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Hörnis Ausflug in die Stadt
Hörnis Ausflug in die Stadt
Hörni und Hörnina haben bemerkt, dass ganz in der Nähe des Eschenburgparks ein sehr großes Haus steht. Dort kommen täglich Busse und Autos an. Menschen steigen aus und ziehen Koffer auf Rollen hinter sich her oder tragen große Taschen auf dem Rücken. Sie gehen in das Gebäude und kommen schon wenig später wieder heraus, ohne Gepäck, dafür mit einem großen Papier in den Händen, auf das sie starren, während sie in Richtung Burgtor laufen. Hörni und Hörnina sitzen manchmal oben in den Bäumen und beobachten dieses Treiben. Lange halten sie es nie aus, weil die Vernunft ihnen sagt, dass sie lieber Vorrat für den nächsten Winter suchen sollten - und weil ihre Eichhörnchenbeine immerzu rennen wollen. Aber immerhin kommt es vor, dass sie auf einem gemütlichen Zweig schaukeln und runtergucken.
"Was tun diese Leute da eigentlich?", fragt Hörnina eines Tages, und da fällt Hörni auf, dass er sich das noch nie gefragt hat. Seit er denken kann, kommen hier die Menschen mit ihren Koffern an, bleiben ein, zwei Tage und reisen dann wieder ab.
"Was ist da schon Besonderes dran?", sagt Hörni. " Die Menschen sind doch sowieso ein merkwürdiges Volk. Wenn man sich bei allem, was sie tun, fragen würde, was es zu bedeuten hat, käme man ja aus dem Fragen gar nicht mehr heraus!"
Nun ist die Frage aber gestellt, und deshalb will er auch eine Antwort haben. Und zwar möglichst bald, damit er dann wieder an Wichtigeres denken kann.
"Wollen wir mitgehen?", fragt Hörni.
Hörnina sieht ihn erschrocken an.
"Mitgehen? Mit den Menschen? Was ist denn in dich gefahren?"
"Siehst du den kleinsten von den Menschen da unten?" fragt er, anstatt zu antworten, und zeigt auf einen Jungen, der eine Kapuzenjacke trägt. Hörnina nickt und wartet gespannt ab, was Hörni als nächstes sagen wird. Sie merkt, dass er eifrig denkt.
"Kleine Menschen sind, glaube ich, ganz nett", fährt Hörni fort. "Wenn man denen in die Kapuze springt..."
"Hörni! Bist du lebensmüde?!"
"Naja, was ist das kleinere Übel: Unter ein Auto zu geraten oder in einer Kapuze entdeckt zu werden?"
"Oh... ich glaube, ich gerate lieber unter ein Auto."
"Aber Hörnina! Du bist lebensmüde!"
"Bin ich gar nicht!" ruft Hörnina beleidigt. "Aber eins ist klar: Ich bleibe am liebsten hier. Spring du doch in die Kapuze wem du willst. Du musst dich allerdings beeilen. Der kleine Mensch kommt gleich hier vorbei."
Hörni schaut seine Freundin ein bisschen traurig an.
"Schade, dass du nicht mitwillst. Aber hinterher erzähl´ ich dir, wie es war."
Und er nimmt für zwei Sekunden liebevoll ihren Kopf zwischen seine Pfoten, bevor er den Sprung wagt.
Im nächsten Augenblick ist es um Hörni herum warm und rot. Er ist dem Kind wirklich in die Kapuze gesprungen. Das Merkwürdige ist, dass der Junge zwar zusammengezuckt ist, aber nur leise soetwas wie "Huch?" gemurmelt und sich verwundert umgedreht hat- einmal links herum, einmal rechts herum. Wahrscheinlich glaubt er, jemand hätte ihn versehentlich angestoßen. Niemand außer Hörnina hat gesehen was passiert ist. Und sie sieht der kleinen Gruppe, die nun wie erwartet Richtung Burgtor marschiert, noch lange nach. Hörni hängt mucksmäuschenstill und unbemerkt auf dem Rücken des Jungen. Er hört verschiedene Geräusche. Da fahren die Autos auf der Travemünder Allee, und der Junge mit der Kapuzenjacke redet mit seinen Eltern in einer Sprache, die Hörni nicht kennt. Den Eisverkäufer und den Frisör zum Beispiel kann er verstehen, aber dieses hier klingt anders. Es ist vor allem die Mutter des Jungen, die spricht. Offenbar liest sie den anderen im Gehen aus einem Buch vor.
Die Geräusche der Straße verändern sich. Irgendwo jenseits des Burgtores hört man nur noch Menschenstimmen und klackernde Absätze auf dem Kopfsteinpflaster, keine Autos mehr. Das findet Hörni sehr angenehm. Er wird in der gemütlichen Kapuze so rhythmisch geschaukelt, dass er ganz schläfrig wird.
"Hörnintevajassäjer!", ruft die Mutter des Jungen plötzlich, und Hörni horcht wie elektrisiert auf. Hat sie etwas über ihn gesagt?
"Wassaadüdo?" fragt ihr Mann.
"Hörnimankanchöpalübecksguasteglasshärrinne!"
Verängstigt steckt Hörni seine Nase hervor. Woher weiß die fremde Frau seinen Namen? Er quiekt einmal ganz leise, doch niemand beachtet ihn. Es muss sich um ein Missverständnis handeln.
(So ist es auch, doch das kann Hörni nicht wissen. Die Familie, mit der er es hier zu tun hat, ist zu Besuch aus Schweden gekommen und spricht natürlich schwedisch. Die Frau hat gesagt: "Hör ni inte vad jag säger", und das heißt: "Hört ihr nicht, was ich sage?" Dann hat der Mann gefragt: "Vad sa du då? Was sagtest du denn?" Und sie darauf: "Hör ni: Man kan köpa Lübecks godaste glass här inne! Hört ihr, man kann hier das beste Eis von ganz Lübeck kaufen!")
Was jetzt geschieht, ist für Hörni ein bisschen qualvoll. Die ganze Reisegruppe kauft Eis. Er aber hängt unentdeckt in der Kapuze, bekommt nichts ab und hört ständig: "Mmm..." und "Ooh...". Er stellt sich vor, dass es besonders fein aussieht, "edel", wie seine Großmutter sagen würde, sehr cremig - und wahrscheinlich sogar nussig. Deshalb hält sich Hörni jetzt die Ohren zu und lässt sich weiter in der Kapuze schaukeln. Erst nach zehn langen Minuten kann er feststellen, dass das genüssliche Eisessen beendet ist. Ein verstohlener Blick nach draußen zeigt ihm, dass man an einer großen Kirche halt gemacht hat.
Es ist die Petrikirche. Durch die feinen Maschen der roten Kapuze beobachtet Hörni, wie die Schweden ihre Portemonnaies herausholen und an einer Kasse etwas bezahlen, ohne etwas dafür zu bekommen. Merkwürdig, findet Hörni. Dann gehen sie in die Kirche hinein und stellen sich vor eine dicke Tür aus Metall. Die Sache wird Hörni unheimlich, als die Tür sich zur Seite öffnet und ein winzig kleiner Raum dahinter sichtbar wird. Mindestens sieben Menschen drängen sich hinein, auch der Junge mit der Kapuze. "Gleich fahren wir hoch!", sagt jemand. Auf den Kirchturm?, denkt Hörni, gerne, aber doch nicht in so einem...
Jetzt muss schnell gehandelt werden. Der Junge mit der Kapuze kreischt auf, als er Hörnis Krallen auf den Schultern spürt. Dann kreischen alle, die sich hier drängen, denn jetzt haben sie Hörni natürlich gesehen. Der Letzte der kreischt ist Hörni selbst, der blitzartig aus diesem kleinen Gefängnis flüchtet. Schon sieht er wie die Tür sich schließt. Zum Glück kann er seinen Schwanz rechtzeitig einziehen, und dann ist er frei.
Er rennt mit wild klopfendem Herzen nach draußen und schaut nach oben. Die Höhe des Kirchturmes beruhigt ihn. Und reizt ihn. Einen Baum in derselben Höhe hat er noch nie gesehen, und er möchte so gerne Lübeck von oben bewundern. Leider hat der Kirchturm keine Äste und Zweige, nicht einmal Rinde, an der man sich festkrallen könnte. Hörni hüpft hin und her und untersucht die Backsteine, doch sie taugen nicht zum Klettern. Wäre er doch in der Kapuze geblieben, dann wäre er jetzt oben!
Statt dessen muss er nun zusehen, dass er irgendwie nach Hause kommt, und Hörnina gestehen, dass er von der Stadt so gut wie gar nichts gesehen hat. Hörni seufzt. Er hat nicht einmal seine Geldwalnuss dabei. Eine Kugel Eis wäre jedenfalls ein kleiner Trost gewesen...
Da sieht er etwas baumeln: Es ist ein Seil, das an der Kirche hängt, von oben bis unten! Er kann ja nicht wissen, dass der Nikolaus es letztes Jahr benutzt hat, um sich vom Turm abzuseilen und damit einem Haufen Kindern eine Freude zu machen. Der Nikolaus hat es dort vergessen. Es ist ein richtiges Kletterseil. Hörni glaubt, der Himmel habe es ihm in diesem Augenblick geschickt. Seine ganze Enttäuschung ist wie weggeblasen, und binnen einer einzigen Minute ist er auf dem Turm. Es weht ein kräftiger Wind. Hörni krallt sich am Gitter der Aussichtsplattform fest. Die Aussicht ist grandios. Er sieht viele, viele Dächer, Straßen, klitzekleine Autos und Menschen, die ihn an Ameisen erinnern; er sieht andere Kirchen, er sieht Kanäle und Flüsse, und in weiter Ferne schimmert ein blauer Streifen am Horizont. Hörni weiß nicht, dass es die Ostsee ist, aber er spürt mit einemmal eine Weite, wie er sie nie zuvor erlebt hat. Hätte er Flügel, er flöge als erstes zum Meer!
Ganz so kommt es nicht, aber Hörni beschließt seinen Ausflug tatsächlich mit einem Flug. So wie ihm das Kletterseil genau im richtigen Augenblick erschienen ist, trudelt jetzt ein großer roter Gasluftballon an ihm vorüber. Hörni greift ohne zu überlegen nach dem Faden, der an dem Ballon befestigt ist, und vertraut sein kleines Gewicht dem Ballon und dem Wind an. So fliegt er: Mit flatterndem Fell segelt er über die Dächer von Lübeck, bis er sanft genau dort landet, wohin er wollte: Im Eschenburgpark bei seiner Hörnina.
(Man darf mir glauben: Die schwedische Familie auf dem Petrikirchturm, von der Hörni bei seinem Abflug beobachtet wurde, hat nicht schlecht gestaunt!)