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Hände
Das wächserne Gesicht des Onkels stach wie ein Fremdkörper aus dem Eschensarg hervor. Wie ein Mädchen, das beim Herumtollen am Waldrand ein totes Reh entdeckt, blieb Sara beim Anblick des Leichnams im Türrahmen stehen, und ihr Herz begann zu pochen. Ihre Mutter lief ohne Scheu auf den Aufgebahrten zu, und Sara folgte ihr einen Moment später. Mit vorsichtigen Schritten trat sie an den Sarg und blieb zwei Meter hinter der Mutter stehen.
„Schön hat er ihn hergerichtet“, sagte ihre Mutter, die den verstorbenen Bruder betrachtete.
„Ja. Der Anzug steht ihm gut“, sagte Sara und ließ den Blick über den Leichnam schweifen.
Der Tote hatte den Trauergästen die rechte Seite zugewandt, und so konnte man zunächst nicht das große Muttermal auf der linken Wange sehen, vor dem sich Sara als Kind stets geekelt hatte. Sie trat näher an das Fußende des Sarges und beugte sich unmerklich vor, um einen letzten Blick auf den Leberfleck zu erhaschen. Der Fleck sah unverändert aus, doch ekelte sie sich nicht mehr so, wie wie sie es als Kind getan hatte. Die Miene des Onkels war friedlich. Nach 62 Jahren zeichnete erstmals Entspannung sein Gesicht, und so wirkte der Tote gleichmütig ob seiner bevorstehenden Beisetzung. Rasch wandte sie den Blick vom Gesicht ab.
Zu Lebzeiten nie ein religiöser Mann, hatte der Onkel die schweren Hände wie zum Gebet über dem Bauch gefaltet. Kein Feiertag, so heilig er auch war, konnte ihn je dazu bewegen, sich die großen und stets schwieligen Hände auch nur sauber zu schrubben. Sara erinnerte sich an die dunklen Ränder unter den Fingernägeln, an die ölfleckigen Finger und den verkrusteten Dreck, der den Händen stets anhaftete. Sie sah die nun sauberen Finger mit den ordentlich geschnittenen und gefeilten Nägeln. Dies waren nicht die Hände ihres Onkels.
Saras Blick verweilte noch kurze Zeit auf den Händen, bis sie die Kleidung näher betrachtete.
Der schwarze Anzug warf keine Falte und der oberste Knopf des schneeweißen Hemds stand offen. Eine Krawatte hatte der Bestatter dem Toten nicht angelegt.
Ihr Onkel war kein Mann gewesen, der Wert auf gute Kleidung legte, und somit waren Sara und ihre Mutter bei den Beerdigungsvorbereitungen vor die Aufgabe gestellt, den Toten angemessen für das Ereignis zu kleiden. Das einzige Sakko, das ihm zu Lebzeiten noch gepasst hatte, war verbeult, hatte ein großes Loch im Innenfutter, und an der linken Schulter war der Stoff aufgerieben. So brachten Sara und ihre Mutter das Sakko, ein altes Arbeitshemd und eine Hose zur Schneiderei Selig, wo man Maß nahm und den Hinterbliebenen zwei Tage später einen schlichten Anzug, sowie ein Hemd zur Abholung bereitstellte. Der Onkel wurde mit Klamotten begraben, die er nie gesehen hatte und die er auch nie freiwillig getragen hätte.
Saras Augen wanderten erneut zum Gesicht des Toten und zum grauen Schnurrbart, der vom Bestatter gestutzt und mit Öl in Form gebracht worden war. Bei jedem Begrüßungs- und Abschiedskuss hatte sie der Schnauzer gekitzelt, sodass sie kichernd die Schultern hochzog und den Kopf wegdrehte. Übelkeit stieg in ihr auf. Sie ließ ihre Mutter alleine am offenen Sarg stehen und trat hinaus auf den Friedhof. Sie kramte die Schachtel Marlboro Light aus ihrer Handtasche und zündete sich eine Zigarette an.
Nasser Sand, der ihr immer noch zwischen den kleinen Zehen klebte, wenn sie sich wieder auf das Handtuch fallen ließ. Kalte Böen, die gelegentlich, wie zur Warnung, messerscharf durch die warme Luft schnitten. Ihr Onkel, neben ihr auf dem Handtuch, ein stumpfer Bleistift und ein Kreuzworträtselblock in den massigen Händen. Eine enge Badehose, die nie mit dem Wasser in Berührung kam. Die schwarze Sonnenbrille auf der breiten Nase, um die Spuren seiner Blicke zu verwischen.
Es war ein milder Tag im Juli, und die dichte Wolkendecke schützte die zur Beisetzung Erschienenen vor der brennenden Mittagssonne. Sara überkam eine kochende Hitze. Eine Hitze, die sich vom Bauch aus ihren Weg durch den Körper bahnte, ihr den Schweiß auf die Stirn trieb und schlagartig von einem stechenden Kälteschauer verdrängt wurde. Ihr Puls pochte in ihrem Kopf, schlug aus, wie ein in die Enge getriebenes Tier. Ihre zittrige Hand griff nach der Wasserflasche, die sie stets in der Handtasche hatte. Sie nahm zwei hastige Schlücke und ermahnte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Ihr Herzschlag passte sich langsam dem Takt ihres Atems an, und nach wenigen Minuten blieb bei ihr nur das Gefühl der Erschöpfung zurück.
Während der Pfarrer den Onkel unter den Flügeln des Herrn Zuflucht finden ließ, blickte Sara zu den anderen Trauergästen. Neben den einzigen beiden Angehörigen waren noch die alte Frau Hegendörfer – bis zuletzt Nachbarin ihres Onkels – zwei Arbeitskollegen, sowie ein Kindsheitsfreund zur Beerdigung erschienen. Die alte Dame lauschte fromm den Worten des Pfarrers und Saras Mutter bedachte das Grab ihres Bruders mit unergründlichem Blick. Die drei Männer, keiner jünger als fünfzig, standen pflichtbewusst neben den Frauen und erwiesen dem Verstorbenen den letzten Freundschaftsdienst.
Die Worte des Pfarrers waren verklungen, und die Trauergemeinschaft lief langsam zur Grabstelle. Sara wartete, bis alle Anwesenden hinter ihrer Mutter in Reihe standen und stellte sich sodann hinter Frau Hegendörfer. Links und rechts des Grabes waren eine Schale mit Blumenblättern und eine Schale Erde aufgestellt worden. Die Anwesenden ließen nacheinander den Inhalt beider Schalen auf den Sarg regnen. Keiner blieb länger als ein paar Sekunden vor dem Grab. Frau Hegendörfer griff nach den Blumenblättern, ließ sie auf den Sarg fallen und gab danach eine kleine Schaufel Erde dazu. Sie verweilte noch einen Moment, drehte sich dann mit gesenktem Blick ab und lief an Sara vorbei.
Sara trat langsam vor die Grabstelle und schaute hinunter auf den Sarg. Ihr Onkel war ein großer Mann gewesen, ein Mann von gewaltiger Statur, doch die helle Holzkiste lag klein und unscheinbar in der von grünen Tüchern verhangenen Grube, spärlich von Blumenblättern und heller, trockener Erde bedeckt.
Sie sah ihren Onkel dort unten liegen. Sah wie der Onkel mit offenen Augen zur Öffnung der Grube blickte, mit nach oben gestreckten Armen und weit gespreizten, schmutzigen Fingern.
Sara griff mit beiden Händen nach der Erde.