- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
H.E.I.L. Europe
Kevin Pascal Schlüter war ein wirklich fleißiger und akribischer Mitarbeiter der Europabehörde „Agency for Health, Environment, Infrastructure and Lifestyle“, besser bekannt unter ihrem Kurznamen „H.E.I.L. Europe“. Er erfüllte dort die Funktion eines H.E.I.L. Accessors für den Privathaushalt, was nichts anderes bedeutete, als die ständige und unangekündigte Kontrolle eines jeden EU Bürgers auf die Einhaltung der Gesetze innerhalb seiner Wohnung. Dieser Beruf passte gut zu dem fülligen, leicht untersetzten und peniblen Deutschen.
Nach der großen Terrorwelle zur Jahrtausendwende wurde die Justiz der akuten Bedrohung nach und nach angepasst. Da wirklich jeder ein potentieller Terrorist ist, oder auch werden kann, oder mal war, wurde die Methode der „kompletten Beweislastumkehr“ auf das Gesetz angewandt. Nun musste jeder Bürger regelmäßig Beweisen, dass er gegen keine Gesetze verstoßen hat, oder gar ein Terrorist ist. Dazu pflegte jeder Bürger eine Kamera mit sich zu führen und den kompletten Tagesablauf lückenlos aufzuzeichnen. Nur so war zweifelsfrei zu beweisen, dass man wirklich ein unbescholtener Bürger war. Da die List eine Freundin des Terrors ist, wurde die Bevölkerung natürlich trotzdem regelmäßig besucht und kontrolliert bzw. es wurde ein staatlicher Service angeboten.
Nach einem schönen und erfolgreichen Arbeitstag, das bedeutete genau vier Verwarnungen wegen Übergewicht, Konfiszierung einer illegalen Sachertorte und einer nicht versteuerten Zigarette, war Kevin auf dem Nachhauseweg. Seine Behörde überwachte auch die Gesundheit des Bürgers und Übergewicht wurde verboten. Viel zu ungesund und erst die Kosten im Gesundheitssystem! Ausnahmen wurden nur selten gemacht, und wenn, dann nur mit ärztlichem Attest. Zum Service der Behörde gehörte daher auch Kontrolle der Fitness und Ernährung. Jegliche Süßigkeiten wurden extra besteuert und man benötigte eine Lizenz (Ernährungsführerschein), um sie gelegentlich (Geburtstage, Weihnachten) zu konsumieren.
Kevin liebte seinen Beruf, denn er wusste, dass er den Menschen damit half, obwohl er nicht sehr beliebt war. Kurz vor seinem Wohnblock wurde er von einem Polizisten angehalten. Er bemerkte erst dann, dass ein großräumiger Bereich vor einem Werbeplakat mit Flatterband abgesperrt war und mehrere Polizisten scheinbar Beweismaterial und Proben sammelten.
Der Polizist sprach ihn in einem sachlichen Ton an: „Guten Abend. Allgemeine Polizeikontrolle. Weisen sie sich bitte aus.“ Verdutzt reichte Kevin ihm seinen Ausweis, während der Retina-Scanner in der Mütze des Beamten seine Augen kurz aufblitzen ließ. „Guten Abend. Was ist denn hier passiert? Schon wieder ein Bio-Anschlag?“ Der Polizist, nun grimmiger: „Ja. Das dritte Mal diesen Monat. Wenn ich mir vorstelle, was da für Keime drin sein könnten. Nur ein Mensch ohne jegliche Moral würde an ein Plakat spucken!“
Kevin nickte eifrig und bestärkte den Polizisten in seiner Meinung noch: „Sie haben vollkommen Recht! Diese Schweine gefährden unsere Gesundheit und damit die Sicherheit von Europa! Ich hoffe, sie packen den Täter schnell.“ Der Polizist entwickelte eine Sympathie für Kevin und so wurde seine Reaktion auf die Meldung in seinem Display ein wenig abgemildert. Besorgt sagte er zu ihm: „Oh, da gibt es wohl ein Problem mit ihrer BP. Die ist gestern abgelaufen! Haben sie die Erneuerung nicht beantragt?“ Nicht mehr so agil und ein wenig blass antwortete Kevin: „Meine Bürgerplakette ist abgelaufen? Was? Das kann doch nicht sein. Ich habe sie letzte Woche doch erneuert! Hier muss es sich um einen Fehler handeln!“. Nun zog ihn der Polizist näher und flüsterte in sein Ohr: „Hören sie, irgendwie sind sie mir sympathisch, aber behaupten sie nie wieder, der EU Zentralrechner würde einen Fehler machen. Das ist ausgeschlossen! Ich belasse es bei einer Verwarnung, aber gehen sie morgen früh direkt in die Bürgeragentur und lassen sie das regeln. Das ist eine ernste Sache, mein Junge!“ Da hatte Kevin aber Glück gehabt, einen so netten Polizisten zu treffen.
Mit einer abgelaufenen BP drohten ihm massive Steuererhöhungen, die einen Ausgleich für sein nicht konformes Verhalten darstellten, welches ernorme Kosten im System verursachte. Er bedankte sich und ging schleunigst nach Hause.
Nach einer unruhigen Nacht brach Kevin schon in der Frühe auf und war Erster in der Schlange vor der Bürgeragentur. Er kam schnell dran und betrat ein kastenförmiges Büro, welches nicht einmal den Versuch unternahm, Geborgenheit zu verbreiten.
Er setzte sich vor den Schreibtisch einer beleibten und unattraktiven Sachbearbeiterin. Mit einer Art Grunzlaut sagte sie: „Ja bitte? Was kann ich für sie tun?“ Die Nervosität trieb ihn zur Eile. „Guten Morgen. Schlüter. Kevin Schlüter. Es gibt ein Problem mit meiner Plakette. Sie ist angeblich abgelaufen. Könnten sie das Überprüfen und sie gegebenenfalls verlängern?“ Erst daraufhin hob sie ihren Kopf komplett und schaute sich Kevin genauer an. „Herr Schlüter, wie kann man denn vergessen, die BP zu verlängern? Das weiß doch jedes Kind, dass man alle drei Monate eine Verlängerung beantragt. Das macht sie verdächtig.“ Kevin sank ein paar Zentimeter ein und wollte ihr gerade kundtun, dass er sehr wohl eine Verlängerung beantragt hatte, erst letzte Woche. Da dachte er an sein Gespräch mit dem Polizisten. Der Zentralcomputer der EU macht nie Fehler. Ausgeschlossen! Es war bestimmt sein Fehler. Ein kleiner Fehler ist ihm beim Ausfüllen des fünfseitigen Formulares unterlaufen. So wird es sein. Er setzte seinen besten Hundeblick auf und sagte: „Es tut mir wirklich leid! In letzter Zeit bin ich so zerstreut. Mich plagt seit Monaten eine Depression und dann noch Probleme auf der Arbeit. Ich bin ein stolzer EU Bürger und würde nie etwas Illegales tun. Bitte verlängern sie die Plakette doch einfach.“
Mehr Mitleid erregendes war in Kevin nicht drin. Er gab alles und hatte Erfolg. Zuerst überlegte die Sachbearbeiterin ein wenig, ging in sich und entschloss dann, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Man konnte es fast schon ein Lächeln nennen, was sich auf ihrem Antlitz bildete.
„Gut. Ich werde es dieses eine Mal übersehen, dass sie zwei Tage zu spät erscheinen. Geben sie mir ihren Ausweis und ich nehme eine Standard-EU-Bürger-Compliance-Prüfung vor. Das dauert nur ein paar Sekunden.“ Erleichtert reichte Kevin ihr seinen Ausweis und sah zu, wie sie ihn in ihren Computer einlas. Er schaute ihr gebannt dabei zu, wie sie die eintreffenden Ergebnisse der SEUBCP einsog.
Nach wenigen Minuten blickte sie auf. „Hmm. Das sieht ja alles ganz gut aus. Sie haben sich keiner groben Vergehen schuldig gemacht. Nur eine Kleinigkeit. Der Biosensor ihrer Waschmaschine hat Spermareste im Abwasser gefunden. Das ist zwar keine Umweltverschmutzung, aber Ejakulationen werden halt versteuert, wie alle anderen Vergnügen auch. Das wissen sie doch und haben trotzdem keine Steuer abgeführt.“
Der dann richtig bleich gewordene Kevin sprach nur noch stotternd. „Ja, äh, das kann ich erklären. Das hat medizinische Gründe. Ich hatte eine Ejakulation während ich schlief und die kann man nicht kontrollieren. Somit folgte die Ejakulation unbewusst und ist nicht versteuerungspflichtig, da kein aktives Vergnügen vorlag.“ Kevin wurde richtig stolz auf seine gekonnte Ausrede. Als hätte sie das schon hundert Mal gehört, sagte sie routiniert: „Gut. Dann prüfe ich eben kurz das Schlafdiagramm ihres Gesundheitssensors des letzten Monats. Der Computer erkennt feuchte Träume anhand der Körperreaktionen. Das macht ihnen dann ja sicherlich nichts aus, wenn sie die Wahrheit sagen.“ Kevins Ausrede war scheinbar doch nicht so gut, so dass er nun den Büßer spielen musste: „Nein, tun sie das nicht. Sie haben mich erwischt. Ich habe tatsächlich letzten Monat unversteuert onaniert. Aus Scham, nicht aus Geiz, wollte ich es nicht versteuern. Ich bin ein einsamer Mann! Welchen Betrag bin ich der EU denn nun schuldig? Es gibt doch keine Strafpunkte im Moralregister, oder?“
Auch dass hatte sie anscheinend schon erwartet. Sie reichte ihm seinen Ausweis mit den Worten zurück: „Ja natürlich. Das Übliche. Ich habe die Steuern von 10 Euro für eine Ejakulation und eine zusätzliche Strafzahlung von 100 Euro wegen Steuerhinterziehung von ihrem Konto abbuchen lassen. Die 20 Euro Zuschlag wegen unsachgemäßer Entsorgung von Biomasse wird auf ihre nächste Müllerzeugungsgebühr aufgeschlagen. Zahlen sie nächstes Mal einfach die zehn Euro und benutzen sie den Biomülleimer. Ihre Bürgerplakette wurde um drei Monate verlängert. Auf Wiedersehen.“
Puh, da hatte unser Kevin aber noch mal richtig Glück gehabt.
Es wäre auch schade um ihn gewesen, denn kaum einer war ein so guter Kontrolleur wie er. Auf solchen Menschen beruhte immerhin das reibungslose Funktionieren der größten Demokratie der Welt.