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Händels Auferstehung
Im blauen Saal steht ein Tisch mit einer Karaffe und zwei Gläsern. Meine Frau sitzt neben mir auf dem Sofa. Sie ist hübsch, hat feine Gesichtszüge und hohe Wangenknochen. Die weiße Schleife in den glatt gekämmten Haaren gibt ihr etwas Damenhaftes. Der Siegelring an ihrem Finger lässt sie mächtig wirken. Doch am meisten liebe ich die kleinen Lachfältchen um die Augen, für einen außenstehenden Beobachter kaum zu erkennen. Sie schafft es als Einzige, mich zum Lachen zu bringen, besonders bei unseren samstäglichen Spaziergängen.
Sie dreht mein Handgelenk, schaut auf die Uhr.
„Muss los, will Lotte nicht wieder warten lassen.“
Sie greift nach der Karaffe, deren Henkel golden glänzt, schenkt sich den letzten Schluck ein. Als das Glas leer ist, greift sie sich an die Stirn, drei kleine Falten bilden sich.
„Bevor ich‘s vergesse.“ Mit einem liebevollen Lächeln schenkt sie mir ein weiteres Buch. „Hab‘s geliebt.“
„Historische Miniaturen, Sternstunden“, antworte ich nüchtern. Bücher stehen bei mir nur im Regal und verstauben.
„Händel ist am besten", betont sie.
„Händel?“
„Die Geschichte von ihm. Nächstes Mal reden wir drüber, ja?“ Sie hat einen neckenden Tonfall.
Ich nicke ihr zu, die Lüge will mir nicht über die Lippen, wir spielen unser altbekanntes Spiel. „Nächsten Samstag wie immer?“, frage ich stattdessen.
„Nächsten Samstag wie immer.“ Sie gibt mir einen Kuss, steht auf. Sie verabschiedet sich, schaut über die Schulter, lächelnd. Die Tür fällt ins Schloss.
In der Nacht klingelt das Telefon. Müde stehe ich auf, wanke noch verschlafen in den Salon, hebe den Hörer vom Apparat.
„Dr. B.?“, fragt die Frauenstimme, es muss Lotte sein.
„Ja?“, antworte ich.
„Friderike“, sagt sie.
„Was?“
„Zusammenstoß mit einem Auto.“ Ihr Atem geht schnell, ihre Worte kommen nur abgehackt hervor. „Ein Unglück. Ihr Genick …“
Ich sage nichts, die folgende Stille verkrampft mein Herz. Dann, endlich: „Auto?“ Nichts anderes fällt mir ein.
„Sie saß am Steuer, ich daneben.“
Der Hörer fällt mir aus der Hand. Das Kabel lässt ihn hin und her schwingen, immer langsamer werden seine Bewegungen, schließlich hängt er leblos vom Tisch herab. Die blauen Wände rücken näher. Kalter Schweiß lässt mich frösteln. Ich stehe auf. Durch die Glasvitrine lächelt mich die Betäubung meines Schmerzes an. Ich schließe das Schränkchen auf, lasse den kleinen goldenen Schlüssel stecken. Das Geräusch der einfließenden Flüssigkeit verspricht mir, den grauenvollen Augenblick zu überstehen. In Gedanken bei Friderike setze ich an, trinke das Glas in einem Zug. Das Nächste. Ich stütze meinen Kopf auf die Hände, denke ununterbrochen an Friderike. Die Samstage liebte sie am meisten. „Samstage sind zum Spazieren da.“ Der Bach rauschte leise neben uns. An der Ecke beim Steg hielten wir, setzten uns auf die Grasfläche daneben. Sie breitete die Decke aus, ich stellte den Korb mit den Äpfeln ab. Sie liebte rote Äpfel, die mit einem knackenden Geräusch und einem köstlichen Geschmack den Samstagnachmittag einleiteten.
„Jeden Tag einen und du bleibst gesund“, sagte sie. Ihr helles Lachen hatte etwas Heilsames, erinnerte mich an die guten Zeiten, als meine Familie noch lebte.
Die nächsten Wochen sind dunkel. Der schwarze Anzug hängt einsam im Schrank, der Hut ungetragen daneben. Ich lasse einen Termin nach dem anderen ungenutzt verstreichen, denke nicht einmal an die Zahlen, die Zahlen die damals unser gemeinsames Glück finanzierten. Das Schränkchen leert sich immer weiter, während mein Geist sich trübt. Morgens rasiere ich mich nicht mehr, überschreite damit eine Schwelle, die ich nie übertreten wollte. Als der Schrank leer ist, liege ich auf dem Sofa, starre an die Wand. Stundenlang schaue ich hinauf, auf dem Rücken liegend, die Hände unter dem Kopf gefaltet. Alles, was bleibt, sind die Erinnerungen. Doch auch die sind flüchtig. Ich esse nicht mehr, arbeite nicht mehr und sehe keinen Sinn mehr.
Mein Blick streift das Bücherregal und bleibt in der obersten Reihe hängen. Ein Schauer fährt meinen Rücken hinab. Friderike, das Buch. Sie hat es mir am letzten Tag geschenkt. Ich stehe auf und ziehe es aus der obersten Reihe des Regals. Sternstunden der Menschheit. Ich schlage die erste Seite mit dem Inhaltsverzeichnis auf, erinnere mich dunkel an einen Namen, doch bekomme ihn nicht zu fassen. Dann bleibt mein Blick im oberen Drittel hängen, die Auferstehung des Georg Friedrich Händel. Händel, das war der Name. Ich gehe in den Salon, nehme auf dem Sessel Platz und fange an zu lesen. Sie hat gewonnen.
Nach der Geschichte stehe ich auf, gehe ruhig ins Badezimmer. Die Auferstehung des Georg Friedrich Händel. Ich schaue in den Spiegel, die Rasur tut gut. Das Wasser rauscht in die Badewanne, weißer Dampf steigt auf. Ich steige hinein, die Hitze umfängt mich. Mit geschlossenen Augen denke ich an Händels eisernen Willen. Acht Stunden täglich in den heißen Quellen, das hatte ihn geheilt. Meine Gedanken wandern wieder zu Friderike, an ihre Versuche, mich für Bücher zu begeistern. Jede Woche brachte sie mir das Buch mit, was sie am meisten faszinierte. Nicht ein einziges las ich. Unser Spiel dauerte an, wurde zu einer Gewohnheit, bis es mich eines Tages störte, als sie mir kein Buch mitbrachte. Plötzlich ist mir kalt. Immer wieder gieße ich heißes Wasser nach. Doch nach zwei Stunden halte ich es nicht mehr aus.
Der schwarze Anzug und der Hut geben mir einen Teil meines alten Lebensgefühls zurück. Zielstrebig verlasse ich das Anwesen Richtung Hauptstraße, komme an geschäftigen Leuten vorbei, sehe viele schwarze Hüte und Frauen in Kleidern. Vereinzelte Autos fahren über die gepflasterte Straße, doch das Motorengeräusch dringt nicht zu mir durch. Ich betrete den Laden, gefüllt mit tausenden von Schallplatten. Ein alter Herr mit weißen Haaren und einer kleinen Brille begrüßt mich freundlich. Nachdem ich einige Minuten eine Hülle nach der anderen mit der Hand umgeklappt habe, fragt der Verkäufer, wie er mir weiterhelfen könne.
„Messias“, sage ich. „Suche den Messias von Händel.“
Er zieht eine Schallplatte hervor, reicht sie mir. Von einer grünen Verpackung umhüllt, mit Jesus in rotem Gewand auf der Vorderseite, liegt der Messias in meinen Händen.
Zuhause angekommen, steige ich die Treppe hinauf in das oberste Stockwerk. Die Holzstufen knarren leise. Behutsam fahre ich über den Schallplattenspieler, lege den Messias hinein. Mit einem leisen Summen trifft der Saphir auf die erste Rille der Platte, während ich es mir im Sessel bequem mache. Ich schließe die Augen, gebe mich den Klängen hin, warte auf die Auferstehung. Es startet euphorisch und tatsächlich: Es erfüllt mich mit Energie. Ich lasse die Last auf meiner Seele los.
Vor meinen inneren Augen taucht ein Engel auf. Bis auf seine Flügel sieht er menschlich aus. „Nimm meine Hand, ich bin bei dir“, scheint er zu sagen. Die Musik beruhigt sich. In mir breitet sich ein Gefühl der Ruhe aus. Ein Teich, der sich nach eine Steinwurf wieder glättet. Meine Atmung wird tiefer. Der Engel legt mir seine Hand auf die Schulter. Dann setzt der Sänger ein, ich konzentriere mich auf seine Stimme. „Tröste dich, mein Volk, spricht der Gott“, singt er. Trotz meiner Abneigung gegenüber Religion, versuche ich mich weiter darauf einzulassen. Ja, ich stelle mir sogar vor, wie ein Gott über mich wacht, für mich da ist. „Das Krumme grad und das Raue macht gleich“, ertönt da wieder die Stimme des Sängers. Wenn es doch so einfach wäre, denke ich und damit überkommt mich wieder der Schmerz. Ein Chor setzt ein. Ich stehe auf, gehe einige Schritte im Raum auf und ab. Die Stimmen sind mir jetzt unverständlich, ab und an höre ich das Wort „Völker“.
Ich muss zurück an meine Kindheit denken, Kirchenbesuche waren Pflicht. Schon damals war ich skeptisch, denn meine Fragen blieben unbeantwortet. „So ist das eben, das ist nun mal Gottes Wille.“ Das Lied ist nur ein Lied und Gott existiert nicht. Schwarzer Rauch aus meinem Inneren droht mich zu ersticken. Voller Anstrengung versuche ich, mich erneut auf die Musik zu konzentrieren. Wieder setze ich mich in den Sessel, schließe die Augen, versuche mit aller Gewalt in die Musik einzutauchen. Doch es ist mir nicht mehr möglich, der erste Zauber ist verflogen, kaum, dass er überhaupt anfing. Ich hatte mir den Messias anders vorgestellt.
Als die Vorderseite abgespielt ist, drehe ich die Platte um und zwinge mich, erneut zu zuhören. Es wird körperlich anstrengend. Die Chöre beginnen mich zu quälen. Ist das wirklich die Auferstehung? Hört sich so die Erlösung an?
Nach gut zwei Stunden ist es endlich vorbei, endet mit einem letzten Chor.
Als ich das große Fenster öffne, blendet mich die Sonne. Vor mir erstreckt sich der Rasen, umgeben von dem schwarzen Zaun. Ich setze mich auf den Rand des offenen Fensters, meine Hände geben mir Halt, ausgestreckt hinter meinem Rücken. Ich bewundere die Stärke von Menschen wie Händel, die trotz endgültigen Schicksalsschlägen einen Weg finden. Das Gesicht von Friderike taucht auf, ihre hohen Wangenknochen und die lachenden Augen, umrandet von ihren lockigen, braunen Haaren. Ich atme aus, immer weiter bis meine Brust wehtut. Ich sehne mich danach, mit ihr über die Auferstehung Georg Friedrich Händels zu reden.