Hallo floritiv
Du hast recht, eine sehr kurze Geschichte muss in sich stark sein, um einen Moment einzufangen, der etwa zur Verblüffung gereicht. Ich ahnte, dass es mir schwerlich gelingen wird, dieses Moment festzumachen. Die Hürde ist hoch angesetzt und ich erschwerte es mir noch mit dem Versuch, es transkulturell und humorvoll umzusetzen. Ich orientierte mich streng an zwei Merkmalen des französischen Humors, doch reicht dies nicht aus, wenn der Inhalt diesen Esprit nicht erfüllt.
•Welche Schuld, was hat er gemacht außer ihn versehentlich laut zu verfluchen?
Die Denkweise von Lucien spielt ihm hier einen Streich. Sein schwach ausgeprägtes magisches Denken suggerierte ihm, mit seinen Worten den „Fehltritt“ des vornehmen Herrn provoziert zu haben.
•Nur konkrete Dinge können Widerstand leisten. Sicherlich meinst du >> widerstrebte ihm.
Voll zutreffend. Dabei war es nicht einfach ein Flüchtigkeitsfehler, sondern ich versäumte es, die einzelnen Worte nochmals sorgfältig abzuwägen.
•Warum intensivierte die Kälte sein Verlangen nach einem Espresso, >> verstärkt es nicht, lässt Speichel in seinem Mund zusammenlaufen etc.? Ich habe nichts gegen Fremdwörter, aber wenn das Deutsche genauso ausdrucksstarke eigene Wörter kennt ...
Ich verstehe Deinen Einwand, sehe im gewählten Wort allerdings eine Streubreite an Eindrücken, die es vermitteln kann. Insofern kommt es der Kürze entgegen und der Leser, sofern es assoziativ gelingt, ruft seine Gefühle einer solchen Situation ab. Da
markus jedoch auch für das markig deutsche Wort plädiert, habe ich es angepasst.
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Hallo offshore
Aus Verlegenheit geboren war dieser Text zwar nicht, doch mit der Absicht, diesen einen Gedanken loszuwerden. Vor annähernd vierzig Jahren vernahm ich die Tirade eines alten Südfranzosen gegen die Regierung in Paris. Seither verfolgte mich dieses mit Absicht gestammelte Wort in der Erinnerung. Es in eine Geschichte zu verpacken lag mir nahe, doch da Politik und Staatsräson nicht mein Ding sind überwand ich meine humorlose Zurückhaltung und versuchte es in diesem Genre. Unüberlegt und spontan war vielleicht die Entscheidung, es freizuschalten. Die Löschtaste wäre natürlich der kürzere Weg gewesen.
Und obendrein passt mir, obwohl du ja auktorial erzählst, dein gewählter Stil hier nicht recht zur Geschichte und zum Protagonisten.
Dabei hoffte ich mit dieser Erzählstimme, die mir fehlende Identifikation mit dem Protagonisten wettmachen zu können.
Ich bin etwas enttäuscht, Anakreon.
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Hallo Wilhelm
An Thales hatte ich keinen Moment gedacht, obwohl Vorsehung und Fehltritt zwei Elemente sind, die über sein Leben berichtet wurden. Ich musste lachen, als ich diese vergleichende Annäherung las. Von daher weist es sich wie Menschliches, Allzumenschliches, sich immer wiederholt. Doch auch Nietzsche stand mir nicht Pate, als meine inspirative Feder den Text entwarf. Mein Unbewusstes dürfte dieses Thema ganz simpel, in Usurpation meiner selbst, als einen Zufluchtsort für das Unwort gewählt haben. In meinem Leben hatte ich immer das Glück auf die Füsse zu fallen. Widrigkeiten waren lösbar und wandelten sich oft gar zum Guten. Da war mir die Frage, warum dies manchen Anderen nicht gelingt, ab und zu von zentraler Bedeutung.
Und ist nicht der Bettler, der sich auf keinem Fall vom Schein des Kapitalismus hatte korrumpieren lassen wollen, nicht genauso in den Brunnen gefallen wie der Thales, weil er sich zu sehr mit seinen Problemen (Wo krieg ich den Espresso her?) beschäftigt und sich von anderen Lebenskreisen abgeschottet hat, sodass er prompt dem Sog des Reichtums erliegt?
Ja richtig, auch Lucien machte quasi einen Fehltritt, indem er spontan gegen seine Wertvorstellungen verstiess. Doch war es der aufblendende Reichtum oder nicht einfach die Natur der Not, die sein Gewissen der Vernunft unterstellte?
Nur, lieber Anakreon, bei „durchdringender Kälte“ hätte ich lieber einen Schnaps oder Rotwein getrunken. Espresso als Erwärmung, ich weiß nicht.
Wäre es nicht früher Morgen gewesen, hätte Lucien wohl gerne einen Pernod auf der Tagesordnung gesehen. Doch bei dieser Kälte, selbst ein Schnaps wäre da einzig eine illusorische Wärmequelle.
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Hallo markus
Das ist schon hart, aber ich denke schon, dass das keine Geschichte ist, die dich mehrere Tage beschäftigt hat, es war eine Idee die direkt aufs Papier sprang und vielleicht in deinem Kopf besser funktioniert, als hier.
Ich muss gestehen, mein
Vergehen, wie es vorliegt, erschuf ich vor etlichen Wochen. Erst begann ich es als längere Geschichte, der Place Vendôme erstrahlte da im Glanz des Reichtums, es nahm eine exzessive Darstellung an, dabei war ich noch im einleitenden Teil. Eines Nachts, spontan wie der stammelnde Protagonist, markierte ich das Dokument und drückte auf die Delete-Taste. Weg war es. Damals entschied ich, es musste kurz sein, völlig entgegen meiner Langatmigkeit. Also entstand eine wahrlich Kurze. Seither schaute ich ab und zu hinein, änderte den einen oder andern Satz, ergänzte es zunehmend um hundert Worte. Skeptisch war ich schon, zweifelte, ob es für Leser verständlich wird, da ich mir enge Grenzen setzte.
Auch eine Formulierung, die mir fremd ist. Klingt fast wie ein Übersetzungsfehler, dem man aus dem Französischen ins Deutsche mitgenommen hat.
Ich habe verschiedene Formulierungen ausprobiert. Da mir die Platzierung des
bitte bedeutungsvoll ist, erwies sich es als nicht ganz einfach. Das
Komma nach ein habe ich nun durch
oder ersetzt. So sollte es beim Lesen nicht mehr anstössig wirken.
angewurzelt ohne Wurzel, oder wie muss ich das verstehen, so wurzelt sich doch niemand an, man verharrt, aber wurzeln, das ist schon ein starkes Wort.
Es ist eine gängige Redensart. Gut, literarisch zählt sie nicht zu den gewählten Ausdrücken. Da ich passende Synonyme bereits verwendete, habe ich es mit
abrupt nun anders besetzt.
Und dass er zum „Betteln“ „durch einen Reflex übertölpelt“ wird, kann ich der Geschichte nicht abnehmen, und das ist ja schon ein wichtiger Bestandteil der Erzählung.
Ursprünglich hatte ich den Reflex mit einem Fachausdruck belegt, der dessen Charakteristika und sein Auftreten belegt. Dies klang mir dann doch zu gestelzt und wäre für den Leser auch nicht von weiterem Nutzen gewesen. Alltäglich ist es sicher nicht, ob es bei einem derartigen Auslöser zum Tragen käme auch nicht belegt, aber es gehört zur Natur von Reflexen, dass sie unerwartet einsetzen. Hier dient es natürlich der Fiktion seines Handelns, um die Wendung einzuleiten.
Ich mag den Namen, Lucien, aber warum man in finanzieller Notlage auf Sozialhilfe verzichtet, ist mir immer noch ein Rätsel, vor allem, wenn es keinen anderen Ausweg gibt.
Natürlich ist es eine irrationale Verhaltensweise, doch oft aber nicht immer weitgehend erklärbar.
Was in einer solchen Situation tangiert wird, ist die narzisstische Homöostase, das selbstregulierende psychische Gleichgewicht. Der Mensch erhält ab dem Säuglingsalter normalerweise Zuwendung und lernt unbewusst für die Aufrechterhaltung eines optimalen Niveaus des Selbstwertgefühls besorgt zu sein. Lebenszufriedenheit ist etwa ein Ausdruck dafür. Entzug von narzisstischer Zufuhr, narzisstische Kränkung oder Misserfolge gefährden dieses Gleichgewicht und führen zu Störungen, wenn sie anhalten. Die Folge sind Regressionen und/oder Kompensationen in fantasierte Objektbeziehungen.
Menschen, die auf ihren Anspruch an Sozialhilfe verzichten, versuchen das Regulationssystem ihrer Selbstachtung und ihrer Selbstwertgefühle zu wahren. Dies erweist sich als illusorisch, wenn sie keinen realen Ausweg finden, da es letztlich sonst zu körperlicher und psychischer Verelendung führt.
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Hallo nastro
Namen und Ort der Geschichte gefallen mir, auch Dein Antiheld ist okay. Fast schon rührend, dass er sich am Ende nicht ins Fäustchen lacht, sondern schuldbewusst stammelt.
Ja ein Held ist er nicht, nicht einmal verantwortlich für das kleine Malheur, zu dem er sich kausal als Auslöser sieht.
Aber, aber aber:
„…jeden Tag aufs Neue hoffend…“ – „…zunehmend wieder diskret deckend…“
Das Thema hatten wir schon paar Mal, ich mag diese Partizipkonstruktionen nicht. Die nehmen jeder Story das Tempo und die Farbe. Ist Dein Stil und damit akzeptiert – aber ich werde damit nicht warm.
Da werde ich mir dann noch in Ruhe überlegen, ob es mir zusagende andere Formulierungen gibt. Du bist ja nicht der Einzige, der sich daran stört. Dabei …
Vom dafür bei Almosen, bis dessen Hintertüre, folgte ich Deinen Hinweisen.
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Ich danke Euch allen, für die Aufmerksamkeit und Zeit, die ihr dem kleinen Stück entgegenbrachtet. Die wohlwollend kritischen Worte nahm ich mit grossem Interesse auf, war mir die Resonanz zu diesem Stück doch besonders von Bedeutung.
Für das Unbehagen, welches der Text auslöste, bitte ich um Verzeihung. Doch es war mir den Versuch wert, wenn auch meine Befürchtung, es geht bachab, sich doch weitgehend bewahrheitete. Nun mir gab es Bestätigung, für Geschichten künftig bei der von mir bevorzugten flaubertschen Arbeitstechnik zu bleiben, mich auf das zu beschränken, was mir intuitiv zufliegen mag und zur Niederschrift drängt.
Schöne Grüsse
Anakreon