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Hörni und die Maus
Hörni und die Maus
Eines Tages trifft Hörni das Eichhörnchen im Eschenburgpark eine braune Zwergmaus mit ungewöhnlich struppigem Fell.
"Na, Katzenangst? Hast du heute Morgen vergessen dich zu bürsten?", fragt er. Da erst sieht er, dass sie ziemlich erschrocken aussieht, und fügt schnell hinzu: "Entschuldige, dass ich so frech frage. Dir scheint etwas zugestoßen zu sein ...?"
"Allerdings!", piepst das Mäuschen. "Es fing damit an, dass letzten Donnerstag mein Vater nicht mehr nach Hause kam. Ich weiß bis heute nicht, wo er ist!"
"Oh wie beunruhigend!", ruft Hörni. "Wo kann er denn nur sein?"
"Das weiß ich nicht, aber vielleicht ist ihm dasselbe passiert wie mir heute ... Er hatte uns versprochen, etwas Gutes zum Abendessen mitzubringen. Wir saßen in unserem Nest und warteten gespannt. Aber Papa kam und kam nicht zurück."
"Wo wohnt ihr denn eigentlich?", will Hörni wissen.
"In einem Haus", sagt Katzenangst, als wäre dies ganz selbstverständlich. "Und dorthin will ich auch zurück. Aber ich finde es nicht mehr!"
"Du Arme! Willst du mit in meinen Kobel kommen?"
"Das ist furchtbar lieb von dir, Herr Eichhorn. Aber ich muss erst meine Mama und meine Geschwister suchen."
"Wie?", ruft Hörni verblüfft. "Sind die auch verschwunden?!"
"Nein! ICH bin verschwunden, siehst du das denn nicht?"
"Nein, das sehe ich nicht", sagt Hörni. "Du bist doch da!"
"Ich bin überhaupt nicht da, ich bin ganz schrecklich verschwunden und vermisst", regt die Maus sich auf. "Und ich will zu meiner Mama!"
Hörni ist ganz ratlos: "Ich glaube, das musst du mir näher erklären."
Er legt ihr den Arm um die Schulter und will sich mit ihr ins Gras setzen.
"Ein Stück weiter ins Gebüsch", flüstert Katzenangst. "Du weißt schon: Buteo buteo!"
"Wie bitte?", fragt Hörni. "Ist das ein Zauberspruch?"
"BUTEO BUTEO! Der große Feind!", raunt sie und weist mit ihrer kleinen rosa Pfote gen Himmel. Dann zieht sie Hörni unter ein paar Zweige, wo sie geschützt vor den Blicken des Mäusebussards im Gras Platz nehmen.
Hörni spürt, wie die Maus zittert. Sie putzt sich das Gesicht, holt tief Luft und beginnt zu erzählen.
"Also ... Ich wurde vor einigen Wochen in einem wunderschönen, kuscheligen Nest geboren. Mit meinen zehn Geschwistern."
"Zehn?", wiederholt Hörni erstaunt.
"Naja, vielleicht waren es auch nur fünf. Jedenfalls einige. Man erkennt sie am Geruch. Wohnst du auch in einem Nest?"
"Nicht direkt. Ein Kobel ist so etwas Ähnliches, aber hoch oben in einem Baum. Ich habe eine Freundin und einen Sohn. Hörnina und Kralli. Aber das tut jetzt nichts zur Sache." (Den letzten Satz hat Hörni sich von seiner Großmutter abgehorcht)
Die Maus fährt fort:
"Wie gesagt, es war ... es ist ... es war sehr gemütlich. Wir durften bei unserer Mama trinken so oft wir wollten, süße Mausemilch. Jeden Abend kam Papa und brachte Mama und uns etwas zu fressen mit. Das Einzige was uns immer erschreckte, war das Donnern direkt über unseren Köpfen. Irgendwelche großen zweibeinigen Tiere trampelten auf unserem Holzdach herum, und dazu hörten wir ihre Stimmen: `Lass das! Das ist meins! Du bist gemein! Mach schon!´"
O jemine, denkt Hörni. Das kommt mir bekannt vor. Aber er sagt noch nichts.
"Eines Abends kam Papa nach Hause und erzählte, er habe sich durch die Holzbretter nach oben genagt, sodass er durch ein Loch zu den Trampeltieren durchdringen konnte. Dort habe er Käse und Wurst am Boden liegen sehen - Fremdwörter für mich, aber er versicherte, Käse und Wurst seien besondere Köstlichkeiten, und er werde uns etwas davon bringen. Am nächsten Tag lernte ich beides kennen und konnte Papa sofort verstehen: Käse ist etwas Gelbes, Salziges, was auf der Zunge zergeht ..."
Die Maus hat einen Moment lang einen schwärmerischen Blick.
"Jeder von uns bekam gleich viel, und das von nun an täglich. Papa besuchte die Trampeltiere, so oft er es schaffte, unbemerkt in ihre Wohnung zu gelangen. Beglückt berichtete er eines Tages, sie seien neuerdings so freundlich, ihm den Käse direkt vors Loch zu legen, sodass er ihn sich nur noch abzuholen brauche! Offenbar hatten die Trampeltiere ihn schließlich doch bemerkt und wollten ihm nun einen Gefallen tun. Wir waren sehr glücklich. Aber dann kam der Donnerstag, an dem Papa verschwand."
Hörni ist tief erschüttert. Aber er hat eine Ahnung, dass es sich bei den "Trampeltieren" um Jonny und seinen großen Bruder handeln könnte: Bei diesem gelben Haus mit dem neuen Dach und der Wendeltreppe aus Metall - da hört man manchmal diese Worte. Getrampelt wird dort tatsächlich viel, besonders auf dieser Treppe draußen. Aber nie im Leben hätte Hörni es gewagt, dieses Haus zu betreten - außer damals, als es renoviert wurde und er aus Versehen ins Dachgeschoss sprang.
"Du warst nicht bei Trampeltieren", sagt Hörni mit Bestimmtheit. "Du warst bei den Menschen."
Die Maus sieht ihn verständnislos an: "Menschen? Ist das sowas wie buteo buteo?"
"Wie der Mäusebussard? Nein! Der Unterschied ist, dass nicht alle Menschen Feinde sind. Am wenigsten eigentlich die, die am kleinsten sind und am lautesten trampeln. Aber bei ihnen wohnen? Das ginge mir zu weit ... Nun erzähl mal weiter - was ist dir heute Morgen passiert, Katzenangst?"
Sie schaut betreten auf ihre Zehenspitzen.
"Ich wurde gefangen", sagt sie leise. "Seit dem letzten Donnerstag hatten wir nichts gegessen. Heute beschloss ich, das Loch zu suchen, von dem Papa immer gesprochen hat. Da ich schon von weitem Licht durch die Bretter dringen sah, war es auch nicht schwer zu finden. Je näher ich dem Ende des Tunnels kam, desto leckerer duftete es. Papa hatte Recht: Kaum hatte ich die Nase ins Helle gesteckt, entdeckte ich ein großes würziges Würstchen. Es klemmte hinter einem Metallstäbchen und roch verführerisch. Innerlich jauchzte ich schon, als ich mir vorstellte, wie die ganze Familie mich als Heldin feiern würde, wenn ich mit dem fetten Vorrat nach Hause käme. Mein Magen knurrte mausegewaltig, und ich konnte nicht widerstehen, mich der Wurst hungrig wie ich war zu nähern und sie anzuknabbern. Sie war allerdings schwierig zu fassen, weil sie zwischen zwei Metallwänden eingeklemmt war. Als ich damit beschäftigt war, sie loszumachen, gab es plötzlich einen fürchterlichen Knall, und mir verschlug´s den Atem. Ich wollte nichts wie weg, wendete mich um und - sah, dass ich eingesperrt war! Vorne ein Gitter, links, rechts ein Gitter, hinter mir ein Gitter, alles zu!"
Das haben die Menschen geschickt gemacht, denkt Hörni. Sie wollten wohl keine Mäuse im Haus haben. Laut sagt er:
"Arme kleine Katzenangst! Du bist in eine Falle gegangen! Ein Segen, dass du am Leben geblieben bist - meine Großmutter sagt immer, dass sowas böse enden kann!"
"Ist dies denn nicht böse genug?", piepst die Maus vorwurfsvoll. "Ich saß stundenlang zitternd in diesem Käfig und konnte nichts machen! Außer fressen und ... naja ..."
Sie schweigt einen Moment.
"Dann kamen zwei von diesen blonden Monstern angekrabbelt und hoben mich in dem Kästchen hoch. Sie riefen: `Mama! Wir haben wieder eine!´ Ich sah ihre riesigen Augen funkeln und ihre weißen Zähne blitzen. Sie sahen aus wie große Gewinner und ich kam mir vor wie der endgültige Verlierer. Da kam auch schon ihre Mutter angerauscht. Merkwürdigerweise sagte sie zu ihren Monsterkindern, sie sollten nicht so schreien, und dann nahm sie ihnen meinen Käfig ab, begann mit mir zu flüstern und versenkte mich unter tausend freundlichen Worten in einem tiefen dunklen Beutel. Den trug sie dann irgendwohin. Ich versuchte krampfhaft, mir die Richtung ihrer Schritte zu merken, aber es war schier unmöglich, da ich nichts sehen konnte. Es ging auf einmal auch sehr schnell, mir schien es, als flögen wir durch die Nacht - oder durch den Tag? - und ich wurde ordentlich geschüttelt, sodass mir ganz schlecht wurde. Ich konnte mir die Reihenfolge der unzähligen Kurven beim besten Willen nicht einprägen. Doch dann, als ich die Hoffnung auf ein ruhiges Leben schon aufgegeben hatte, hielten wir an, und die Monstermutter setzte den Beutel ab. Ihre langen Finger holten den Käfig heraus, und sie sagte zu mir: `Keine Angst, du kleine Maus. Guck mal, jetzt mache ich die Klappe auf. Du bist frei! Worauf wartest du noch, lauf schon!´ Tatsächlich, die Tür stand offen. Ja, worauf wartet ich noch? Ich raste blindlings nach draußen - und als Erstes der Monstermutter auf den Fuß! Wie schrecklich! Die muss gedacht haben, ich wollte mich zum Abschied noch ankuscheln! Dann machte ich kehrt und verschwand im Gebüsch. Siehst du jetzt ein, dass ich verschwunden bin?"
"Ich sehe es ein", sagt Hörni.
Ein Weilchen sitzen sie schweigend im Gras. In Hörnis Kopf arbeitet es. Er könnte der Maus ja schließlich den Weg zu ihrer Familie zurück zeigen, denn er ist fest überzeugt, dass diese bei Jonny und seinem Bruder unter den Dielen lebt, und das ist keine fünfzig Meter von hier entfernt. Aber er befürchtet, dass die Geschichte dann wirklich ein böses Ende nehmen könnte. Er hat Katzenangst so liebgewonnen, dass er ihr jede weitere Strapaze ersparen möchte.
"Weißt du eigentlich, dass man hier draußen gut leben kann?", fragt er vorsichtig.
"Nein", sagt die Maus kurz.
"Die anderen Mäuse, die ich so kenne, die leben alle in Mauselöchern unter der Erde oder zwischen den Wurzeln der Bäume. Es geht ihnen sehr gut."
"Glaub´ ich nicht", sagt die Maus.
"Dann musst du es sehen, Katzenangst! Komm, ich zeig´ dir ein Mauseloch."
Widerwillig lässt die Maus sich von Hörni bis zum nächsten Baum ziehen, an dessen Fuß ein kleines schwarzes Loch zu erkennen ist.
"Ich pass´ da nicht rein", sagt Hörni. "Es ist ein Mauseloch. Da passt nur du rein."
"Ich pass´ da auch nicht rein", sagt die Maus.
"Du bist störrisch wie ein Esel!", sagt Hörni.
"Ich kenn´ kein´ Esel", sagt die Maus.
"Los! Rein mit dir! Da drinnen wohnt eine Mausefamilie!"
"Woher weißt du das?", fragt die Maus skeptisch.
"Weil ich da oben wohne und dem Mause-Opa jeden Morgen zuwinke, wenn er die Nase an die Luft steckt und zur Morgengymnastik herauskommt. Glaubst du mir immer noch nicht? Dann rufe ich ihn jetzt! Opa Maus! Opa Mahaus! Besuch für dich! Besuhuch!"
Es ist einen Augenblick still. Dann hört man aus den Tiefen des Erdbodens ein gedämpftes Schnüffeln und schließlich eine brüchige kleine Stimme:
"Bist du auch nicht buteo buteo, der wieder `Der Wolf und die sieben Geißlein´ spielen will?"
Katzenangst horcht auf. Da hat jemand geantwortet, der den großen Feind kennt. Ein gutes Zeichen!
"Nein, ich bin´s, Hörni! Ich habe dir eine Enkelin mitgebracht!"
Aus dem Loch steigt ein Geruch auf, der Katzenangst sehr vertraut vorkommt. Und schon steht ein uralter Mäuserich vor ihr und betrachtet sie eingehend mit kurzsichtigen Augen. Im nächsten Moment beschnuppert er sie auch schon.
"Du riechst nach einer Maus, die sich zu den Menschen verirrt hat", stellt er nachdenklich fest. "Du hast Glück, dass Hörni dich zu mir geführt hat. Komm, ich zeig dir was."
Endlich lässt sich Katzenangst nun in das Mauseloch schieben. Hörni bleibt noch etwas davor sitzen und lauscht dem leisen Piepsen, das er von drinnen vernehmen kann. Und es dauert gar nicht lange, da hört er Katzenangst ausrufen: "Papa! Oh Papa!"
Die nächsten Tage verbringt Hörni damit, struppige verstörte Mäuse im Park aufzugabeln, sich ihre sehr ähnlichen Geschichten anzuhören und sie zu Opa Maus zu bringen. Bis die Familie wieder komplett ist.
Jetzt können die in dem gelben Haus endlich das Loch zunageln, denkt er zufrieden. Wie kann man auch so dumm sein und bei den Menschen wohnen wollen. Dann geht er mit Kralli Fußnuss spielen.