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Hühnchen Alabaster
Solomon, Erster Prüfer der „Pellegrino Champions of Guinness-Book-Award - best Local in the World“ erstarrte plötzlich, die Tabelle mit den empfohlenen Gourmet-Restaurants verschwamm vor seinen Augen.
„Das kann nicht sein“, brüllte er irritiert „wieso liegt eine völlig unbekannte Gaststätte im Ranking auf Platz Eins? Ein Restaurant mit Namen Mom´s Pub?“
Mom´s Pub führte die Liste an, klarer Favorit in der Wahl der besten Gastronomen weltweit.
Es ging um Effizienz, Kosten-Nutzen-Effekte - und um Delikatesse, einmaligen Gaumenschmaus. Mom´s Pub war unschlagbar, Gewinnmargen von 1000% pro Monat die Regel.
„Da muss ich hin“, murmelte er neugierig, „da muss ich sein.“
Von außen sah das Restaurant verwahrlost aus, eine Kaschemme mitten in der Wüste fernab des Mainstreams - jenseits von Gut und Böse. Es glich eher einer Tanke als einem Point of Interest. Der Hype um die Suche nach dem besten Restaurant in der Welt blieb ihm im Halse stecken.
Unsicher betrat er den diffusen Gastraum – es stank bestialisch, Getier summte in der Luft, die Jukebox würgte einen deutschen Schlager aus den 70érn hervor: „Herzen haben keine Fenster, nur eine Tür allein …“
Solomon fühlte sich deplatziert mit seinem Stehkragen, Monokel und Talar, schlug mit bloßen Händen nach Fliegen, die ihn begehrlich umschwärmten.
„Ein Alptraum“, dachte er panisch, „ich bin in einem gottverdammten Alptraum.“
Aus dem Dunst löste sich ein Schatten, der lebendig und größer wurde, Konturen eines Vierschrots annahm - ein riesiger Kerl in unscharfem Unterhemd und mit Beulen im Gesicht, dessen Kittelschürze aussah wie bei einem Fließbandschlächter aus billigen Horrorfilmen.
„Ich bin der Wirt", dröhnte er mit tiefem Bass, „ich empfehle“, er nießte herzhaft und geräuschvoll, „Hühnchenragout Alabaster in Wildreis. Tausend Gäste“, er nießte erneut - Solomon verfolgte mit Stierblick dessen Rotze in der Luft, die sich mehrfach überschlug, bevor sie auf die Theke klatschte - „können nicht irren. Wir sind sogar Platz Eins der Pellegrino Champions, bestes Lokal in der Welt.“
Solomon starrte ihn entrückt und mit offenem Mund an, bis ihm eine der Fliegen hinein flog, woraufhin er sich mächtig verschluckte und gemeinsam mit dem Wirt in orgiastischem Rausch auf die Theke hustete. Mit kreidebleichem Gesicht und verkrampften Backen versuchte er auf dem Barhocker sein spastisches Körperzucken zu kontrollieren. Für so was war er nicht trainiert, darauf war er nicht vorbereitet, das war ein Supergau.
Der Wirt starrte ihn durchdringend an:
„Was ist mit der Bestellung? Kostet 250 Euro. Teuer, wenn man Fastfood will, aber immer noch billig für das beste Mahl der Welt.“
Rein zufällig traf Solomons Blick den seines Gegenübers, Adrenalin puschte seinen Herzschlag, das Blut kochte in den Adern. Er verfluchte sein Leben in Demut, die Kraftlosigkeit seiner Muskulatur, den Talar, der ihn als einen Besonderen ausweisen sollte, als prämierten Prüfer differenzierter Genüsse höchster Qualität, als Auserwählten zur Definition moderner Esskulturen, doch die Zeit läuterte ihn erbarmungslos, holte ihn aus seinem Nirwana ab. Wenn er neben den Lukullusgenen nur ein bisschen Mut geerbt hätte, dann würde er um sich schlagen, im Bruce-Lee-Stil die Location einschließlich des behaarten Wirts zerlegen, aber er war nur Solomon im Talar – eher Schöngeist als Grobian.
„Das nehme ich“, hauchte er ängstlich und hoffte auf ein Wunder. Tausend Gäste können nicht irren, hatte der Wirt gemeint – und Solomon kannte ja auch die Statistik.
„Vorkasse“, murmelte der Wirt, „bei diesem Preis sicher verständlich .Gibt einfach zu viele, die so mir nichts dir nichts verduften wollen.“
Solomon zahlte bar – und wartete.
Zehn Minuten später war er noch am Leben, der Talar schützte gegen die Fliegenschwärme, aber nicht gegen die Hitze. Das Wasser aus zischender Leitung hatte er dankend abgelehnt. Über dem Bierhahn klebte eine grellgelbe Plombe des Gesundheitsamtes und alle nichtalkoholischen Getränkeflaschen hatten merkwürdig blubbernde Bäuche, selbst die aus Glas. Langsam mumifizierte er und zeitgleich mit den Zersetzungsprozessen begannen seine Delirien: Er träumte, unsichtbar zu sein und fliegen zu können, vom Schlaraffenland, wo alles im Überfluss vorhanden ist – Milch, Honig und Wein statt Wasser …
Der Wirt weckte ihn auf:
„Wir haben Schauküche, Sie können mitverfolgen, wir Ihr Mahl entsteht.“
Solomon zuckte zusammen, strich fahrig über seinen Talar, wedelte probehalber mit seinen Armen, ob er nicht doch fliegen konnte und das Schlaraffenland eine Option wäre, doch nur die Glut eines offenen Grills vor ihm zertifizierte ihm seine Existenz. Seine Brauen brannten plötzlich, kurz darauf sein Gesicht, der Talar übte spontan eine Schwitzkur, doch der Wirt blieb gelassen – und Solomon hatte Zeit, ihn bei seinem Tun zu beobachten. Zunächst vielen ihm dessen Gesichtsbeulen auf, die schon beim Betreten des Lokals für Erstaunen gesorgt hatten.
Das sind keine Beulen, sinnierte er vor sich hin, niemand hat einfach Beulen im Gesicht. Krampfhaft beobachtete er, erinnerte sich zwischenzeitlich an seine Ur-Oma, der eitrige Furunkel diagnostiziert wurden als Folge ungesunder Lebensweise. Dicke Pusteln, die gelegentlich platzten, wenn sie es mit ihrer Mimik übertrieb. Solomons Blick war der eines Irren, seine Augäpfel drohten heraus zu kullern, er fror in Gänseschauern trotz der unbarmherzigen Hitze, würgte und schluckte zugleich, sah den Wirt genüsslich schwitzen – triefende Nässe, die augenblicklich verdampfte und ihn in einer Dunstwolke allmählich zu verschleiern begann. Zuviel, dachte Solomon noch, bevor er ohnmächtig wurde…
„Aufwachen“, dröhnte die Stimme des Wirts, „Ihr Essen ist fertig. Hühnchenragout Alabaster in Wildreis.“
Solomon richtete sich mühsam auf, starrte auf die Wampe des Wirts, auf den Teller in dessen rechtem Schaufelbagger, auf dem ein geschnetzeltes Hühnchen delikat angerichtet im Wildreis lag, erinnerte sich augenblicklich an all den perversen Horror drumherum, schrie gellend auf, rappelte sich hoch und rannte zum Eingang, der auch Ausgang war.
Niemandem, so schwor er sich, würde er von diesem wahnsinnigen Trip erzählen, einfach zu peinlich.
„Hühnchen Alabaster“, grinste der Wirt diabolisch und wischte den Teller samt Inhalt an seiner Schürze ab, bereit, das Gipsmenü dem nächsten Idioten zu servieren. Es ging schließlich um Effizienz, um Kosten-Nutzen-Effekte bei den „Pellegrino Champions of Guinness-Book-Award - best Local in the World.“ 1000% Gewinnmarge inklusive …