hört, damit uns niemand stört. Das ist der Weltraum, denke ich, keine Geräusche, Bewegungen in Zeitlupe, Luftanhalten.
Markus starrt zur Decke. Ich folge seinem Blick. Ein Nachtfalter schwirrt um eine der Lampen, die überall wie reife Früchte über den Tischen hängen, und wirft seinen zuckenden Schatten an die Wand. Je näher er dem Licht kommt, desto größer wird der Schatten. Er wird kleiner, wird größer, kleiner, größer, als ich wieder zur Kasse blicke, hat sich Markus umgedreht, unter die Theke geduckt und den Kopf eingezogen. Markus, der Hase, versucht, durch die Tür zur Küche zu entkommen.
Geschmeidig wie zwei Raubkatzen schnellen ihre Hände aus den Jackentaschen, jede eine Micro Uzi haltend.
Zweimal made in Israel, zweimal 1700 Schuss pro Minute, zweimal 9 Millimeter Parabellum-Munition, zweimal Präzision, Flexibilität, Zuverlässigkeit. Zweimal 1499.- inkl. Mwst.
„Arschloch.“
Niemand weint.
Das war Markus, sage ich. Macht nichts, flüstert sie, ich bin ein ganzer Mensch, ein halber Mörder und ein halber Dieb. Das Geld, das Geld, das Geld, wir haben ja das Geld. Ich laufe los, die Kasse an die Brust gedrückt wie einen Säugling, bis zur Tür nur eins zwei drei vier Schritte, dann der Parkplatz, dann der Wagen, der Motor heult, die Reifen kreischen. Und der Blick zurück ist ein Luxusartikel, macht nichts, sagen wir und blicken nach vorne und auf das Schild an der Ausfahrt:
"Bis bald - Wir freuen uns auf Sie!"
Déjà vu, denke ich, Déjà vu. Der dritte Überfall in dieser Woche, zack zack zack, einer von den Engeln wird uns schon beschützen, wir müssen nur dran glauben. Und wenn es regnet, werden wir nass und weich und frei sein.
Der Wind pfeift uns aus, der Himmel bewirft uns mit Schnee. Dem ersten in diesem Jahr. Unerwartet kalt.