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Hörni ist ein Viertel Murmeltier
Hörni ist ein Viertel Murmeltier
"Oma? Erzählst du mir von früher?" fragt Hörni das Eichhörnchen, als er wie jeden Sonntagnachmittag zum Nutella-Essen bei seiner Großmutter zu Besuch ist. Hörnina ist auch mitgekommen. Sie hocken eng zusammengekuschelt in Großmutters Kobel.
"Ach, Hörni, mein Kleiner", sagt Großmutter, "du kennst doch mein Leben in- und auswendig. Ich kann dir nichts Neues mehr erzählen."
"Oh, bitte, Oma, erzähl´ nochmal, wie du deinen Schwanz verloren hast, das ist das Spannendste!"
Oma nimmt sich eine Pfote voll Nutella und denkt nach. Dann sagt sie:
"Also gut. Hörnina hat die Geschichte ja auch erst zweimal gehört. Macht es euch gemütlich und hört gut zu. Und quatscht mir nicht dazwischen!"
Hörni und Hörnina nehmen sich auch schnell etwas aus dem Glas. Dann spitzen sie die Ohren.
"Liebe Kinder, ich war ungefähr ein Jährchen älter als Hörnina jetzt, nämlich, wie man so schön sagt, im heiratsfähigen Alter. Da hockte ich hier im Park in der Eschenburgvilla und knackte ganz in Gedanken vertieft eine Nuss. Wie immer dachte ich darüber nach, wen ich heiraten könnte. Mir fiel einfach niemand ein, und ich war darüber sehr traurig. Ich hatte einfach noch nicht den Richtigen gefunden.
Da höre ich auf einmal so ein Knistern hinter mir, und im nächsten Moment umgibt mich ein loderndes Flammenmeer! Ich hatte nicht bemerkt, dass die Villa in Brand geraten war. Das war ein wahrlich schreckliches Ereignis. In Lübeck weiß man bis heute nicht, wer das Feuer gelegt hat. Aber renoviert hat man die Villa, ja, sie sieht jetzt wieder ganz prächtig aus. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es war, als sie niederbrannte, und erst recht nicht, wie ich nach draußen raste. Mein Schwanz hatte Feuer gefangen, er brannte lichterloh. Noch nie im Leben war ich in unseren kleinen Teich gesprungen - jetzt tat ich es. Oh wie hat das gezischt! Kinder, nein! Und ich habe um mein Leben gezappelt, denn ich konnte nicht schwimmen! Eine lahme Ente kam ganz gemächlich auf mich zu und lud mich auf ihren Rücken. Ich finde noch heute, dass sie sich ruhig ein bisschen hätte beeilen können. Sie rettete mich erst im letzten Moment. Alle Eichhörnchen hatten das Zischen gehört und sahen neugierig zu, wie ich an Land kam und mich nach Hause schleppte.
Dort erst stellt ich fest, dass von meinem schönen buschigen Schwanz nichts übrig war. Schlimmer als der körperliche Schmerz war die Scham. Obwohl alle großes Mitgefühl mit mir hatten, hielt ich es nach einigen Wochen nicht mehr im Eschenburgpark aus und..."
"Dann bist du geflohen und hast Opa getroffen!" ruft Hörni. Großmutter bringt ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. Sie liebt es nicht, unterbrochen zu werden. Dann fährt sie fort:
"Ja, ich beschloss, irgendwohin zu fliehen, wo es keine Eichhörnchen gibt. Niemand sollte sehen, dass an mir etwas fehlte. Wo es so einen Ort ohne Eichhörnchen gäbe, wusste ich zwar nicht, aber ich vermutete, dass ich weit würde reisen müssen. So nahm ich den Bus zum Flughafen Lübeck-Blankensee. Dort versteckte ich mich im erstbesten Koffer, der offen stand. Er gehörte einer feinen Dame, die vor dem Abflug noch schnell ihr Unterhemd wechselte."
"Wie sieht eine feine Dame ohne Unterhemd aus?" will Hörnina jetzt wissen. Es ist das erste, was sie heute von sich gibt.
"Wenn ich darauf geachtet hätte, könnte ich es dir jetzt erzählen", seufzt Großmutter.
"Aber wieso hast du nicht darauf geachtet?"
"Hörnina! Über so etwas wollen wir jetzt überhaupt nicht sprechen! Hüpf an die Wakenitz und guck sie dir doch selber an, die ganzen feinen Damen! Ich wollte damals nichts anderes als mich schnell verstecken, verstehst du das denn nicht?"
Hörnina steckt schnell ihre Pfote ins Nutella-Glas und wird wieder still. Großmutter nimmt auch noch eine Pfote voll.
"Ich klemmte mich zwischen die wohlduftenden Kleidungsstücke und harrte der Dinge, die da kommen würden. Der Koffer wurde zugeklappt. Nun gab es kein Entrinnen mehr. Tatsächlich folgten die zweitschlimmsten Stunden meines Lebens. Kinder, nein!
Ich hatte ja nicht geahnt, dass das Gepäck nicht mit den Passagieren, sondern unten im Stauraum des Flugzeuges transportiert würde! Es grenzt an ein Wunder, dass ich den Flug überlebte. Es war so kalt, dass ich fast erfror. Ich hätte obendrein auch ersticken können. Aber es mag sein, dass gerade junge Eichhörnchen im heiratsfähigen Alter vom Schicksal dazu ausersehen sind, alles mögliche durchzustehen, um dann ihrem Lebensglück zu begegnen. So jedenfalls war es bei mir!
Ich landete auf Fuerteventura! Das erfuhr ich allerdings erst lange nachdem die feine Dame im Hotel angelangt war. Mit einem Aufschrei entdeckte sie mich. Da sie mich für tot hielt, trug sie mich mit spitzen Fingern zur Terrassentür hinaus und legte mich ins Gebüsch."
"Und dann kam Opa!" ruft Hörni aufgeregt, und nugatfarbener Speichel tropft ihm aus dem Maul.
"Oh ja", sagt Großmutter und leuchtet auf, "Großvater war es, der mich Tage später in den kargen Bergen von Fuerteventura herumirren sah. Warum fragt eigentlich keiner, wo Fuerteventura liegt?"
"Ich hätte lieber gewusst, wie eine feine Dame ohne Unterhemd aussieht", sagt Hörnina.
"Na wie wohl!" sagt Großmutter, "diese trug so etwas Geblümtes darunter, was ihren Oberkörper umspannte. Über die Schultern gingen kleine Riemchen..."
Für einen kurzen Moment hält sie inne.
"Das hast du noch nie erzählt, Oma!" sagt Hörni.
"Nein, wahrlich, das hätte ich auch nie getan, wenn Hörnina nicht so neugierig wäre. Nun wisst ihr´s also, ich habe eben doch einen Blick riskiert, da am Flughafen, bevor der Koffer zuklappte."
"Und wie war das jetzt mit Opa?"
"Ach ja, richtig! Er sah mich also in den Bergen von Fuerteventura herumirren. Ich war ein verschüchtertes, doch auch anmutiges Geschöpfchen. Er hielt mich für etwas Ähnliches wie ein Murmeltier, da er selbst eines war. Er gab sich einen Ruck und sprach mich an, um mich zumindest für eine Weile in seiner Höhle aufzunehmen.
Er war es auch, der mir erzählte, auf welcher Insel ich gelandet war. Und ich beschrieb ihm ganz genau unseren Park, denn ich hatte großes Heimweh. Davon war er so angerührt, dass er sich dazu bewegen ließ, mit mir zusammen - diesmal im Handgepäck - nach Deutschland zurückzukehren. Ja, und hier im Eschenburgpark gründeten wir eine Familie. Ich fand an seiner Seite mein Selbstbewusstsein wieder. Besonders ehrte es mich, dass Großvater das Fehlen meines Schwanzes als eine Besonderheit empfand. Ich gebar neun Junge, darunter Hörnis Mama, die ihrem inzwischen verstorbenen Vater sehr ähnelt."
Hier muss Großmutter sich in ein großes Ahornblatt schneuzen, und eine ganze andächtige Minute lang nimmt sich niemand Nutella.
"Und ich?" fragt Hörni schließlich, ähnele ich ihm auch?"
"Nein", sagt Großmutter, "du siehst aus wie ein richtiges Eichhörnchen - jedenfalls wenn du gerade keine gefärbten Haare hast. Aber immerhin bist Du ein Viertel Murmeltier."