"H"
Zum wiederholten Mal bettelte ich Samuel um “H” an. Die Entzugserscheinungen hatten bereits begonnen. Meine Hände zitterten, mir war übel und ich fror schrecklich. Doch er blieb hart. Gekrümmt lag ich auf dem Ledersessel in einem Sechserabteil der 1. Klasse. Der InterRegio würde in Kürze Offenburg erreichen. Laut heulte ich auf.
,,Ich kann nicht mehr...Scheiße...gib mir endlich etwas Schore.”
Nachdenklich zog Sam ein kleines mit weißem Pulver gefülltes Päckchen aus seiner abgewetzten Jeansjacke. In diesem Moment fuhr die Tür zurück und der Schaffner stand verblüfft in der Öffnung. Der junge Mann erkannte sofort den Inhalt des Päckchens. Hastig griff er zu seinem Funkgerät und
murmelte etwas von ,,Dealer” und ,,Heroin” hinein. Samuel sprang auf und zog die Notbremse. Die Bremsen quietschten, der Zug schlingerte, als wolle er jeden Moment entgleisen und ich kugelte aus meinem Sessel. Sam prallte gegen den Schaffner und fiel mit ihm auf den Gang. Mit schmerzverzerrtem Gesicht raffte ich mich auf, stolperte über die Beiden drüber und kämpfte mich zum Ausgang. Dort drückte ich kraftlos den Türöffner und kippte ohnmächtig in die Dunkelheit.
Sam schleppte mich durch die nasskalte Nacht. Die vom Regen aufgeweichten Felder verwandelten sich in Sumpflandschaften. Sams Schritte wurden immer langsamer. Erschöpft brach er schließlich zusammen. Wir lagen am Rande eines kleinen Nadelwaldes. Schützend beugte er sich über mich.
,,Schatz, wir schaffen das. Wir sind bald in Offenburg. Von dort fährt der ICE nach Hannover.”
Gequält zog ich meine ausgemergelten Beine an meinen vom Heroinkonsum gezeichneten Körper. Ich versuchte ein Lächeln:
,,Turboentzug unter Narkose. Das wird ja ein richtiger Spaß.”
Meine Eingeweide verkrampfen.
,,Kleines, kämpfe. Die UROD wird dich von dem Dreck befreien. ”
,,Diese Ultra Rapid Dingsda macht mir ne Scheissangst”, presste ich würgend hervor. Tröstend legte er den Arm um mich. Die Nässe durchdrang bereits unsere Kleidung. Die vom Sprung aus dem Zug zerfetzte Jeans umklammerte eisig meine Schenkel. Unsere ehemals weißen Adidas-Turnschuhe waren schlammverdreckt. Meine Zehen spürte ich schon lange nicht mehr. Übelkeit stieg in mir auf, ich mußte mich übergeben und kotzte Sam über den Arm. Erschöpft lehnte ich mich zurück. Sam schmiegte sich trotz des unappetitlichen Geruchs dicht an mich. Sein Flüstern drang nur noch zur Hälfe in mein Gehirn:
,,Sandra, ich werde immer für dich da sein. Ich lie....”
Dann war nichts mehr.
Ein unwirkliches Geräusch drang an mein Ohr. Bin ich tot? war mein erster Gedanke. Ich konnte es nicht zuordnen. Geistig befand ich mich immer noch in der Drogenentzugsklinik, von der ich die halbe Nacht zwischen Schlaf und Ohnmacht geträumt hatte. Die Ärzte hatten meinen Körper auseinander genommen, jeden Partikel der tödlichen Substanzen entfernt und den übrig geblieben Blut-Fleisch-Haut-Matsch unter grausamen Schmerzen wieder zusammen gefügt. Ich öffnete die Augen. Mein Kopf pochte wild. Sam lag halb über mir. Ich schob ihn zur Seite. Nebelschwaden verdeckten die aufgehende Sonne. Wir hatten tatsächlich diese frostige Herbstnacht überlebt. Erst jetzt konnte ich das Geräusch zuordnen. Mein Handy klingelte. Fröhlich durchdrang Kate Perrys “Hot n Cold” den bitterkalten Morgen. Endlich blinzelte Sam, zog seinen Arm unter mir heraus und griff verwirrt in seine morastige Jacke. Außer den Drogen hatte er mir auch mein Handy abgenommen, damit ich nicht telefonisch neues “H” bei meinem Dealer ordern konnte. Das Päckchen Heroin fiel heraus, darunter kam das Handy zum Vorschein. Gierig starrte ich auf das salzförmige Pulver. Sam bemerkte meinen Blick und stopfte das Päckchen schnell zurück. Er drückte die Empfangstaste. Jemand brüllte in das Handy, doch ich konnte nichts verstehen. Ich sah in seine tiefblauen Augen und bemerkte, wie etwas darin zerbrach. Verzweiflung und Angst überzogen sein pockenvernarbtes Gesicht. Plötzlich schrie er auf, holte aus und zerschmetterte das Handy an einer Tanne. Tonlos meinte er:
,,Wir müssen zurück.” Panisch sah ich ihn an.
,,Was hast du...Bitte sag ...!” Entschlossen packte er mich an der Schulter und zog mich hoch.
,,Komm schon.” Entmutigt schüttelte ich den Kopf.
,,Ich pack den Rückweg nicht.”
Er rieß mich mit.
,,Komm endlich, du hast mich angelogen”, schrie er mich an.
Ein sanftes Rot verdrängte langsam die Nebelschwaden. Wenigstens scheint die Sonne, wenn ich sterbe, dachte ich, bevor mich erneut die Dunkelheit umfing.
Ich kann mich bis heute nicht erinnern, wie wir den Weg zurück nach Freiburg geschafft haben. Nur die Veränderung in Sams Augen, von Verzweiflung in Wut, werde ich nie vergessen. Die meiste Zeit verbrachte ich im Delirium. Halluzination quälten mich. Aber irgendwann erreichten wir diese weiße Villa mit den heruntergelassenen Jalousien. Wir standen inmitten einer luxuriösen Wohnsiedlung mit gepflegten Vorgärten. Üpige Sträucher und riesige Mauern umschlossen die Rückzugsgebiete der Reichen. Ab hier setzten meine Erinnerungen wieder ein. Ich kannte dieses Haus. Rolf Greves Haus. Das Haus des Dealers.
Regungslos standen wir vor der teilverglasten Kunststofftüre.
Verzweifelt knuffte ich Sam in den Arm.
,,Was machen wir hier? Wir können da nicht hinein.”
Meine Stimme war nur noch ein Murmeln. Er gab keine Antwort. Vorsichtig sackte ich auf die Betonstufen. Sam kniete sich neben mich, schnappte nach meiner Hand und fragte mit leichtem Vorwurf in der Stimme:
,,Wie konntest du nur einem der gefährlichsten Männer des Breisgaus Geld klauen? Der wird uns alle umbringen.” Beschämt senkte ich den Blick.
,,Sam, ich... ich hatte keine andere Wahl. Während du arbeiten warst, habe ich das für den Entzug geplante Geld Greve gegeben. Dafür habe ich neues “H” erhalten.”
Ich stockte und durchwühlte resignierend meine blonden gelockten Haare.
,,Ich war so schwach und hatte eine Heidenangst, dass du mich verlässt, wenn ich dir gestehe, dass ich mit unserem gesparten Geld weitere Drogen gekauft habe.” Zärtlich drückte er mich:
,,Du bist so dumm, so saudumm. Ich liebe dich und geh mit dir bis ans Ende der Welt um diese Drecksdrogen zu besiegen.” Ich sah ihm in die Augen und atmete tief ein:
,, Ich hatte dir versprochen, den Drogenentzug in dieser Spezialklinik Cfs durchzuziehen. Irgendwann hättest du gemerkt, dass das Geld auf unserem Gemeinschaftskonto fehlt, also musste ich es wieder beschaffen. Unter dem Vorwand neues “H” zu brauchen, bin ich in seine Wohnung."
Leichter Wind kam auf und ich zuckte zusammen, als das Gartentor krachend gegen die Mauer schlug. Sams Griff wurde fester.
,,Ich wusste, dass er Drogengeld lose in der Küchenschublade liegen hat. Haufenweise. Als er das “H” holen ging, huschte ich in die Küche, öffnete die Schublade und da lag ein Vermögen. Ich dachte, das er es nicht mal bemerkt, wenn 10000 Euro fehlen.” Sam stöhnte:
,,Oh doch, er hat es bemerkt, allerdings erst heute morgen. Du musst die einzige gewesen sein, die in der letzten Woche bei ihm war. Er hat dich sofort verdächtigt. Er hat deine Mutter und Mia...”
Aus dem Haus gellte ein Hilfeschrei ins Freie.
,,Mia, ich komme.” brüllte Sam, schnellte hoch und sprang kraftvoll gegen die Tür. Diese flog auf und Sam rannte hinein.
Mein geschundener Körper mobilisierte seine letzten Kräfte. Mia, durchfuhr mich seit Tagen der erste klare Gedanke. Sams kleine Schwester. Sie und meine Mutter waren in der Gewalt des Dealers. Lautes Geschrei drang aus der Wohnung. Ich schleppte mich die Stufen hoch und betrat die Villa. Über den abgedunkelten Flur erreichte ich das Wohnzimmer. Durch die schweren Jalousien drang kein Tageslicht in das überfüllte Zimmer. Eine Stehlampe erhellte den Raum. Die linke Seite wurde von einer edlen Wohnwand aus heller Eiche dominiert. Ein gewaltiger LCD-Fernseher spuckte die neusten Kriegsnachrichten aus dem Nahen Osten aus. Vor der gegenüberliegenden Wand stand Rolf Greve. Mia war an eine massive Eckbank gefesselt und Greve hielt ihr eine Pistole an die Schläfe. Meine Mutter lag zusammengeschnürt auf dem Boden. Der Dealer brüllte Sam unbeherrscht an. Sam stand sprungbereit in der Mitte des Raums.
,,Rück die Kohle raus, sonst ist die Kleine tot.” Hektisch schwenkte er die Pistole herum und entdeckte mich am Eingang.
,,Da bist du ja, du Biest. Wo ist mein Geld? Ich knall dich ab.” Die Mündung seiner Waffe fuhr nach oben und ein Schuss löste sich.
Mama lag mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus. Mia und ich standen am Grab. Er war für mich da gewesen, so wie er es mir vor wenigen Tagen am Rande des Nadelwaldes versprochen hatte. Die Kleine drückte sich an mich und weinte lautlos. Ihre Tränen liefen über meine Hände.
,,Danke, Sam. Danke, dass du mein Leben gerettet hast. Du fehlst mir so sehr.” flüsterte ich. Sam hatte sich in die Schussbahn geworfen und die Kugel hatte ihn erwischt. Er war in meinen Armen verblutet. Die Nachbarn Greves hatten den Schuss gehört und sofort die Polizei verständigt. Diese hatte uns aus den Händen des Schwerverbrechers befreit.
Ich liebe dich, Sam. Wo immer du jetzt auch bist. Jetzt habe ich die Kraft, den Entzug zu überstehen. Die Ultra Rapid Opid Detofixication macht mir keine Angst mehr.