Höhenangst
Heute war Karins 30. Geburtstag. Sie konnte sich an keinen Geburtstag in ihrem Leben erinnern, auf den sie so hingefiebert hätte. Diesmal war nämlich alles ganz anders: Sie hatte sich nichts gewünscht, sie wollte sich einfach einmal von ihrem Mann und ihren Freunden überraschen lassen. Ihr war – wenn sie ehrlich sein wollte – auch nichts eingefallen was sie sich hätte wünschen können. Sie besaß alles: Klamotten, Bücher, CDs. Und wenn ihr etwas gefiel, dann kaufte sie es sich eben sofort ohne lange nach zu denken, ob es vielleicht als Geburtstagswunsch geeignet wäre.
Hoffentlich geht das nicht in die Hose, dachte sie noch am frühen Morgen ihres Ehrentages. Nicht, dass mir jetzt Petra, Eva, Sabine und Brigitte je einen Kerzenleuchter von Leonardo schenken, sonst komme ich noch mit diesen Dingern ins Guiness-Buch der Rekorde, weil ich mehr davon rumstehen habe als jedes Leonardo-Lager!
Jörg, ihr Mann, tat denn auch sehr geheimnisvoll und begrüßte sie gleich mit der Ankündigung, dass sie auf die Bescherung noch bis zur Feier am Abend warten müsste. Na toll, dachte Karin, und das mir, wo ich doch so schon vor Neugierde platze! Na ja, so ist das eben, wenn man sich überraschen lassen will! Den ganzen Tag über übersah Jörg wirklich keine Gelegenheit, ihre Spannung ins schier unerträgliche steigen zu lassen.
Doch Karin schaffte es irgendwie, wenn auch nur mit einer halben Flasche Baldrian-Tropfen, bis zum Abend durchzuhalten. Nun war es endlich soweit: Sie stand im Wohnzimmer, umringt von Jörg und den Gästen. Feierlich überreichte Jörg ihr nun das Objekt der Begierde, einen großen Umschlag. In freudiger Erwartung öffnete Karin ihn. GUTSCHEIN FÜR EIN KOSTENLOSES GRATIS-BUNGEEJUMPING VOM FUNKTURM IM DORTMUNDER WESTFALENPARK!!! Karin stand wie vom Blitz getroffen! Sie und Bungeejumping! Wo ihr doch schon auf der dritten Treppenstufe schwindelig wurde! Das war ganz schön teuer, beeilte sich Jörg zu erwähnen. Wir haben alle zusammen gelegt. So überwindest du endgültig deine Höhenangst, warf Petra überflüssiger Weise noch ein. Der Gutschein ist bis zum 15.08. begrenzt, dann ist die Saison vorbei, machte Jörg die in Karin schon schwach aufkeimende Hoffnung zunichte, alles erst mal auf die lange Bank schieben zu können. Das ist ja schon nächstes Wochenende, schrie Karin entsetzt auf. Alle lachten. Sie bemerkte nicht, wie die hübsche, vollbusige Eva Jörg heimlich zuzwinkerte.
Die nächsten Tage bis zu dem 15. August vergingen für Karin viel zu schnell. Doch nun war der Tag da an dem sie endgültig von ihrer Phobie geheilt werden sollte! Sie hatte lange im Geist nach einer Ausflucht gesucht, doch es fiel ihr kein Argument ein, welches sie noch hätte retten können. Sie ließen das Auto in der Garage, um nach dem Sprung ausführlich ihren Mut feucht-fröhlich feiern zu können. Als der Bus vor dem Westfalenpark hielt und die Türen öffnete, wurde Karin von einer heißen Welle der Angst ergriffen. Jetzt wurde es langsam ernst, in wenigen Augenblicken würde sie mit Jörg den Funkturm, ihren Schicksalsturm, betreten. Sie sah die vielen Ausflügler, die sorgenlos die spätsommerlichen Sonnenstrahlen genossen. Wie sehr beneidete sie sie! Die durften am Boden bleiben, ihr stand das schwerste Ereignis ihres Lebens bevor. Doch sie wollte Jörg auch nicht enttäuschen, er meinte es doch nur gut mit ihr! Vielleicht ist das ja auch gar nicht so schlimm, versuchte sie sich noch krampfhaft zu beruhigen.
Erst kürzlich hatte Petra von ihrem mittlerweile dritten Bungee-Sprung von diesem Turm geschwärmt: Es ist der absolute Kick, das musst du erlebt haben! Ein unvergleichliches Gefühl! Ich glaube, ich bin süchtig danach! Ich werde unseren Freunden eine Ansichtskarte vom Funkturm schicken, darauf lasse ich mir bestätigen, dass ich auch wirklich gesprungen bin, schlug Karin vor. Wir lassen Fotos machen, korrigierte Jörg sie, das ist im Preis inbegriffen. Das ist natürlich noch besser, dachte Karin, das werden neben den Hochzeitsfotos die wichtigsten Fotos meines Lebens. Mittlerweile waren sie am Aufzug angelangt. Noch einmal ließ Karin ihren Blick durch den Eingangsbereich des Funkturmes gleiten: Er war gefüllt mit unbeschwert lachenden Menschen, Pärchen, jungen Familien. Die Tür des Aufzuges öffnete sich und mit einem beherzten Schritt trat Karin ein, gefolgt von ihrem, ihr unablässig Mut zusprechenden Ehemann. Sie fuhren den unendlich scheinenden Aufzugsschacht hinauf. Es knackte in Karins Ohren, ihr Puls beschleunigte sich mit zunehmender Höhe. Als sie endlich oben ausstiegen, wurden sie von einem smarten Jüngling mit modischem Haarschnitt freundlich, aber routiniert begrüßt. Er wies ihnen den Weg zur Umkleide. Kräftige Nylongurte am ganzen Körper ließen Karin vorübergehend aufatmen. Zwei zusätzliche Riemen wurden um ihre Fesseln gelegt, bestückt mit je einem Karabinerhaken. So das war’s erst mal, gab der coole Angestellte zu verstehen. Nun können Sie sich noch ein paar Minuten psychisches auf ihr großes Event vorbereiten. Geben Sie uns dann Bescheid, wenn Sie bereit sind. Er zog sich dezent in einen kleinen Raum zurück. Karin ergriff Jörgs Hand und sie zog ihn zu einem der Aussichtsfenster. Karin erschauderte; dass das nur 142 Meter sind konnte sie nicht glauben. Das sind mindestens 3000 Meter!!! Es zuckte durch ihren ganzen Körper, heiße Wellen durchströmten sie. Sie drehte sich hilfesuchend zu ihrem Mann, er wich ihren Blicken aus und zog sie statt dessen zu sich heran: Du schaffst das! Denk’ daran, danach wirst du frei sein von deiner beklemmenden Angst, du kannst endlich einmal auf das Riesenrad gehen, kannst die Aussicht dort genießen, statt nur ängstlich am Boden zu bleiben und die anderen zu bewundern! Es ist nun wirklich nicht gefährlich. Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sagte: Gib dir’n Ruck. Es ist nicht gut, wenn du unnötig lange wartest. Karin fiel auf, dass er ihr nicht in die Augen sah, dabei hätte sie gerade jetzt seinen warmen, liebevollen Blick, den sie früher immer so an ihm geliebt hatte, gebraucht. Meine Frau ist jetzt soweit, rief Jörg erbarmungslos den smarten jungen Mann auf den Plan. Dieser drückte seine Zigarette aus und erhob sich von dem Hocker in seinem Mini-Büro. Karin sah ihn langsam auf sich zukommen. Er führte sie behutsam zu der Rampe, die unnötig weit ins Nichts ragte. Das Bungee-Seil wurde in die Haken an ihren Fesseln eingeklinkt. Es war ein sehr kräftiges Nylon-Seil, welches Karin erneut ein jedoch sehr kurzfristiges Gefühl der Sicherheit vermittelte. Es wurden noch einmal alle Gurte und Haken und Seile überprüft, dann sah Jörg, wie seine Frau, die er einmal so sehr geliebt hatte, zögernden Schrittes auf die Rampe hinausschlich, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend. Nach einer halben Ewigkeit sprang sie. Alles reine Routine, sagte noch einmal der Angestellte, der sich wieder eine Zigarette anzündete, wie um den scheinbar besorgten Ehemann zu beruhigen. Im Straßenverkehr leben Sie heutzutage gefährlicher. Jörg brachte es nicht übers Herz, den Sprung seiner Frau mit den Blicken zu verfolgen. Er drehte sich um und schloss die Augen. Er wartete. Plötzlich hört er einen entsetzten Aufschrei des sonst so cool, routinierten Angestellten. Dieser rennt zur Rampe, lehnt sich hinaus und schlägt fassungslos die Hände vors Gesicht. Jörg gibt sich einen Ruck. Er muss jetzt richtig reagieren. Er öffnet die Augen, dreht sich um und sieht gerade noch, wie das Seil rasant in die Höhe schnellt, weit über den höchsten Punkt des Turmes hinweg. Doch an seinem Ende hängt niemand. Scheinbar völlig verzweifelt wendet er sich an den anderen: Was ist passiert, was ist los, wo ist meine Frau??! Er greift ihn sich und schüttelt ihn halbherzig. Der Mann ist leichenblass geworden. D...d...d...das Seil ist wohl gerissen, das ist noch nie passiert. I...i...i...ich..., seine Stimme versagt, er bricht in hemmungsloses Weinen aus. Jörg rennt zum Aufzug. Als sich unten die Aufzugtüren öffnen, sieht er, wie schreiende Menschen vor dem Turm in eine Richtung rennen. Was ist los? rufen einige verwirrt. Das Seil ist gerissen, entgegnen einige schockierte Stimmen. Jemand liegt zerschmettert dort drüben. Sie zeigen in die Richtung, wo Jörg bereits eine Menschentraube sieht.
Er nutzt die allgemeine Verwirrung, niemand weiß ja, dass er der Ehemann der Verunglückten ist. Niemand kennt ihn. Er rennt zur nächsten Telefonzelle, die direkt neben dem Turm steht und wählt hastig die Nummer von Eva. Es ist vorüber, spricht er atemlos in den Hörer. Wir haben es geschafft. Karin ist endgültig von ihrer Höhenangst befreit.