- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Haben Sie auch zu wenig Zeit?
Haben Sie auch zu wenig Zeit?
Wieder einer dieser gottverdammten Montage – und natürlich schönstes Wetter! Vor Holger lag ein langer arbeitsreicher Werktag. Missmutig stand er auf und schleppte sich schlaftrunken ins Badezimmer. Soviel zu tun und so wenig Zeit. Holger hockte in seiner grünen Badewanne und starrte den Wassertropfen nach, die langsam vom Wannenrand in Richtung Ausguss flossen. Fast wollte er Ihnen zurufen: „Nur noch ein paar Meter und Du bist endlich frei!“ Doch das hätten die Nachbarn vielleicht durch die hellhörigen Wände gehört, und so ließ er es lieber sein.
Immer noch müde und schlecht gelaunt, schüttete er ein bisschen Müsli in eine Glasschale und holte die Milch aus dem Kühlschrank. Heute versprach ein toller Tag zu werden, Sonne, nicht zu heiß, fast windstill – aber nur für die, die sich dem alltäglichen Trott der Arbeit verschrieben hatten. Seit zehn Jahren stand Holger nun an jedem Werktag auf, ging brav zur Arbeit, kam abends zurück, sah etwas im Fernsehen und ging wieder zu Bett. Der tägliche Trott war ihm schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er nicht mal mehr am Wochenende lang schlafen konnte.
Die Wohnung erstickte im Chaos. Überall lagen Kleider und aufgerissene Verpackungen herum. Vor langer Zeit war Holger noch ein ordentlicher Mensch, der gewissenhaft seine Wohnung in Stand hielt, doch seit ihn seine Freundin vor einigen Monaten verließ (er hatte zu wenig Zeit für sie gehabt), war es ihm gleichgültig. Er lebte, nein, er vegetierte von Tag zu Tag. Was hatte er noch vor gar nicht allzu langer Zeit alles noch machen wollen – das meiste scheiterte an fehlender Zeit. So blieb alles halbfertig liegen und erhöhte dadurch nur seinen Missmut.
So langsam begannen auch die hintersten Gehirnzellen zu merken, dass sein Körper bereits seit etwa zwanzig Minuten wach war und stellten ihm wie jeden Morgen die immer gleiche Frage: „Warum?“ Den ganzen Tag arbeitete er, um sich von der allgegenwärtigen Werbung zu irgendwelchen Impulsivkäufen hinreißen zu lassen, die wenig später in irgendeiner Ecke landeten und oft dort blieben, bis sie beim nächsten Frühjahrsputz in den Müll wanderten. Er hatte einfach zu wenig Zeit, den Dingen die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.
Immer öfter kam ihm das Lied „Ich war noch niemals in New York“ von Udo Jürgens in den Sinn. Nicht, dass er nach New York gewollt hätte, er war mehr ein naturverbundener Mensch, der einsame Spaziergänge in der Natur über alles liebte. Dennoch dachte er oft daran, wie es wäre, einfach auszusteigen. Er hatte sich sogar schon einmal krankgemeldet, hatte einen größeren Batzen Geld abgehoben und war zum Flughafen in Frankfurt gefahren. Doch dann hatte er nur den Fliegern beim Abheben zugeschaut und war, wie im Lied, am Abend brav nach Hause zurückgefahren. Er war einfach nicht der Typ, der alle Schranken hinter sich einreißen konnte.
Schweigend schloss er seine Haustür ab und ging schnell zur Bushaltestelle, um noch den 7:15 Uhr-Bus in die Arbeit zu erwischen. Nach dem allmorgendlichen Begrüßungsritual, das weitgehend automatisch ablief, setzte er sich vor seinen Computer und begann mit der Arbeit. Wenig später verkündete seine Mailbox mit einem fröhlichen Geklinge, dass die zu bearbeitenden E-Mails soeben eingetroffen sind. Flüchtig überflog er die eingegangenen Mails, bis seine Augen an der Betreffszeile „Haben Sie auch zu wenig Zeit“ hängenblieben. Zögernd klickte Holger die betreffende Nachricht an und las:
Haben Sie auch zu wenig Zeit?
Wir bieten Ihnen ein einmaliges Angebot. Dies ist keine Spam-Mail oder einer dieser mehr oder weniger witzigen Kettenbriefe, sondern der Weg in die wirkliche Freiheit. Wie lange arbeiten Sie täglich? 8 Stunden? Gut, stellen Sie sich vor, Sie müssten weiter 8 Stunden pro Tag arbeiten, allerdings hätte ein Tag nicht 24 Stunden, sondern 36, 48 oder noch mehr Stunden? Überlegen Sie mal, was Sie in dieser Zeit alles anstellen könnten! Die Länge der zusätzlichen Zeit bestimmen Sie selber ganz nach Belieben.
Sie werden nur einmal eine Antwort schicken müssen, und schon haben Sie soviel Zeit wie Sie wollen.
Es gibt nur zwei Voraussetzungen, die Sie erfüllen müssen, um die zusätzliche Zeit zu erwerben:
1. Sagen Sie niemals zu irgendjemanden etwas über diese Mail oder alle damit verbundenen Ereignisse
2. Sie dürfen die zusätzliche Zeit ausschließlich für sich alleine und nicht für irgendwelche illegalen Machenschaften nutzen.
Wir werden Ihnen dieses Angebot nur einmal machen. Entscheiden Sie sich jetzt dafür oder Sie werden es ein Leben lang bereuen. Wenn Sie die zusätzliche Zeit wollen, so schicken Sie diese Mail zurück an uns. In wenigen Tagen erhalten Sie dann unser Paket – vollkommen kostenlos!
P.S. Diese Mail wird sich nach zehn Minuten automatisch löschen
Holger las die Mail ein zweites Mal. Er dachte natürlich an einen dieser Kettenbriefe, aber er konnte keine Falle entdecken. Sicherheitshalber wollte er sich den Brief aufheben, doch der Ausdruck lieferte trotz mehrmaligen Versuchen nur weiße Blätter. Nur noch wenige Sekunden blieben ihm für eine Entscheidung. Letztendlich siegte doch die Neugier, und mit einem unsicheren Gefühl drückte Holger auf den Antwortknopf seines Mailprogramms.
Drei Tage später, er hatte die Mail schon komplett aus dem Gedächtnis verdrängt, lag vor Holgers Tür ein kleines viereckiges Paket. Lediglich seine Adresse stand mit schwarzen Filzstift auf dem hellbraunen Paketpapier – keine Briefmarke oder Absenderadresse. Unsicher schüttelte Holger das Paket – das Geräusch klang wie ein Kieselstein in einem leeren Karton. Unschlüssig stellte er das Päckchen auf den Küchentisch. Was wenn eine Bombe drin wäre? Doch wieder siegte die Neugier über den Verstand und Holger holte seine Küchenschere und schnitt das Paketpapier langsam auf. Der darunter zum Vorschein kommende weiße Karton, war unverschlossen und hatte ebenfalls keinerlei Aufschriften. Zögernd öffnete Holger auch diesen und blickte in den Karton. Der Karton war leer, lediglich ein kleiner gelbgrüner Stein lag auf dem Boden. Vielleicht ist er giftig, dachte Holger und hob den Stein, um ihn nicht anfassen zu müssen, mit der Schere aus dem Karton. Es war kein Edelstein und auch kein ihm bekanntes Mineral. Vielmehr sah er aus wie ein milchig-grüngelber Kiesel. Vorsichtig berührte er das ebenfalls auf dem Küchentisch stehende Usambaraveilchen mit dem Stein. Nichts! Auch die Yuccapalme und der Oleander zeigten keine Reaktion. Unschlüssig legte Holger den Stein auf den Küchentisch und beschloss erst einmal abzuwarten, ob die Pflanzen auch morgen noch vorhanden waren.
Wieder einer dieser gottverdammten Werktage – na wenigstens ist Freitag! Missmutig stand Holger auf und schleppte sich Schlaftrunken ins Badezimmer. Soviel zu tun und so wenig Zeit. Nachdem er sich abgetrocknet und angezogen hatte, schüttete er sich schlecht gelaunt ein bisschen Müsli in eine Glasschale und holte die Milch aus dem Kühlschrank. Ohne Nachzudenken hob er dabei den gelb-grünen Stein auf, um ihn aufs Fensterbrett zu legen. Erst einige Sekunden später schafften es seine Synapsen, im Hirn die Verbindung zwischen den Ereignissen zu kombinieren, und Holger erstarrte in der Bewegung. Da er nach zehn Sekunden immer noch lebte, kam er zu dem Schluss, dass der Stein wahrscheinlich doch nicht giftig war. Sein Blick glitt über die Küchenuhr, die gerade eine Minute vor sieben anzeigte. Doch auch wenn er sich anstrengte, er konnte keine Veränderung gegenüber vorher feststellen. Schade, war also doch nur ein Gag, dachte Holger und schob sich den Stein in seine Hosentasche. Enttäuscht begann er wenigstens das Geschirr abzuwaschen und räumte anschließend auf der Suche nach einem bestimmten Socken wieder einmal den Wäscheberg von einem zum anderen Stuhl. Als er fertig war sah er gewohnheitsmäßig zu Küchenuhr – immer noch 6:59 Uhr! Das Ding ist doch schon wieder stehengeblieben! Ärgerlich suchte Holger sein Armbanduhr und erstarrte – auch seine Swatch, die auf dem Küchenregal herumlag, zeigte 6:59 Uhr! Erst jetzt fiel im auf, dass sich der Sekundenzeiger nicht bewegte.
Er kramte in seiner Hosentasche nach dem Stein und schaute ihn sich noch mal genauer an – doch der Stein zeigte keine Veränderung und glänzte immer noch in dem milchig-grün-gelben Farbton. Er legte ihn zurück auf den Küchentisch und schaute zur Uhr. Wie wenn nichts geschehen wäre, tickte der Sekundezeiger unaufhaltsam in Richtung sieben Uhr. Holger nahm den Stein erneut auf. Der Zeiger ruhte – wie vom Donner gerührt ließ sich Holger auf seinen Küchenstuhl sinken. Als er eine ganze Weile später aus seinen Gedanken aufwachte und den Stein erneut betrachtete, war es immer noch kurz vor Sieben.
Holgers Leben änderte sich durch den Stein grundlegend. Schnell hatte er herausgefunden, dass die Zeit sehr wohl weiterlief, allerdings in einem unendlich langsamen Rhythmus. Nach seinen eigenen Schätzungen entsprachen etwa drei Tage einer Sekunde. Zudem schien alles was er berührte in den Zeitrhythmus des Steins zu fallen. So war es ihm beispielsweise ohne Probleme möglich, eine Pizza zu backen, solange er den Ofen berührte. Auch seinen Computer konnte er benützen, ja sogar sein Walkman funktionierte einwandfrei, solange er ihn sich umschnallte. Seine Befürchtung, die Dinge könnten durch die übermäßige Beanspruchung überfordert werden oder sogar auseinanderfallen, bewahrheitete sich nicht, vielmehr funktionierten sie so wie eh und je – nur eben in einer anderen Zeiteinteilung.
Doch Holger war vorsichtig. Niemand sollte sein Geheimnis herausbekommen und so verwendete er den Stein zunächst nur sehr vorsichtig. Immerhin gewöhnte er sich an, den Stein gleich am Morgen in seine Hose zu stecken und erst gemütlich alles zu erledigen, was er an dem Tag zu tun hatte. Egal ob Blumen gießen, Staubsaugen, Bügeln, den Abwasch vom Vortag oder einfach ein gutes ausgiebiges Frühstück ohne Stress – er leistete sich alle Zeit, die er brauchte. Erst wenn er alles fertig hatte und zufrieden seine Arbeitskleidung zusammengesucht hatte, legte er den Stein wieder aus der Hand und ging zur Arbeit. Natürlich war dort seinen Kollegen die Veränderung an ihm aufgefallen. Er kam stets gut gelaunt und erholt in die Arbeit, schimpfte nicht mehr über die Dinge, die er alle noch zu tun hatte und fing sogar an jeden Mitarbeiter freundlich am Morgen zu begrüßen, was er bislang noch nie getan hatte.
Als nächstes gönnte er sich auch am Abend eine Auszeit. Er genoss es, an schönen Sommerabenden mit dem Rad durch die Landschaften zu fahren, ohne auch nur von einem Auto gestört zu werden, die ja alle wie versteinert auf der Straße standen. Als er wieder daheim war, legte er den Stein dann wieder ab, um den Tag mit etwas Fernsehen zu beenden. Zunächst hatte er den Stein dabei immer mitten auf den Küchentisch gelegt, als jedoch eines Tages ein Freund, der ihn besuchte, nach dem Sinn dieses Steins fragte, wurde er vorsichtiger. So versteckte er den Stein am nächsten Tag in einem Blumentopf auf dem Küchenregal. Ale er dann wenige Stunden später von Arbeit heimkam, hatte sich die Küche in einen vertrockneten Urwald verwandelt. Die Pflanze war in den wenigen Stunden um Jahrzehnte gealtert und dementsprechend gewachsen. Holger wunderte sich nur, wie die Pflanze ohne Wasser so groß werden konnte, doch als er die Wurzeln in der nun knorrentrockenen Gießkanne entdeckte, wusste er woher die Pflanze das Wasser hatte.
Gerne hätte Holger den Stein auch für andere Dinge benutzt. Er stellte sich vor, wie einfach es wäre, mit dem Stein einen Banküberfall zu machen. Er hätte das Geld vor den Augen der Kassierer nehmen können, ohne dass irgendwer etwas bemerkt hätte. Auch malte er sich aus, wie einfach er mit dem Stein jeden Menschen ausspionieren könnte. Doch er widerstand den Versuchungen, da er fürchtete, die Macht des Steines zu verlieren. Dafür benutzte er den Stein für andere Dinge, die er sich immer gewünscht hatte, aber aus Zeitgründen nie geschafft hatte. Er lernte Klavierspielen und verbesserte seine Fremdsprachenkenntnisse, er besuchte botanische Gärten und ging ins Fitnessstudio.
Ohne es anfänglich zu merken, wurde er immer mehr abhängig von dem Stein. Er benützte ihn immer öfter. Bald bestand ein echter Tag aus drei oder vier gedehnten, später oft einer ganzen Woche oder sogar zwei. Natürlich wurde er auch immer risikobereiter, was den Einsatz des Steines betraf. So nahm er ihn auch in die Arbeit mit, um dort jederzeit eine kurze Pause machen zu können. Seine Frühstückspause um 10 Uhr dehnte er oft auf mehrere Stunden aus. Gleichzeitig wurde er wieder unruhig und missmutig. Da er alles schon erledigt hatte, wusste er sogar zeitweise nicht mehr wohin mit der Zeit. Zudem vereinsamte er immer mehr. Zwar hatte er immer noch so viele Freunde und Besuche wie früher, doch durch seine Zeitsprünge, hatten die Zeitintervalle zwischen den Besuchen drastisch zugenommen. Zeitweise sehnte er sich sogar nach seinem alten Leben zurück. Als er aber versuchte, einen Tag ohne den Stein durchzustehen, geriet das ganze zum Fiasko. Vollkommen aus dem alltäglichen Rhythmus gekommen, verspätete er sich überall, kam mit der Arbeit nicht zurecht und fuhr schließlich in der Mittagspause heim, um den Stein zu holen.
Wie ein Drogenabhängiger oder ein Alkoholiker kämpfte Holger nun gegen die Sucht. Langsam, Schritt für Schritt, versuchte er sich vom Gebrauch des Steines zu entwöhnen. Zunächst verwendete er ihn immer kürzer, verzichtete dann auf die Verwendung in den Arbeitspausen und steigerte sich über die gesamte Arbeitszeit bis in den Feierabend. Drei reale Monate nachdem er den Stein das erste Mal verwendet hatte, ging er das erste Mal wieder ohne den Stein aus dem Haus. Froh, seine Abhängigkeit überwunden zu haben, gewann er sogar wieder an Ruhe und Ausgeglichenheit. Doch was sollte er mit dem Stein anstellen? Er wollte ihn nicht mehr benützen. Da fiel sein Blick auf seine Arbeitskollegin Petra. Diese sah wirklich überarbeitet aus. In einem Gespräch stellte sich heraus, dass sie kaum noch Zeit für sich hatte – Arbeit, Kind, Sportverein und Haushalt fraßen all ihre Zeit auf und plötzlich wusste er was er mit dem Stein machen sollte.
Am nächsten Tag schickte Holger eine Mail an sie. Neben ihm lag sein Stein, und er freute sich richtig, ihn noch ein letztes Mal zu benützen. Er beobachtete von seinem Platz aus, wie sie die Mail las und schließlich den Drucker betätigte. Er lächelte – genau das gleiche hatte auch er getan. Als der Drucker seine Arbeit beendet hatte, nahm er den Stein in die Hand und die Zeit im Büro blieb stehen. Wo eben noch hektischer Lärm den Raum erfüllte, herrschte nun Totenstille. Langsam stand er auf und ging zum Drucker, nahm das gerade von Petra gedruckte Blatt Papier und legte dafür ein unbedrucktes in das Ausgabefach. Wenig später – er hatte den Stein wieder aus der Hand gelegt – beobachtete er, wie Petra die Mail schließlich abschickte. Ein allerletztes Mal umfasste er den Stein und genoss noch einmal die Totenstille, dann ging er zu ihrem Computer, um seine Mail aus ihrem Posteingang zu löschen. Als er sich danach wieder an seinen Schreibtisch setzte, legte er den Stein in einen an Petra adressierten Karton, nahm dann ihren Ausdruck und steckte ihn in den Reißwolf. Kurz bevor das Papier ganz verschwunden war, blieb sein Blick auf einer Zeile hängen:
Haben Sie auch zu wenig Zeit?