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Hühner können nicht fliegen
Die Welt kann sehr einfach sein, zumindest wenn man sie aus der Perspektive eines Regenwurms betrachtet. Diese Tiere wissen nichts von Hungersnöten, Kriegen oder Umweltverschmutzung. Sie verbringen den ganzen Tag damit, sich durch die Erde zu buddeln und hungrigen Vögeln auszuweichen.
Dieser spezielle Wurm hatte soeben den längsten Tunnel seines Lebens gegraben und lugte nun verstohlen aus seinem Erdloch heraus in die Sonne. Aus seiner Sicht war es der längste und beste Tunnel der Welt, denn er kannte keine besseren. Es hatte sehr lange gedauert und eine Menge Kraft gekostet, aber nun war er fertig und der Wurm war mächtig stolz auf sein Werk. Wenn die anderen das sehen, würden sie sicher ganz grün vor Neid werden, dachte er und machte einen Moment lang Pause.
Es war ein wunderschöner Tag, die Sonne schien und ein Vogel zwitscherte. Ein anderer Vogel hörte das, aber er antwortete nicht, denn er war ein Huhn. Warum das Huhn hier mitten in der Wildnis stand und Vögeln lauschte, ist nicht so wichtig. Es ist nicht wichtig, wie es aus seinem Freilaufgehege im nahegelegenen Bauernhof flüchten konnte. Wichtig ist nur, daß dieses Huhn einen Regenwurm aus dem Boden herausgucken sah. Das Tier konnte nicht wissen, daß der Wurm soeben den besten Tunnel der Welt gegraben hatte und verschlang ihn in einem Rutsch.
Nach dieser Mahlzeit gackerte es ein wenig, fuhr sich geistesabwesend mit dem Schnabel durchs Gefieder und versuchte zu fliegen. Nicht allen Vögeln ist es vergönnt, einfach die Flügel auszubreiten und verächtlich auf die Welt hinabzuspucken. Hühner können nicht fliegen. Es sei denn, sie werden getreten, aber auch dann nur ein paar Meter. Dieses Huhn, sein ehemaliger Besitzer hatte ihm den einfallslosen Namen Paula gegeben, wollte aber genau das nicht wahrhaben. Immer wieder hatte es schon in der Vergangenheit entsprechende Versuche unternommen, die aber jedes Mal zum Scheitern verurteilt waren. So auch dieses Mal.
Paula fuhr ihre Flügel wieder ein und hoffte, daß wenigstens niemand den peinlichen Versuch gesehen hatte. Hier inmitten der Einöde war sie ganz alleine und so wurde ihre Hoffnung erhört. Ein wenig beschämt ging sie ein paar Schritte, scharrte dabei immer wieder mit ihrer linken Kralle im Boden herum und suchte weitere Würmer. Tatsächlich schaute genau in diesem Moment einer aus dem Boden, aber zu seinem Glück drehte das Huhn ihm den Rücken zu, so daß er schnell wieder abtauchen konnte.
Plötzlich wurde der Boden steinhart. Paula konnte nicht mehr scharren, sondern kratzte mit ihrer Kralle nur an der Oberfläche herum, wobei ein fieses Geräusch erklang. Auch war der Boden hier nicht mehr erdig und braun, sondern glatt und schwarz. Paula hatte sich unbemerkt einer asphaltierten Straße genähert. Natürlich hatte sie nie zuvor eine Straße gesehen, aber dennoch ging sie instinktiv einen Schritt zurück. Das schwarze Band zog sich, soweit das Auge reichte, durch die Einöde, als würde es die Welt in zwei Hälften teilen – eine mit Huhn, die andere ohne. Die Sonne erhitzte den Asphalt und brachte die Luft darüber zum Flimmern.
Paula tat etwas, was sie schon sehr lange nicht mehr getan hatte: sie dachte nach. Der Gedanke, so einfach er schien, war bei näherem Hinsehen doch sehr komplex und barg eine Menge weiterer Fragen. Für die Welt eines Huhns, die bislang nur aus Würmern und Eiern bestanden hatte, waren diese Fragen alles andere als leicht zu beantworten – sie füllten den Verstand des Tieres und ließen keinen Raum für weitere Gedanken. Sie brannten sich tief in ihr Bewußtsein und schon bald war Paula von der Idee dermaßen besessen, daß es kein Zurück mehr gab.
Sie würde dieses schwarze Band überqueren. Sie mußte es tun.
Aus irgendeinem Grund überkam Paula das Bedürfnis, ein Ei zu legen. Sie unterdrückte diesen Trieb jedoch und starrte mit beiden Augen unablässig auf den schwarzen Asphalt. Wie sollte sie es anstellen? Es erschien ihr als unpassend und gefährlich, einfach hinüberzulaufen. Sie könnte zum Beispiel fliegen. Das Huhn breitete seine Flügel aus und erneut wurde ihm peinlich bewußt, daß Hühner nicht fliegen können.
Stunden vergingen. Paula bewegte sich während dieser Zeit keinen Millimeter, sondern konzentrierte all ihre Energie auf ihren einen Gedanken. Sie mußte einfach auf die andere Seite, koste es, was es wolle. Die Sonne fand, es wäre an der Zeit, die Welt sich selbst zu überlassen und machte sich daran, hinter dem Horizont zu verschwinden. Dämmerung hielt Einzug und es wurde angenehm kühl.
Die Anspannung im Körper des Huhns löste sich ein wenig, als hätte irgendetwas eine Teillast von seinem Rücken genommen. Die Straße lag noch vor ihr, aber die Tatsache, daß es dunkel wurde und Paula den Asphalt nicht mehr richtig erkennen konnte, beruhigte sie. Hühner denken nach dem Prinzip „was man nicht sieht, ist auch nicht da“ und somit war das Problem gerade dabei, sich von selbst zu lösen.
Ein neues kündigte sich an. Zunächst kaum zu vernehmen, wurde das Grollen am Horizont langsam immer lauter und drängender. Irgend etwas Großes schien sich zu nähern. Langsam drehte Paula ihren Kopf nach links, die Richtung, aus der das Geräusch kam. Licht ist schneller als Schall. Dennoch dauerte es eine Weile, bis die beiden Lichtpunkte sichtbar wurden, die ihre grellen Strahlen in die dämmrige Umgebung schickten. Je lauter das Grollen in ihren Ohren klang, desto größer wurden die Punkte und desto mehr begannen Paulas Augen in ihrem Schein zu brennen.
Die Sperre in ihren Kopf begann sich langsam zu lösen und ein neuer formte sich. Was auch immer da auf sie zukam, es wäre sicher besser, Paula wäre auf der anderen Seite des schwarzen Bandes, wenn es sie erreichte. Leise gluckte das Huhn sich selbst Mut zu und setzte dann langsam einen Fuß vor den anderen. Es hielt den Atem an, als es den harten Asphalt unter sich spürte, aber Umkehren wollte es jetzt nicht mehr.
Das Huhn konnte den Mittelstreifen in der Dunkelheit nicht erkennen, aber was es bemerkte, waren die Lichter des LKW, der sich schneller näherte, als Paula gedacht hatte. Hühner sind nicht die Besten, was das Abschätzen von Entfernungen angeht. Und so befand sich dieses Huhn mitten auf der Fahrbahn, als der Laster über es hinweg donnerte. Die Reifen berührten das Tier nicht, sondern fuhren links und rechts an seinem Körper vorbei.
Paula schlug vorsichtig die Augen auf. Es war dunkel. Ein Blick nach links – die Lichter waren verschwunden. Ein Blick nach Rechts – zwei rote Lichter entfernten sich. Am ganzen Körper zitternd setzte das Tier seinen Weg fort und wenig später kam es wohlbehalten auf der anderen Seite der Straße an. Es sah sich um und stellte fest, daß die Welt aus dieser neuen Perspektive eigentlich genauso aussah, wie heute Morgen. Nichts hatte sich verändert, nur die Straße lag nun hinter ihr. Paula war sich sicher, nun auf der richtigen Seite der Welt zu stehen. Und sie hatte Hunger.
...
Die Welt kann sehr einfach sein, zumindest wenn man sie aus der Perspektive eines Regenwurms betrachtet. Diese Tiere wissen nichts von Straßen, die mitten durch das Nichts führen. Sie verbringen den ganzen Tag damit, sich durch die Erde zu buddeln und hungrigen Vögeln auszuweichen.
Dieser spezielle Wurm hatte soeben den längsten Tunnel seines Lebens gegraben und lugte nun verstohlen aus seinem Erdloch heraus in die Nacht. Aus seiner Sicht war es der längste und beste Tunnel der Welt, denn er kannte keine besseren. Es hatte sehr lange gedauert und eine Menge Kraft gekostet, aber nun war er fertig und der Wurm war mächtig stolz auf sein Werk. Heute Morgen, als er dem Huhn noch durch Glück entgangen war, hatte er noch nicht ahnen können, daß er später auf der anderen Seite auftauchen würde. Jetzt, nur wenige Stunden später lag er hier und war mächtig stolz auf sich.
Dunkelheit ist eine gefährliche Waffe. Erst recht, wenn man ein Wurm ist und den herannahenden Schnabel des hungrigen Huhnes erst dann bemerkt, wenn es schon zu spät ist.