Hörni und der Osterhase
Hörni und der Osterhase
Der kleine Lübecker Eschenburgpark ist grün und freundlich. Die Winterlinge und Schneeglöckchen sind verblüht, die Krokusse dafür aufgegangen. Gelb und violett leuchten ihre schlanken Blüten im Gras. Am frühen Morgen steckt Hörni das Eichhörnchen die Nase aus dem Kobel, um in luftiger Höhe die frische Morgenluft zu schnuppern. Oh ja, es duftet nach Frühling. Es ist ein ganz besonderer Geruch, der um diese Jahreszeit in der Luft liegt und verrät, dass die Knospen an den Spitzen der Zweige bald aufgehen und die Blätter die Bäume grün kleiden werden. Es mischt sich auch noch der Duft nach süßem Backwerk hinzu, denn gegenüber des einen Tores liegt auf der anderen Straßenseite eine Getreidefabrik. Dort werden Haferflocken, Müsliriegel und Cornflakes hergestellt. Hörni liebt die Mischung aus Frühlingsduft mit Cornflakes.
Während er die Arme in die Luft streckt und hoch oben auf seinem Ast ein bisschen Morgengymnastik macht, beginnt es unten im Gebüsch zu rascheln, und ein ungewöhnlich großer braungesprenkelter Hase kommt zum Vorschein. Hörni hält inne und traut seinen Augen nicht: Es ist ein Hase mit Rucksack. Was macht der denn da?
"Guten Morgen!" ruft Hörni halblaut.
Der Hase schaut sich um. Da er niemanden sieht, macht er ein paar ziellos hoppelnde Sprünge.
"Hier oben!" ruft Hörni.
Der Hase blinzelt.
"Kann nix sehen, ist Gegenlicht!" sagt er und schnuppert in die Luft.
"Na, dann komme ich mal runter!" sagt Hörni.
Er schwingt sich von seinem Ast auf den darunter liegenden, krallt sich dort mit den Hinterfüßen fest und schaukelt dreimal kopfüber hin und her, lässt sich fallen, ergreift mit den Vorderpfoten wiederum den nächsten Ast, erreicht den Baumstamm und - wetz, wetz, wetz! - ist er daran hinunter gelaufen und baut sich vor dem Hasen auf.
"Gestatten, mein Name ist Hörni. Ich habe dich hier noch nie gesehen! Was machst du hier und was hast du im Rucksack?"
Der Hase lässt sich von der Strenge in Hörnis Stimme nicht beeindrucken.
"Ach du bist es", sagt er, "Als ich letztes Jahr hier war, trug deine Mama dich noch im Bauch! Deshalb kennst du mich noch nicht. Du bist noch sehr klein, du, Hörni. Ich bin der Osterhase. Mich gibt es nur an einem Tag im Jahr, aber dafür schon seit einer halben Ewigkeit. Die Menschen haben mich erfunden. Sie wollen, dass ich am Ostersonntag bunte Eier für ihre Kinder verstecke. Und den Gefallen tue ich ihnen."
"Sind die Eier in deinem Rucksack?" fragt Hörni eingeschüchtert aber neugierig.
"Oh ja. Der Rucksack ist randvoll! Ich muss jetzt los und sie verstecken, bevor die Kinder alle aufstehen und in ihre Gärten rennen!"
"Aber zeig mir doch mal so ein Ei!"
"Eigentlich habe ich dazu keine Zeit - aber weil du´s bist..."
Der Osterhase nimmt den Rucksack ab und öffnet ihn.
"Hier! Ein blaues!"
Hörni bleibt der Mund offen stehen. Es gibt wirklich bunte Eier!
"Woher - woher nimmst du denn die Eier?" stammelt er, "Welches Huhn legt denn bunte Eier, und dann auch noch so viele?"
"Ich lege die Eier selbst!" sagt der Osterhase. "Du glaubst doch nicht etwa, irgendein Huhn auf der Welt würde es fertig bringen, bunte und noch dazu gekochte Eier zu legen?!"
Hörni starrt ihn verblüfft an.
"Wie? Du legst Hühnereier, obwohl du ein Hase bist? Das ist doch verrückt!"
"Ja, es ist verrückt", sagt der Hase, "und ich kann dir sagen, daran bin ich nicht selber schuld. Ich tue das, weil die Menschen es so wollen! Hätten sie es sich nicht so ausgedacht, gäbe es mich nicht und ich müsste keine Eier legen. - Sag mal, willst du mir vielleicht helfen?"
Hörni hat Bedenken: "Ich glaube aber nicht, dass ich Eier legen kann."
"So meinte ich das nicht", sagt der Osterhase und lacht zum erstenmal an diesem Morgen, "Nein, willst du mir helfen, die Eier zu verstecken? Ich habe es allmählich wirklich eilig." In der Ferne hört man eine Kirchenuhr sechsmal schlagen.
Und ob Hörni will! Er kennt die allerbesten Verstecke in allen Gärten des Stadtviertels, und er möchte sie dem Osterhasen sehr gerne zeigen. Zusammen machen sie sich an die Arbeit. Der Hase holt die Eier aus dem Rucksack und reicht sie Hörni, der sie dann versteckt. Er ist ein sehr flinker Helfer. Schon als die Kirchenuhr acht Uhr schlägt, ist die Arbeit beendet.
Die Kinder und die Eltern, die rund um den Eschenburgpark herum wohnen, suchen an diesem Ostermorgen sehr lange. Sie staunen nicht schlecht: Die meisten Eier finden sie in einer Höhe von etwa zehn Metern. Das eine oder andere Ei liegt zwar wie gewohnt im Gras und in den Beeten versteckt. Aber erst als sie auf die Idee kommen, auf Leitern zu steigen und auf Bäume zu klettern, werden sie richtig fündig. Die Eier liegen in den Regenrinnen, zwischen den Dachziegeln, in Astlöchern hoch in den Obstbäumen und auf den Schornsteinmauern.
Hörni hätte noch stundenlang weitermachen können. Er fühlt sich fit wie ein Turnschuh. Energisch schlägt er dem Osterhasen auf die Schulter, als sie in den Park zurückgekehrt sind.
"Komm doch mit in meinen Kobel - auf eine Pfote Nutella!"
"Ich würde schon gerne, aber erstens bin ich nicht schwindelfrei und zweitens kann ich nicht klettern", bedauert der Osterhase, "Und ich bin müde nach dieser ganzen Eierei. Du hat mir wunderbar geholfen, vielen Dank! Jetzt muss ich zurück ins Gebüsch und für ein Jahr verschwinden. Aber am nächsten Ostersonntag, da werde ich wieder nach dir Ausschau halten."