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Hafen
Lautes Treiben in der U-Bahnstation Berliner Tor. An einem warmen Herbstsamstag wie diesen
wollen alle Menschen nach draußen um die letzten Sonnenstrahlen mit locker anliegenden Klamotten zu genießen. Die meisten bewegen sich in die Innenstadt um ihr verdientes Gehalt für Dinge auszugeben, die sie eventuell im Winter gebrauchen könnten.
Aufmerksam beobachtet Lina die Werbetafel am Gleis. Welche Nummer das Gleis hat, weiß sie nicht. Diese Frage hat sie sich nie gestellt. Sie weiß nur, dass die U3 richtung Barmbek von hier abfährt. Auf der Werbetafel, die nach ihrer Meinung ein gigantischer Fernseher ist, erscheinen Kurznachrichten und Fitnesstipps für die letzten warmen Tage des Jahres, bevor sich die sportbegeisterten Hamburger wieder in die neonbeleuchteten Fitnessstudios der Stadt verkriechen. Ihr Blick wandert weiter nach rechts. Aus dem dunklen Tunnel erscheinen nun mit lauter Vorankündigung die U-Bahn.
Bevor sie einsteigt wirft sie nochmal ein Blick auf ihr Smartphone. Drei Nachrichten in zwei Chats bei WhatsApp. Die erste Nachricht ist von Maike, die zwei anderen von einer Nummer, die sie mit Absicht nicht gespeichert hat. Die Nummer stammte von einer Bekanntschaft vom letzten Wochenende, auf die sie nicht gerade stolz ist. Als sie von ihrem Smartphone aufblickt merkte sie, dass die in der Bahn sitzt und diese schon längst losgefahren ist. Sie blickt weiter auf ihr Gerät. Zwei Freundschaftsanfragen auf Facebook, mehrere Benachrichtigung auf Instagram, fünf Snaps und ein Jodel. Am Rande ihres Blickfeldes merkt sie, dass es heller wird. Anscheinend ist die Bahn soeben schon am Rathaus gewesen und bewegt sich nun auf Rödingsmarkt zu. Aus dem Tunnel heraus stemmen sich große Gebäude hoch in die Luft. Sie blickt durch die großen Fenster der Bürogebäuden. Es vermischen sich kleinere Büroräume und Einkaufsgeschäfte in großen Gebäuden.
Schnell verfliegen ihre Gedanken, als ihr Handy in der rechten Hand anfing zu vibrieren. Erneut eine Nachricht von der ominösen Nummer. Nicht einmal an seinen Namen kann sie sich erinnern. Zu ihrer Linken leuchtet nun die Elbphilamonie im Nachmittagslicht des Spätherbst. Menschenmassen bewegen sich auf den vorgegebenen Wegen hin und zurück. Als sie das Gesamtbild genauer betrachtet, bemerkte sie, dass auf ihrer zarte Reflexion im Bahnfester ein schüchternes Lächeln auf den Lippen zu sehen ist. Aus einem Wagon weiter hinten hört sie nun jemanden mit einer Ziehammonika spielen und singen. Sie kennt dieses Lied. „Fly me to the moon“, von Frank Sinatra. Während sie aus dem Fenster schaut durchdringt sie eine wohltuende Ruhe, obwohl die U-Bahn zum Platzen voll ist. Landungsbrücken raus, denkt sie.
An den Landungsbrücken angekommen geht sie am Hardrock Cafe und am Elbtunneleingang vorbei. Die Sonne bewegt sich langsam Richtung Reeperbahn, und wird wohl bald hinter den Gebäuden der Partymeile verschwinden und einen lila Wolkenhimmel hinterlassen, bevor die Lichter von St. Pauli die Nacht zum Tag machen. Leicht geblendet vom Licht blickt Lina erneut auf das Display ihres Smartphones. Es besteht kurz die Versuchung ein Bild vom Hafen zu machen und es auf Snapchat zu teilen. Während sie ihren Weg zwischen Fischmarktstraße und Elbe in Richtung Fischauktionshalle fortsetzt, richtet sie ihre etwas zu große Brille. Sonnenbrille wäre eher angebracht, denkt sie.
Hinter Der Fischauktionshalle befindet sich ein Steg, an dem mehrere Fähren Hamburger und Touristen entlang der Landungsbrücken und weiteren Stegen bugsieren. Sie setzt sich auf eine von mehreren Bänken. Mehrere Menschen kommen über den Steg um die Aussicht auf den Hafen zu genießen. Junge und ältere Paare, Gruppen, Jugendliche und Asiaten mit Fotokameras. Wie klischeehaft. Aus ihrem Rucksack packt sie ihre Overhead Kopfhörer aus und verbindet diese mit ihrem Smartphone. Leicht genervt von den ganzen Benachrichtigung auf Instagram, Facebook und Whatsapp, stellt sie ihr Smartphone auf Flugmodus.
Die Musik fängt an zu spielen. Aus ihren Kopfhörer tönt nun „Misguided Ghosts“. Die einzigartige Stimme von Hayley Williams lässt Lina in eine leichte Trance verfallen. Als sie merkt, dass mehrere dicke Tränen an ihren Wangen hinabrollen, schreckte sie leicht auf. Während sie versucht die Tränen wegzuwischen, schaut sie leicht nervös nach links und nach rechts. Hoffentlich hat das niemand gesehen, denkt sie.
Mit einem Taschentuch putzt sie sich ihre Nase. Während ihre Playlist sich von Titel zu Titel weiterarbeitet, denkt sie weiter über die letzten Monate nach. Mittlerweile spielt ihre Playlist „Seaside“ von den Kooks. Eine leichte Gitarrenkompsition, die den Hafen um ihr herum, trotz der nach und nach untergehenden Sonne, glänzen lässt. Als der lila Wolkenhimmel von Minute zu Minute einen immer dunkel werdenden Farbton annimmt, packt sie ihre Kopfhörer in ihre Tasche und beschließt sich auf den Weg nach Hause zu machen. Mittlerweile ist die Bahn nicht mehr so überfüllt. Nachdem sie Rödingsmarkt passiert haben, und in den Tunnel zum Rathaus hineinfahren, befreit sie ihr Handy vom Flugmodus. Die Zahl der Benachrichtigungen steigen auf mehr als das Doppelte. Mit jeder Station, die die Bahn passiert und sie näher zu ihrer Wohnung bringt, spürt sie wie etwas auf ihren Schultern immer schwerer wird. An der Horner Rennbahn angekommen fährt sie mit ihrem Fahrrad die letzten fünf Minuten zu ihrer Wohnung.
Ihre Einzimmerwohnung ist von einem Dunkelgrau erfüllt. Kein Sonnenstrahl der Dämmerung erreicht ihr Fenster. Sie schaltet die Wohnzimmerlampe neben den Sessel an, auf den sie sich fallen lässt. Das taube neongelbe Licht der Lampe erhellt das Zimmer bis in die letzte Nische. Ihr Kopf streckt sie entgegen der Zimmerdecke. Ein paar Minuten harrt sie so aus, dann nimmt sie ihr Handy und beantwortet alle Benachrichtigungen. Dann berührt ihr Daumen den Ein-/Ausschaltknopf ihres Gerätes für ein paar Sekunden, und schaltet es aus. Erneut verharrt sie in ihrem Sessel, mit dem Blick gegen den nicht vorhandenen Himmel gerichtet. Anschließend schaltet sie das neongelbe Licht aus.
Dann schaltet sie die Welt aus.