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Haifischbecken
Joti wurde das Gefühl nicht los, dass ihm das Kreuzworträtsel irgendetwas Grundlegendes mitteilen wollte. Ein umgangssprachliches Wort für Niederlage? Schlappe. Synonym für ein großes Unglück. Super-GAU. Gefolgt vom Nullpunkt. Und nun also einem anderen Wort für Verderben und Verschlechterung. Er hielt einen Moment inne und notierte zögerlich Untergang. Passte. Misstrauisch drehte Joti das Heft, um zu kontrollieren, ob er vielleicht irgendeine schräge Sonderedition in die Hände bekommen hatte. Fehlanzeige. Dann wohl Zufall. Eine passende, ungeschönte, zufällige Zustandsbeschreibung der derzeitigen Entwicklung. Er nahm einen Schluck Bier und tat die herablassenden Blicke zweier vorbeieilender Anzugträger lässig ab. Was wussten die denn schon? Wenn er meinte, es wäre eine gute Idee, vormittags um halb elf in einem Liegestuhl vor seiner Kneipe Bier zu trinken, sich von seinem Kreuzworträtsel irritieren zu lassen und über das Elend in der Welt nachzugrübeln, dann war das verdammt noch mal in Ordnung. Er hatte außerdem auch nichts Besseres zu tun. Die Schweiz, Ort der Sehnsüchte und Träume seiner Stammkundschaft, war seit Monaten dicht.
Plötzlich ertönte von der anderen Straßenseite eine Stimme und riss ihn aus seinen Gedanken.
„Joti, mein Freund!“
Ein riesiger Mann in einem blauen Trainingsanzug und schwarzer Bomberjacke winkte ihm freundlich zu. Dabei entblößte er eine breite Front goldener Zähne. Joti sog die Luft ein. Angst war wohl das falsche Wort, aber in die Richtung ging es schon. Respekt vielleicht. Oder besser noch: Vorsicht. Zögernd hob Joti seine Hand, während Manfred Manni Krüger langsam die Straße überquerte, dabei ein Auto zum Bremsen zwang und grinsend auf ihn zukam.
„Wie ich sehe, begehst du diesen sonnigen Werktag angemessen. Freut mich!“ Manni strahlte und es war unmöglich, sich davon nicht zumindest ein kleines bisschen anstecken zu lassen.
„Machst mir auch eins?“
„Ein was?“
„Na n Bier.“
Manni schwenkte seine leere Flasche und Joti schob ihm eine Neue zu.
„Mal im Ernst, weißte, was dein Problem is? Du bist ein Mann, der mit einer Gabel durch eine Welt voll Suppe streift.“
„Is das von dir?“, fragte Joti mit einem leichten Stirnrunzeln.
„Jou“, log Manni und fuhr unbeirrt fort.
„Der Punkt is, du siehst immer alles schwarz. Die ungerechte Welt, die Leute inner Stadt, die dir wegen Allem auf den Sack gehen, das Wetter ...“
„Das Klima, Manni. Nicht das Wetter.“
„Was ich dir sagen will, Joti. Machs dir doch nich immer so schwer, Mensch.“
Joti vollführte eine Geste in Richtung der toten Spielautomaten und verwaisten Tische um sie herum.
„Ach komm, selbst wenn die Schweiz schnurren würde, als obs keine scheiß Pandemie gäbe, wissen wir beide, dass du deinen Weltschmerz wie so ne Maobibel vor dir hertragen würdest.“
Joti kramte in seiner Hosentasche nach einem verknitterten Softpack Zigaretten.
„Aber ich gebs ja zu, dass es im Moment n wenig düster aussieht. Wenn du magst, kann ich beim Hagemann mal nachfragen, ob er dir unter die Arme greift? Bisschen was investiert? Bisschen umstrukturiert? Hier liegt echt Kohle drin. Ne Kneipe in der Lage?“
Joti prustete freudlos.
„Vielen Dank Manni, aber das is ne ziemliche Scheißidee. Bisher bin ich ganz gut damit gefahren, deinen Chef hier rauszuhalten, und das würd ich auch ganz gerne in Zukunft so beibehalten. Kein Interesse von Hagemann geschluckt zu werden. Nichts gegen dich oder das, was du so machst, aber die Schweiz is ...“
„N friedlicher und neutraler Ort. Is klar, Joti. Du weißt schon, dass das hier nicht die echte Schweiz ist, oder? Na ja, vergiss es. Dacht, ich biets dir wenigstens mal an. Als Freund.“ Manni nahm einen Schluck Bier.
„Mmh, da fällt mir aber was ein. Wie heißt noch mal dieses traurige Vierauge was hier normalerweise immer rumhängt? Dieser dürre Typ? Richtarski?“
„Kowalski.“ Joti hörte auf, am Papier von seiner Bierflasche rumzuknibbeln.
Manni schnalzte mit der Zunge. „Das wars, genau. Na ja, dieser Kowalski is vor ner guten Woche beim Chef aufgeschlagen. Kannste dir das vorstellen? Ist mir nichts, dir nichts zur Werkstatt vom Hagemann und stand vorm Büro rum, wie son geprügelter Hund. Hab nur halb zugehört, aber ging wohl um Geld, was er sich leihen wollte.“
Joti schloss die Augen.
„4000 Euro hatter dem Chef abgeschwatzt. Keine Ahnung, wie der das gemacht hat, ehrlich. Muss wohl an seiner Stammelei gelegen haben. Druckst der immer so rum? Ist ja nicht zum Aushalten.“ Manni lachte und zog an seiner Zigarette. „Egal, jedenfalls ist das Ende vom Lied, dass er gestern eigentlich hätte zahlen müssen.“
„Ja, und?“
„Hatter nich. Kannst dir ja ausrechnen, was als Nächstes ansteht. Den Chef lässt man nicht warten, wenns ums Geld geht.“
„Scheiße.“
„Was soll man machen? Du weißt, wies läuft.“ Manni nahm einen Schluck Bier.
„Scheiße Manni, der Kowalski is n sensibler Kerl. So was verkraftet der nicht.“
Manni zuckte mit den Schultern.
„Was willste denn jetzt von mir? Den Schuh hat er sich angezogen, Joti. Keiner hat ihn zu irgendwas gezwungen. Ich wollt dich jedenfalls nur in Kenntnis darüber setzten, dass einer deiner Stammkunden ziemlich tief in die Scheiße gefasst hat. Hagemann hat sicherlich schon dieses Riesenarschloch Korgmann rübergeschickt. Vielleicht fährste die Tage mal bei Kowalski vorbei und sammelst ein, was von diesem traurigen Sünder übrig geblieben ist?“
Manni grinste wie ein Haifisch und diverse seiner goldenen Zähne blitzten im schummrigen Licht.
„Jaja is schon klar, Manni. Bist n echter Kümmerer. Immer schon gewesen.“
„Kann nun mal nicht aus meiner Haut.“ Manni leerte sein Bier, erhob sich und griff nach seiner Jacke. „Ich muss noch zu den Kindern. Nachher? Trinken wir noch n paar?“
„Mmh“, murmelte Joti und nickte.
„Gut! Komm ich später vorbei. Machs gut, Joti. Und grüß diese Pfeife von mir.“
„Sicher nich.“
Lachend verließ Manni die Schweiz.
Es war weit schlimmer, als Joti erwartet hätte. Durch die nicht abgeschlossene Haustür Kowalskis röhrte ihm Forever young entgegen. Kowalski selbst hatte es sich derweil in der Badewanne gemütlich gemacht. Mitsamt Klamotten. Mehrere leere Bierdosen schwammen im Wasser der Wanne und zwei waren irgendwie in der Kloschüssel gelandet. Außerdem hatte er es bewerkstelligt, das gesamte Bad und gewisse Teile des Flurs unter Wasser zu setzten. In der Wanne, auf dem Boden und auf Kowalski selbst klebten zudem irgendwelche Papierschnipsel. Seufzend betrat Joti das kleine Badezimmer. Nicht zum ersten Mal fiel ihm eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Kowalski und Klark Kent auf. Einer abgemagerten und vom Leben böse enttäuschten Version eines Klark Kent wohlgemerkt.
Kowalski schreckte hoch.
„Joti, das is ja schön.“, säuselte er. Die dicken Brillengläser waren beschlagen und verpassten seiner traurigen Erscheinung sozusagen den letzten Schliff. Joti hatte Schwierigkeiten, die wässrigen Augen dahinter zu erkennen.
„Meine Güte, wat is los mit dir?“
„Allet futsch. Et is allet futsch.“
Nachdem er ihn aus der Wanne gehievt, in einige Lagen Handtuch gewickelt und an dessen Tisch in der kleinen Küche genötigt hatte, war Joti eigentlich schon wieder fertig mit den Nerven gewesen. Dennoch hatte er sich dazu durchgerungen, einen starken Kaffee aufzukochen und zu erfragen, was eigentlich los war. Nun, einzig, dass das Riesenarschloch Korgmann bisher noch nicht aufgetaucht war, stand auf der Habenseite. Alles andere fügte sich nahezu nahtlos in eine einzige, im Grunde ununterbrochene, Geschichte des Scheiterns. Aber das Leben Kowlaskis war schließlich noch nie ein sonderlich großer Spaß gewesen.
„Lottoscheine?“ Joti dachte für einen winzigen Moment, sich vielleicht verhört zu haben.
Kowalski, durch den Kaffee wieder einigermaßen auf dem Damm, setzte zaghaft zu einer Erwiderung an.
„Jou Lottoscheine. Ne ganze Menge sogar. Weißte Joti, ich hab mich in letzter Zeit n bisschen mit Banküberfällen beschäftigt.“
Sofort verkrampfte sich etwas in den Tiefen von Jotis Bauch.
„Weil ich dachte, so gehts nicht weiter, verstehste? Immer pleite? Immer von der Hand in den Mund leben? Von einer Zeitarbeitsfirma zur nächsten rennen und mich von diesen Arschlöchern wie den letzten Menschen behandeln lassen? Bei dir die Zeche prellen und ne Woche später mit schlechtem Gewissen wieder angekrochen kommen? Und jetzt auch noch diese scheiß Pandemie? Vergiss es, dacht ich mir. Also hab ich überlegt was ich machen kann."
„Banküberfälle zum Beispiel?“
Kowalski gab Joti mit einer Handbewegung zu Verstehen, dass er abwarten solle.
„Hab mich eingelesen. Ziemlich schnell bin ich deshalb auch wieder von dem Trip runtergekommen, dass es ne gute Idee wäre, so was durchzuziehen.“ Kowalski machte eine Pause und fügte dann wie ein Mann vom Fach hinzu: „Kannste heutzutage vergessen, weißte.“
Joti entspannte sich ein wenig.
„Aber dann hab ich von sonem Typen gelesen, der selbst inner Bank gearbeitet hat. Irgendwo in Korea oder so. Weißte, was der gemacht hat?“
Joti schüttelte langsam den Kopf.
„Der hat 40.000 Yen oder was die da für ne Währung haben, an nem Freitag Abend mit nach Hause genommen. Dann hat der alles in Lottoscheine investiert, gewonnen und am Montagmorgen das Geld zurückgebracht. Und den Rest hat er behalten. Ne ganz einfache Rechnung, dacht ich mir. Wenn du nur einen Lottoschein kaufst, wirste nicht gewinnen, das is völlig klar. Das Geld kannste besser gleich in Bier investieren. Haste am Ende des Tages mehr von.“
„Amen“, ergänzte Joti lakonisch.
„Nee, wenn du schon auf Glücksspiel gehst, musste investieren. Also hab ich überlegt, wo ich mir genug Geld leihen könnte. So viel, dass es sich lohnt, verstehste? Und die einzige Bank, auf die ich kam, war der Hagemann. Also ...“
„ ... biste schnurstracks zum Chef, hast ihm 4000 Euro aus dem Kreuz geleiert und hast davon Lottoscheine gekauft.“
„333“, antwortete Kowalski kleinlaut. Eine peinliche Pause entstand.
„Und? Wie liefs?“, fragte Joti mit einem Blick auf die vereinzelten Papierfetzen, die noch immer an Kowalskis nassen Sachen klebten.
Glücklicherweise pochte es in diesem Augenblick an der Tür und erlöste die beiden aus dem Moment. Das Riesenarschloch Korgmann war soeben eingetroffen.
Niemand mochte Korgmann. Das war leider eine traurige Tatsache. Einige hatten ziemlich Schiss vor ihm, Hagemann schätzte ihn aufgrund eines nicht zu leugnenden Talents in Sachen Gewaltanwendung und sein Deutscher Schäferhund hielt mit tierischer Loyalität zu ihm. Doch wirklich niemand, nicht einmal besagter Hund konnte diesen Fleischberg von einem Mann wirklich leiden.
Korgmanns kriminelle Karriere begann während seiner Lehrlingszeit bei einer Metzgerei in Köln Kalk. Unter der Woche klopfte er auf Schweinehälften herum, am Wochenende auf den Anhängern gegnerischer Fußballvereine. Irgendwann wurde er nach einem besonders wilden Ackermatch auf seine beeindruckende Schlagtechnik angesprochen.
„Schon mal dran gedacht, da Geld draus zu machen? Oder willste etwa dein Leben lang hinter der Fleischtheke stehen?“
Korgmann kühlte seine beanspruchten Fingerknöchel und überlegte. Am nächsten Montagmorgen schmiss er dem Chef seine Metzgerschürze vor die Füße und seine Lehre hin. Seither trieb er für Hagemann Schutzgeld ein, brach Nasen, Kniescheiben und auch schon mal das ein oder andere Genick. Und heute, ungefähr zwanzig Jahre nach jenem schicksalsentscheidenden Ackermatch, stand er gut gelaunt vor der Wohnungstür Kowalskis. Bereit, einem weiteren windigen Schuldner den Arsch aufzureißen.
„Joti, wat machstn du hier?“ Überrascht blickte Korgmann Joti aus seinen kleinen Augen an. „Na ja auch egal, wo isser?“, fuhr er geschäftsmäßig fort.
„Korgmann, entspann dich ja? Hab mit ihm geredet. Wir finden ne Lösung, ok? Zur Not streck ich das Geld vor.“
„Du streckst dat Geld vor?“ Korgmann begann zu grinsen. „Magst du mir bitte mal erklären, wo du 4000 Piepen hernehmen willst? Ist ja momentan nicht grade die goldene Zeit für Kneipenbesitzer oder seh ich dat falsch?“
„Er hat das Geld nicht, wat willste machen? Da find sich doch bestimmt ne Lösung.“
„Dat lass mal meine Sorge sein, Joti. Mir fallen da schon son paar Sachen ein.“
Krogmann schob sich an ihm vorbei durch die Wohnungstür und stampfte mit quietschenden Schritten über den nassen Flur.
„Kowalski? Komm ma ran! Wir ham was zu besprechen!“
Joti schloss die Haustür und eilte Korgmann hinterher.
Ein bleicher Kowalski verschanzte sich hinter dem Küchentisch, während Korgmann mal links, mal rechts andeutete, um den Tisch herumzustürzen. Schließlich brannten bei Kowalski offensichtlich die letzten verbliebenen Nerven durch. Mit Panik im Blick ließ er sich dazu hinreißen, eine seiner geschmacklosen Tassen nach Korgmann zu werfen. Zwar traf er nicht, aber allein der stümperhafte Versuch reichte aus, um Korgmanns ohnehin begrenzte Geduld weit über das angebrachte Maß hinaus zu strapazieren.
„So du Ficker, jetzt biste dran.“, stellte Korgmann in nüchternem Ton fest.
Mit einer lässigen Handbewegung warf er den Küchentisch um und war mit zwei schnellen Schritten bei Kowalski. Dem blieb nur noch, ob der dramatischen Entwicklung ängstlich nach Luft zu schnappen,
„Wo. Ist. Dat. Geld. Kowalski?“ Um seiner Frage Nachdruck zu verleihen, verpasste Korgmann Kowalski nach jedem Wort eine schallende Ohrfeige. Kowalski setzte stotternd zu einer Antwort an, was Korgmann aber scheinbar nicht in den Kram passte und ihn dazu veranlasste, seine fragwürdige Prozedur noch mal zu wiederholen.
„Wo.“ Klatsch. „Ist.“ Klatsch. „Dat.“
Joti schritt ein und griff nach der Hand Korgmanns. Ein Fehler, wie er sofort feststellen musste, denn der drehte sich um und schallerte ihm ohne Vorwarnung die Faust ins Gesicht. Blut strömte aus Jotis Nase und er musste sich an der schäbigen Küchenablage festhalten, um nicht umzuklappen.
„Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich raushalten, verdammt? Du hast hier gerade nichts zu melden. Ist dat klar?“ Kopfschüttelnd wand sich Korgmann wieder Kowalski zu, nahm ihn in den Schwitzkasten und zerrte ihn in Richtung Badezimmer. Von dort hörte Joti wenige Augenblicke später den prustenden Kowalski, das Platschen von Wasser und einen lachenden Korgmann. Benommen wankte er hinterher.
„Korgmann jetzt lass doch den Scheiß! Dat bringt doch nichts!“
„Halt deine Fresse verdammt! Seid ihr eigentlich alle beide völlig bescheuert? Der eine wirft mit Tassen und der andere meint, hier den Dicken markieren zu können. Glaub, ich muss hier mal meinen Standpunkt n´ bisschen klarer machen.“ Korgmann wand sich wieder dem strampelnden Kowalski zu.
„Kowalski, wat meinste? Muss ich hier und heute meinen Standpunkt noch deutlicher machen?“
Protestierend blubberte es aus dem Wasser.
„Bitte? Ich kann dich nicht verstehen, Kowalski.“
Joti griff erneut nach Korgmanns Schulter.
„Jesus Christus, dat darf doch alles nicht wahr sein.“ Stöhnend erhob sich Krogmann und wand sich Joti zu. „Gut, dann brech ich eben dir zuerst ...“ Zu mehr kam Korgmann nicht mehr. Joti verpasste ihm reflexartig einen schlecht platzierten rechten Haken. Korgmann glitt auf den nassen Fliesen aus, verlor das Gleichgewicht und schlug heftig mit seinem Kopf gegen die spitzzulaufende Ecke der Badewanne. Dann war alles still. Abgesehen vom japsenden Kowalski. Ungefragt fasste der schließlich das in Worte, was sich bereits schreiend in Jotis Kopf zutrug.
„Scheiße Joti, ich glaub, du hast grad den Korgmann umgebracht.“
Es gab im Grunde nur ein mögliches Vorgehen. Korgmann musste verschwinden. Und im Anschluss galt es zu hoffen, inbrünstig zu hoffen, es möge vielleicht einfach Gras über die Sache wachsen und niemand würde Joti oder Kowalskis halbe Portion mit der Sache in Verbindung bringen.
Brachte sie also zur dringlichen Frage, wie zur Hölle man eine Leiche verschwinden lässt? Nach einigem hin und her einigten sie sich darauf, dass es wohl sicherer war, wasauchimmer mit Korgmann anzustellen, wenn niemand in der Nähe war. Kowalski schlug die Schweiz vor. Der Laden war geschlossen, es gab kaum neugierigen Nachbarn und eine geräumige Küche. Zähneknirschend willigte Joti ein. Also parkte er fluchend sein Auto vor der Tür, sie wickelten Korgmann in einen Teppich und schleppten ihn durch das Treppenhaus. Joti fragte sich die ganze Zeit, während sie ächzend die Leiche herabzerrten, wie es denn sein konnte, dass es niemand im Haus für angebracht hielt, mal nach der Ursache der seltsamen Geräusche der letzten halben Stunde zu schauen. Einen teilnahmsloseren Hausflur hatte er jedenfalls noch nicht erlebt. Was ihnen zwar momentan zweifellos zugutekam, Joti aber insgesamt an der nachbarschaftlichen Integrität der Hausbewohner zweifeln ließ und ihn zudem in seinem permanenten Verdruss über den unaufhaltsam voranschreitenden moralischen Verfall der Welt bestätigte.
Joti schlug mit seiner Faust auf den Tisch, schwenkte mit der anderen Hand eine triefende Stichsäge und schrie Kowalski an. In den letzten dreißig Minuten hatte sich herausgestellt, dass das Amputieren von Körperteilen um einiges schwieriger ist, als man annehmen sollte. Vom moralischen Standpunkt und dem Ekelfaktor mal ganz abgesehen, taten sich allein schon bei der rein technischen Ausführung gewisse Schwierigkeiten auf. Nachdem also klar war, dass das Zersägen Korgmanns wohl eine langwierige Sache werden würde, lagen die Nerven bei allen Beteiligten blank. Ein Wort ergab das andere, Kowalski begann zu heulen, Joti schrie herum und irgendwann wies Kowalski den sägeschwingenden Joti, schluchzend darauf hin, dass schließlich er es gewesen sei, der Korgmann kalt gemacht habe. In der Sache sicherlich richtig. Dennoch hatte Joti das dringende Bedürfnis, an dieser Stelle einige grundlegende Worte der Klärung an seinen schniefenden Partner in Crime zu richten.
„Kowalski, hör mir mal zu.“, begann er in ruhigem Ton, legte die Säge auf den Tisch, ließ das Bein Korgmans los und wischte sich die blutigen Hände an seiner Schürze ab.
„Hast du dich eigentlich schon mal gefragt, warum du dein Bier in ner Kneipe trinkst, die Schweiz heißt? Mitten in Köln?“
Kowalski fühlte sich ertappt. Darüber hatte er tatsächlich noch nie nachgedacht. Joti nickte wissend und fuhr fort.
„Siehst du hier irgendwelche beschissenen Berge? Hast du mich mal in einem fragwürdigen Dialekt sprechen hören? Nein? Nein. Dieser Ort,“ Joti machte eine bedeutungsschwere Pause, während er mit seiner Hand auf die abgedeckten Automaten und die leeren Tische zeigte, „dieser Ort Kowalski war bis heute ein friedlicher Ort. Neutraler Boden, wenn du so willst. Klar gabs hier schon mal die eine oder andere Schubserei, aber im Grund gings doch immer verhältnismäßig friedlich zu, oder?“ Joti wies Kowalski mit einem erhobenen Zeigefinger darauf hin, dass er im Moment keine Antwort von ihm erwartete.
„Ich denke, wir könnens darauf herunterbrechen, dass hier deutlich mehr Konflikte gelöst wurden, als entstanden sind. An sich ne gute Bilanz für ne Kneipe, wie ich finde. Und das lag nicht nur am altbewährten Schmiermittel zwischenmenschlicher Interaktion, unser aller Freund, dem Alkohol. Nein, nein. Hier hat sich über die Jahre etwas Magisches zugetragen, Kowalski. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.“ Jotis Blick verklärte sich und für einen Augenblick schien er an vergangene und ohne Zweifel unbeschwertere Zeiten zu denken.
„Hier konnten die unterschiedlichsten Menschen ein und ausgehen, ohne sich dabei übermäßig auf den Sack zu gehen. Der Schweiz ists egal wer du bist, wie du aussiehst oder was du machst, Kowalski. Unser Korgmann“, Joti berührte beinahe zärtlich das in Mitleidenschaft gezogene Bein hinter sich, „trank hier ab und zu sein Bier, ohne sich dabei wie ein Arschloch zu benehmen. Ist das zu fassen? Hier waren wir alle gleich. Hier gabs keinen Stress. Darauf konnten sich alle Anwesenden einigen. Neutraler Boden, so wie die scheiß Schweiz eben. Es war was Besonderes, Kowalski. Was ganz Besonderes. Ein sicherer Hafen für alle, die dem Chaos der Welt für den Moment entfliehen wollten, um hier bei mir an der Theke ein Bier zu trinken und neue Kraft zu tanken, während draußen die Welt vor die Hunde geht.“ Joti machte eine Pause und schloss die Augen.
„Und jetzt stehe ich hier und versuche mit einer Stichsäge das Bein eines Mannes zu amputieren, um es danach in einen Sack zu stecken und werweißwo verschwinden zu lassen. Kowalski, ich sags wies is. Ich hatte schon bessere Tage. Aber egal, ich möcht eigentlich gar nicht mit mir anfangen. Ehrlich um mich gehts nicht. Es geht auch nicht um dich. Ja, im Grunde gehts nicht mal um unseren lieben Korgmann hier. Es geht um die Schweiz, Kowalski. Die Schweiz hat heute ihre Unschuld verloren. Der Frieden ist gebrochen. Es wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Es ist Blut vergossen worden und du weißt genauso wie ich, dass damit dieser Ort für alle Zeit entweiht worden ist.“
Kowalski hatte nicht den Hauch eines Schimmers, was Joti meinte, hielt es aber für den falschen Moment nachzuhaken und nickte nur stumm.
„Es ist alles im Arsch, Kowalski. Wir beide sind im Arsch, dat is klar. Aber auch die Schweiz ist im Arsch.“ Joti machte eine Pause. Offensichtlich musste er sich kurz sammeln. „Ich mach dir keinen Vorwurf, denn im Grunde kannste ja nichts dafür. Aber ich würd dich trotzdem bitten, dass du dir solche Kommentare wie eben kneifst. Denn ansonsten bekommen wir beide ein Riesenproblem miteinander.“
Er warf Kowalski einen ernsten Blick zu und bedeutete ihm, Korgmann festzuhalten. Dann begann er zu sägen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten sie ein Bein und immerhin die Hälfte des linken Arms geschafft. Erschöpft machten sie eine kurze Pause. Während Kowalski den Augenblick nutzte, um hingebungsvoll in eine Ecke der Küche zu kotzen, füllte sich Joti mit zittrigen Händen ein Glas mit Schnaps. Da hämmerte es an der Tür.
Joti erstarrte und schloss die Augen. Vielleicht würde der Moment ja einfach vorübergehen, wenn er nicht reagierte? Wenn er die Augen geschlossen hielt und so tat, als ob er nichts gehört hatte?
„Joti, in deiner Küche brennt Licht, ich weiß das de da bist. Komm, mach auf und lass uns n paar Bier trinken.“, erklang es gedämpft. Manni pochte erneut an der Tür.
„Außerdem steht hier draußen dein Wagen. Das Beste gegen deine tägliche Portion Weltschmerz sind immer noch vier, fünf Bier. Das weißte genauso gut wie ich.“
Kowalski sank wimmernd an der gekachelten Wand zu Boden. Joti gab ihm zu verstehen, dass er sich einfach ruhig verhalten solle, zog die blutige Schürze aus und wankte mitsamt Schnapsglas wie betäubt zur Tür. Ein breit grinsender Manfred Krüger stand vor ihm.
„Hast schon angefangen, wie ich sehe.“ Manni deutet auf das Glas in Jotis Hand. „Trifft sich gut, bin nämlich ziemlich in Sauflau …, sach mal blutest du?“
Jotis Blick ging zu seinen Händen. Zugegeben, die hätte er sich vielleicht besser mal waschen sollen.
„Ja, weißt du, hab mich da hinten ziemlich übel geschnitten. Manni, nimms mir nicht krumm, aber heute Abend ist irgendwie schlecht. Bin ein wenig neben der Spur. Wir können ja vielleicht morgen ...“ Im selben Augenblick schepperten es lautstark. Joti schloss die Augen und zählte innerlich mehrere Töpfe und mindestens eine der schweren, gusseisernen Pfannen. Auf Kowalski war einfach Verlass, wenn es darum ging, eine schlimme Situation immer noch ein kleines bisschen schlimmer zu machen.
„Hast du Besuch?“ Manni spähte in Richtung der hell erleuchteten Küche, betrachtete dann erneut Jotis blutige Hände und schob sich schließlich an ihm vorbei.
„Sag mal, wat is eigentlich los hier?“
Joti versuchte gar nicht erst zu protestieren, dazu war er einfach zu müde. Resigniert schlurfte er Manni hinterher. Kowalski trat aus der Tür und machte dabei ein Gesicht, als ob er soeben die Lieblingsvase seiner Mutter zerbrochen hatte.
„Hey Manni,“ grüßte er kleinlaut. Manni nickte ihm verwirrt zu, betrat die Küche und sog die Luft ein. Dann ging langsam zu Korgmann herüber. Interessiert hob er seinen der schlaff herabbaumelnden Arme hoch, ließ ihn wieder fallen und drehte sich zu Joti um.
„Du kannst es dir vermutlich schon denken, aber ich hab ein paar Fragen. Warum liegt Korgmann in deiner Küche? Und warum fehlt ihm ein Bein?“
„Manni, das lief alles n bisschen ...“, begann Kowalski, doch Manni schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.
„Du hältst die Schnauze! Mit dir redet doch gar keiner. Außerdem hab ichs mir anders überlegt. Ich will gar nicht so genau wissen, was passiert ist. Ändert ja nichts an der Tatsache, dass wir hier nen Problem haben, fürchte ich.“ Manni seufzte. „Weißt du, Korgmann war zwar ein Arschloch, aber leider nun einmal auch einer meiner Kollegen. Was glaubst du, sollen wir da jetzt machen?“
„Wie wärs, wenn du einfach wieder abzischst und so tust, als ob du nichts gesehen hast?“, erwiderte Joti, ohne sich allzu viele Hoffnungen zu machen. Manni begann zu grinsen. Ohne den geringsten Funken Humor.
„Mmh, das wird sicher nicht funktionieren. Wie sieht das denn aus? Wenn ich hier so was durchgehen lasse und Hagemann davon Wind bekommt?“ Er zog eine Pistole aus seiner Jackentasche.
„Das könnte sich rumsprechen, weißt du?“ Er warf dem schlotternden Kowalski einen abschätzigen Blick zu.
„Hier wird sich gar nichts rum...“, setzte der an und Manni schoss ihm ins Bein, Kowalski heulte auf und fiel um wie ein nasser Sack.
„Wooah Manni, mach mal halblang! Wir finden ne Lösung, ok?“ rief Joti.
„Bei aller Freundschaft. Wie stellste dir das denn vor? Ich mein, was soll ich denn Hagemann erzählen? In deiner Küche liegt immerhin der halbzerteilte Rest eines seiner besten Männer.“ Manni begann wieder zu grinsen und hob seine Hände. „Versteh mich nicht falsch, du hattest sicherlich deine Gründe, so eine Schweinerei zu veranstalten. Aber so leids mir tut, ich kann das nicht durchgehen lassen, Joti. Verstehst du?
Manni schüttelte den Kopf und versuchte, ein möglichst betrübtes Gesicht zu machen. Eine Pause entstand.
„Erinnerst du dich an unser Gespräch von vorhin? Dass wir den Chef hier mit ins Boot holen könnten?“
Joti schluckte. Ihm schwante Übles.
„Ich sag dir, wie wirs machen. Du räumst hier auf. Packst Korgmann und ihn hier,“ er nickte in Richtung des wimmernden Kowalskis“ schön in Säcke.“
Dabei deutete er ein entschuldigendes Schulterzucken an und erschoss Kowalski, ohne mit der Wimper zu zucken. Joti fuhr zusammen. Ihm war kotzübel und er musste sich zusammennehmen um nicht zu spucken.
„Wenn du fertig bist, rufste mich an, ich schick die Müllmänner vorbei und wir breiten über diese ganze unselige Geschichte den ewigen Mantel des Schweigens.“ Manni beugte sich nach vorne und raunte: „Dem Chef erzählen wir mal besser auch nichts davon, was?“ Manni schloss die Augen und legte seinen Finger über die Lippen.
„Dafür drückst du mir ab jetzt jeden Monat, mmh, sagen wir 30% ab. Und gleich am Montag setzen wir uns mit Hagemann zusammen und reden in Ruhe darüber, wie wir die Schweiz nach diesem ganzen Pandemiescheiß lukrativer gestalten können. Neues Inventar, Hipster-Publikum, house-Musik, work-space inklusive überteuerter Cocktails mit Schirmchen, solche Sachen eben.“
Manni strahlte Joti an. „Na, wie klingt das? Ach komm, spar dir den vorwurfsvollen Blick. Geschäft ist nun mal Geschäft. Gelegenheiten muss man nutzen, sonst kommt man unter die Räder. Du weißt genau, wies läuft. Wirst immer n guter Wirt sein, Joti. Und n guter Freund sowieso. Aber times they are a changing, weißte. Außerdem wüsste ich nicht, wie wir sonst deinen Arsch hier heil rausbekommen.“
Die beiden sahen sich einen Moment an. Schließlich begann Manni leicht zu nicken und klopfte Joti aufmunternd auf die Schulter.
„Lass das nicht zwischen uns stehen. Wirst sehen, irgendwann lachen wir drüber.“ Er zog die Nase hoch. „Also, ich würd sagen, du hälst dich besser ran.“ Vage deutete er in Richtung der beiden Leichen. „Wenn du alles vernünftig portioniert hast, rufste durch. Also, bis dann, Joti. Und lass die Tage mal n´ paar Bier trinken, ja?“
Eine Zeit lang stand Joti regungslos in seiner Küche. Betrachtete den armen Kowalski, die Leiche Korgmanns und das ganze Blut. Ein Haifischbecken. Die Welt ist ein Haifischbecken, dachte er. Die Kleinen bleiben auf der Strecke und werden von den Großen geschluckt. Geschäft ist Geschäft. Und Neutralität längst keine Option mehr.